Konservatismus und Ambivalenz – Eine neue deutsche Möglichkeit

Eine Vorwarnung: Dieser Beitrag ist positiv und optimistisch. Damit der Schock nicht zu groß wird, beginne ich aber mit einer empörenden und traurigen Geschichte, wie gewohnt, nämlich der Geschichte über die Kofferträger von Schwäbisch Gmünd, die vor einigen Wochen durch die Medien ging. Sie geht so: Am Bahnhof von Schwäbisch Gmünd, einem erzkatholischen Städtchen in Baden-Württemberg, wird gebaut. Nun führt nur ein Metallsteg zu den Bahnsteigen, 54 Stufen rauf, 54 Stufen runter, ein großes Problem für Alte, Behinderte, für Leute mit zu schwerem Gepäck. Richard Arnold, CDU, Oberbürgermeister der Stadt, schwul, offen, engagiert, hatte eine Idee. Die Asylbewerber, die dank deutschem Asylrecht in einem Heim zusammengepfercht leben, wo sie kaum etwas zu tun haben, als jahrelang auf ihren Bescheid zu warten, könnten helfen. Das hat in Gmünd schon öfters funktioniert, Arnold kümmert sich schon länger um die Asylbewerber, versucht, sie am Gmünder Leben teilhaben zu lassen, zum Beispiel als Theaterdarsteller. Er bot ihnen deshalb an, am Bahnhof auszuhelfen; eine ganze Reihe der Asylbewerber meldete sich freiwillig. Sie wollten sich einbringen, mithelfen, in Kontakt kommen, sicher auch die Langeweile bekämpfen. Das einzige Problem war die Bezahlung, denn – again – dank deutschem Asylrecht darf den Asylbewerbern nur 1,05 Euro pro Stunde gezahlt werden. Dass das viel zu wenig ist, war allen Beteiligten klar; das Gesetz ändern kann aber nur die Bundespolitik. So blieb Arnold nur, den Reisenden zu empfehlen, beim Trinkgeld nicht knauserig zu sein.
 

Das Projekt lief an – und funktionierte. Einhellig wurde es von der Gmünder Öffentlichkeit und auch den örtlichen Asylhilfeinitiativen begrüßt. Die Süddeutsche Zeitung hat mit Christopher Igbinomwanhia gesprochen, einem der Asylbewerber:

„Er zeigt auf sein Zimmer im Gmünder Asylbewerberheim, das aus nicht viel mehr besteht als aus einer Couch und drei Betten, auf jedem liegt eine Bibel. Er sagt: ‚Ich bin 43 Jahre alt, ich lebe hier seit mehr als zwei Jahren mit zwei anderen Männern. Ich habe keine Arbeitserlaubnis, ich kann nur schlafen und essen. Und jetzt hatte ich endlich das Gefühl, gebraucht zu werden.’ Ein älterer Herr, dem er den Koffer trug, habe auf ein Foto mit ihm bestanden. Eine Frau habe ihm Wasser gekauft und gesagt: ‚Ich werde an Sie denken.’ Eine junge Mutter habe ihm ihr Baby in die Hand gedrückt, ihm, ‚dem schwarzen Mann, wegen dem viele sonst die Straßenseite wechseln’. In zwei Jahren in Deutschland, sagt der Nigerianer Igbinomwanhia, sei ihm ‚nichts Schöneres’ passiert.“

So weit, so gut, aber ich hatte ja eine empörende und traurige Geschichte versprochen. Warum spricht Igbinomwanhia im Präteritum? Weil niemand mit der linksradikalen Inquisition gerechnet hatte. Sobald die Aktion das Internet erreichte, setzte eine interessante Kampagne ein: Scharf links erkannte „Rassismus, Kolonialismus und Sklavenhalterei“, und auch für die Junge Welt war die Sache klar: „Man mag es nicht glauben, in Sachen Rassismus und Lohndumping hat Schwäbisch-Gmünd einen derzeitigen Tiefpunkt im Land erreicht.“ Die wildesten Assoziationen mussten als Argumente herhalten: Weil die Flüchtlinge Strohhüte gegen die Sonne ausgehändigt bekamen, fühlten sich die Linken an koloniale Szenen erinnert; weil da Schwarze Weißen die Koffer trugen, sprachen andere von „Herrenmenschentum“. Ist die Frau, die mich an der Treppe zur S-Bahn um Hilfe beim Tragen ihres Kinderwagens bittet, ein Herrenmensch? Bin ich ihr Sklave? Dürfen Schwarze keine Strohhüte tragen? Es folgte ein Shitstorm gegen Schwäbisch Gmünd und die Deutsche Bahn, die sich in einer absolut feigen und verlogenen Aktion sofort zurückzog und die Asylbewerber umgehend wieder nach Hause schickte. Damit war das Projekt gescheitert, und Christopher Igbinomwanhia darf nun wieder in seinem Heim herumsitzen.
 

Die Story ist naturgemäß gefundenes Fressen für alle, die sich über linkes „Gutmenschentum“ erregen wollen. Wie immer picken sich unsere Freunde, die Mainstream-Medien, einhellig die offensichtlichste und schon deshalb langweiligste Interpretation heraus. So berechtigt die Beschwerde gegen realitätsfremde „Gutmenschen“ in diesem Fall sein mag – sie ist nicht das eigentlich Bemerkenswerte an der Geschichte. Internet-Kackstürme wie derjenige, der die Bahn zu Fall brachte, sind vor allem deshalb spannend (und wären sicher auch wissenschaftliche Untersuchungen wert), weil sie kollektive Assoziationsketten und damit Vorurteile offenlegen. In diesem Fall sahen die linken Leser eine Kombination aus schwäbischer Kleinstadt, CDU, Lohndumping und schwarzen Asylanten, eine Kombination, die sie fast zwangsläufig mit Rassismus, Kolonialismus, Unterdrückung dechiffrieren mussten. Denn Schwaben und die CDU: Das bedeutete doch bisher immer Erzkonservatismus, Ewiggestrigkeit und reaktionäres Spießertum, von Filbinger über Oettinger bis Mappus. Die eigentlich spannende Geschichte hier aber ist, dass diese Vorurteile heute offenbar eben nur noch das sind: Vorurteile. Das konservative Milieu löst sich auf.

Ein Ländle im Aufbruch

Denn es scheint sich einiges geändert zu haben in Baden-Württemberg. Schwäbisch-Gmünd, ein katholisch geprägtes Städtchen im „Ostalblandkreis“, müsste eigentlich der Inbegriff der allem fremden und ungewöhnlichen gegenüber ängstlichen Provinz sein, und doch haben wir da einen von den Bürgern geschätzten, schwulen Bürgermeister, der sich für Flüchtlinge einsetzt. Mehr noch: Die ersten, denen am Bahnhof ankommende Reisende und Besucher von Schwäbisch Gmünd begegnen sollen, diejenigen, die Schwäbisch Gmünd also an diesem zentralen Ort repräsentieren, sind eben diese Flüchtlinge. Schwäbisch Gmünd erfüllt ganz offenbar nicht die Vorstellungen, die wir uns von ihm machen.
 
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Schwäbisch Gmünd – Hort des Fortschritts
Das gilt, wenn man den Fokus etwas erweitert, vielleicht nicht für das ganze, aber doch für einen bemerkenswert großen Teil Baden-Württembergs. Die Medien haben die Wahl Winfried Kretschmanns zum ersten grünen Ministerpräsidenten des Landes (und des Ländles) mit Vorliebe mit dem insgeheimen Konservatismus der Grünen erklärt: In Wahrheit seien die mit ihrem immer auf Bewahrung ausgerichteten Naturfetischismus doch die eigentlich Rückwärtsgewandten. Diese Erklärung kann vielleicht gerade mit Blick auf die Baumbeschützer von Stuttgart 21 einige Plausibilität beanspruchen. Aber ist es so undenkbar, dass die Baden-Württemberger einfach die Nase voll hatten von der trotzigen und polternden Homophobie und Ausländerfeindlichkeit, die korrupte Politiker wie Stefan Mappus verkörpern? 2005 bezeichnete Mappus, damals Fraktionschef im Landtag, die auf dem Christopher Street Day offen zur Schau getragene Homosexualität als „abstoßend“, eine Linie, der er auch später als Ministerpräsident treu blieb. Auch dieser Art von abstoßender Menschenfeindlichkeit erteilten die Gmünder, die Richard Arnold wählten, die Stuttgarter, die Fritz Kuhn wählten, und die Baden-Württemberger, die Winfried Kretschmann wählten, eine Absage.

Das zweite Ende des Konservatismus

Als ich vor etwa zehn Jahren begann, mich für Politik zu interessieren, lieferte mir die CDU/CSU sehr regelmäßig Gründe, mich furchtbar aufzuregen. Jürgen Rüttgers führte in Nordrhein-Westfalen Wahlkampf mit Parolen wie „Kinder statt Inder“; Roland Koch hetzte in Hessen gegen die angeblich immer ausländischen Jugendstraftäter, die man endlich wegsperren müsse; für Günther Beckstein war klar, dass Computerspiele verboten gehören. Und für mich war klar, wo der Feind stand: Da, wo Stimmung gegen Ausländer gemacht wurde, gegen Schwule und Lesben, wo die heilige Hausfrau verteidigt und damit eine wirklich emanzipative Politik verhindert wurde – in der Union mit ihrem starken konservativen Flügel. Gerade für jemanden wie mich, der Gesellschaftspolitik schon immer wichtiger fand als die ewig diskutierte Wirtschaft, war die CDU/CSU inakzeptabel.

Heute aber ist keiner der damals so polterigen Politiker, von denen viele aus dem Andenpakt stammten, noch im Amt. Immer wieder wird behauptet, das sei Angela Merkels Machtinstinkt zu verdanken, ihrer wundersamen Gabe, ihre innerparteilichen Konkurrenten auszuschalten, ohne sich die Hände schmutzig zu machen. Bei näherem Hinsehen aber haben sich die meisten dieser Machtmonomanen selbst ausgeschaltet: Politiker wie Mappus, Rüttgers, Guttenberg oder Wulff verstrickten sich ganz eigenhändig in Affären, bis sie zurücktreten mussten oder abgewählt wurden; andere hatten schlicht keinen politischen Erfolg mehr. Trotzdem muss man Angela Merkel bescheinigen, dass sie die Partei verändert hat. Die Union hat den Atomausstieg beschlossen, die Abschaffung der Wehrpflicht; sie schafft gerade tausende Kita-Plätze; eine CDU-Ministerin setzt sich für die Frauenquote ein. Noch vor 10 Jahren wäre all das undenkbar gewesen.

Panajotis Kondylis hat in seiner Konservativismus-Studie das Ende des Konservatismus in die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts verlegt, weil in dieser Zeit nach und nach diejenigen Ideologeme, die den Konservatismus über Jahrhunderte ausgemacht, ihn definiert hatten – die Trennung von Staat und Gesellschaft, die fundamentale Ungleichheit der Menschen –, an ein Ende gekommen seien. Der Konservatismus habe ein konstitutives Projekt gehabt, das aus den sozialen und politischen Interessen des Adels entsprungen sei: die Erhaltung oder Wiederherstellung der mittelalterlichen societas civilis und damit der Herrschaft des Adels. Der Kampf gegen die Moderne, den der Konservatismus damit geführt habe, sei gescheitert, und deshalb könne man heute (bzw. damals, das Buch wurde 1986 veröffentlicht) auch nicht mehr von „Konservatismus“ sprechen. Unabhängig von sprachlichen Haarspaltereien – der Begriff „Konservatismus“ wurde nun einmal im allgemeinen Sprachgebrauch weiter verwendet – hatte Kondylis durchaus recht. Man könnte sogar behaupten, dass der Konservatismus gegen Ende des 20. Jahrhunderts zu so etwas wie dem eigentlichen Repräsentanten der Moderne wurde, jedenfalls, wenn man die Moderne so versteht, wie Zygmunt Bauman das in Moderne und Ambivalenz tut:

„Unter den vielen unmöglichen Aufgaben, die die Moderne sich selbst gestellt hat und die die Moderne zu dem gemacht haben, was sie ist, ragt die Aufgabe der Ordnung (genauer und höchst wichtig, der Ordnung als Aufgabe) heraus – als die am wenigsten mögliche unter den unmöglichen und die am wenigsten entbehrliche unter den unentbehrlichen; ja, als der Archetyp für alle anderen Aufgaben, eine, die alle anderen Aufgaben zu bloßen Metaphern ihrer selbst macht.“

Das Projekt der Moderne ist es deshalb nach Bauman, Ordnung herzustellen, das heißt, Chaos, Unordnung, Ambivalenzen auszulöschen – ein Projekt, dessen Verwirklichung unmöglich ist, weil es eine Welt ohne Ambivalenzen nicht gibt. Und doch benötigt die Moderne gerade diesen „Dämon der Mehrdeutigkeit“, sie kann nicht ohne ihn leben, weil er es ist, der sie durch den ständig erneuerten Wunsch nach seiner Eliminierung antreibt.

„Intoleranz ist deshalb die natürliche Neigung der modernen Praxis. Konstruktion von Ordnung setzt der Eingliederung und der Zulassung Grenzen. Sie verlangt nach der Verneinung der Rechte – und der Gründe – all dessen, was nicht assimiliert werden kann – nach der Delegitimierung des Anderen. Solange der Drang, einen Schlußstrich unter die Ambivalenz zu ziehen, das kollektive und individuelle Handeln leitet, wird Intoleranz folgen.“

Wenn es die „Sehnsucht nach Ähnlichkeit und die Erfahrung der Verschiedenheit“ (Thomas Mergel) waren, die Europa im 20. Jahrhundert kennzeichneten, dann war der Konservatismus Ende des 20. Jahrhunderts diejenige politische Ideologie, die diese Sehnsucht nach Ähnlichkeit am längsten aufrecht erhielt. Denn die (Post-)Modernen haben, wie auch Bauman zugibt, in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts durchaus nach und nach gelernt, mit Ambivalenzen umzugehen. Sie haben gelernt (oder sind im Begriff zu lernen), dass es mehr als eine sexuelle Orientierung gibt (mit Alfred Kinsey sehen sie vielleicht sogar langsam ein, dass es auch mehr als zwei oder drei gibt, weil Sexualität eben unordentlich ist); sie haben gelernt, dass Nationen, so man sie denn überhaupt braucht, nicht politisch oder ethnisch homogen sein müssen; sie haben gelernt, dass das Verhalten und die Rollen von Menschen sich nicht trennscharf nach ihrem Geschlecht definieren und einordnen lassen. Dieser Entwicklung hinkte eigentlich nur noch der Konservatismus hinterher – bis vor Kurzem.

Eine Wahl als Symptom

In einem Monat ist in Deutschland Bundestagswahl, man merkt es an den weitgehend sinnentleerten Wahlplakaten, die überall herumhängen: „So bleibt Deutschland stark. CDU.“ – „Damit Deutschland stark bleibt. FDP.“ Der Postillon tut, was er am besten kann, er spottet:

„Deutschlands große Parteien müssen derzeit um ihr gutes Image bangen. Der Grund: In einer großangelegten Nacht-und-Nebel-Aktion haben unbekannte Witzbolde deutschlandweit aussagekräftige Wahlplakate abgehängt und durch offensichtlich nicht ernst gemeinte Eigenkreationen ohne erkennbaren Sinn ersetzt.“

Als Folge verweigert nicht nur Georg Diez, der Kritiker, der Analytiker, der Kolumnist, wie Diez im Diez-Stil vermutlich formulieren würde, sein Kreuz. Er sehe keine echten Alternativen, die Politiker, allen voran Angela Merkel, seien allesamt langweilige Technokraten. Es steht zu befürchten, dass viele es ihm gleichtun und am 22. September zuhause bleiben werden. Schon deshalb soll hier eine andere These vertreten werden als die immer gleiche Leier von den unfähigen und fantasielosen Politikern. Der Wahlkampf, behaupte ich, ist nicht deshalb so langweilig, weil Deutschland in den letzten Jahren ein langweiliges, stagnierendes Land und seine Politiker reine Statisten gewesen wären – sondern weil es sich in den letzten Jahren tiefgreifend verändert hat. Der Wahlkampf ist ein Symptom für die Ratlosigkeit einer Politik, die von der gesellschaftlichen Entwicklung, die sie selbst mitgestaltete, überholt wurde.
 
Während Schröder die SPD umbaute und versuchte, die deutsche Sozialpolitik einer sich globalisierenden Welt anzupassen, leitete Merkel auf der anderen Seite – sehr viel weniger lautstark – eine gesellschaftspolitische Wende in der Union ein, oder besser: sie trug sie mit. Noch vor wenigen Jahren war der Wahlkampf die Zeit, in der Unionspolitiker gerne die rechten Parolen herausholten. Das war deshalb reiner Populismus, weil man damit in der Tat Wählerstimmen auch aus der Mitte gewinnen konnte. Ausländer- oder homofeindliches Hardlinertum aber ist Merkels Sache nicht, solche Aussagen sucht man bei ihr vergeblich. Im Gegenteil: Sie hat dazu beigetragen, dass diese Tradition aus der Union weitgehend verschwunden ist. Als der saarländische Ministerpräsident Peter Müller 2003 eine „Diskussion“ über die Zwangskastration von Sexualstraftätern anregte, ein von deutschen Stammtischen bestimmt gern aufgegriffener Vorschlag, versuchte Merkel eine Intervention von Parteifreunden zu erreichen. Als Thilo Sarrazin 2009 eine andere „Diskussion“ auslöste, die über die in Deutschland lebenden türkischen Migranten, fand Merkel das „diffamierend“ und „nicht hilfreich“ für die Integration von Ausländern.
 
Die angenehme Abwesenheit solcher Parolen in diesem Wahlkampf hat aber sicher noch andere Gründe als Merkels persönliche Vorlieben. Wenn niemand am rechten Rand fischt, dann gibt es dort vielleicht einfach nicht mehr so viele Fische. Eine seit 1999 regelmäßig durchgeführte Stern-Umfrage etwa zeigte eine kontinuierliche Abnahme ausländerfeindlicher Einstellungen in der deutschen Bevölkerung: 

„71 Prozent der Bürger bezeichnen das Verhältnis zwischen Ausländern und Deutschen als gut – vor acht Jahren taten dies nur 52 Prozent. 30 Prozent sagen derzeit, hierzulande würden zu viele Ausländer leben. Bei einer ähnlichen Umfrage vor zwölf Jahren waren es 40 Prozent. Und nur noch 8 Prozent würde es stören, wenn ein Ausländer als Nachbar in ihr Wohngebiet ziehen würde – im Januar 1999 waren es noch 11 Prozent gewesen. 90 Prozent haben jetzt nichts gegen Ausländer als Nachbarn einzuwenden – 1999 waren es lediglich 83 Prozent gewesen.“

In dieselbe Richtung gehen die Ergebnisse des Integrationsbarometers des Sachverständigenrates deutscher Stiftungen für Integration und Migration. (Eine Studie der Friedrich-Ebert-Stiftung, das sei zugegeben, spricht eher für eine Stagnation.)
 
Etwas eindeutiger ist die Situation bei der Akzeptanz von Homosexualität. Als die Union dieses Jahr über die steuerliche Gleichstellung homosexueller Ehen diskutierte, war das Ergebnis – dass die Union diese Gleichstellung von sich aus nicht vorantreiben wollte – an sich nicht überraschend. Überraschend war vielmehr das Ergebnis einer Forsa-Umfrage, die der Stern in Auftrag gegeben hatte: 74 Prozent der Deutschen sind für die Gleichstellung, darunter auch 64 Prozent der CDU-Wähler. Und so ist es nicht verwunderlich, dass die Diskussionen innerhalb der CDU-Spitze zwar nicht ohne das dämliche „Argument“ auskamen, die Ehe sei eben für Mann und Frau da, aber durchaus ohne markige, homophobe Sprüche.
 
Während in Ländern wie Russland oder Ungarn Homophobie und Ausländerfeindlichkeit zunehmen, haben in Deutschland sogar die Konservativen den Rechtspopulismus aufgegeben – und damit ihr eigentliches Konstitutivmerkmal. Ein weiterer, erstaunlicher Befund: In Deutschland gibt es bis heute, anders als in fast allen anderen europäischen Ländern, keine rechtspopulistische Partei. Auch die neugegründete „Alternative für Deutschland“ bemüht sich sichtlich, nicht in die rechte Ecke gedrängt zu werden. Für die Politiker allerdings, und das kann man im aktuellen „Wahlkampf“ sehr gut beobachten, ist das ein Problem: Wo sich ein Wahlvolk so bemerkenswert einig ist, dass es eine heterogene, vielfältige Gesellschaft möchte, wird es sehr viel schwieriger, sich abzugrenzen. Das Rot-grüne Projekt, das unter anderem auf dieser gesellschaftspolitischen Vision aufbaute, hat nun, da die meisten Parteien diese Vision aufgegriffen haben, ein wichtiges Alleinstellungsmerkmal weniger. Dasselbe gilt allerdings für den Konservatismus, der mit der Sehnsucht nach Homogenität das einbüßte, was ihn noch von wirtschaftsliberalen Strömungen unterschied. Er ist an sein Ende gekommen, indem er Ambivalenz und Unordnung schließlich doch noch akzeptiert hat.
 
Das alles soll natürlich nicht heißen, dass Rassismus und Ressentiment aus der deutschen Gesellschaft völlig verschwunden wären. Es ist aber eine Entwicklung, die Hoffnung auf mehr macht: Eine neue Bundesregierung, wer auch immer sie stellt, könnte endlich eine aktive Einwanderungspolitik einleiten, die angesichts von Fachkräftemangel und demografischem Wandel bitter nötig ist; sie könnte endlich ein zumutbares Asylrecht einführen, das Asylanten und Asylsuchenden in Deutschland elementare Bürgerrechte zugesteht. Die Bürger von Schwäbisch Gmünd jedenfalls, und das ist die gute Nachricht, hätte sie damit auf ihrer Seite.

 

Ein Update dieses Artikels nach der Bundestagswahl 2013 findet sich unter Update zu Konservatismus und Ambivalenz.


Bild: Schwäbisch Gmünd, vom Zeiselberg aus fotografiert von Kreuzschnabel, via Wikimedia Commons, CC-by-SA-3.0

About Author: WWWWWSören Brandes

Geboren 1989 in Paderborn, hat Geschichte und Literatur in Berlin und Lund studiert. Master in Moderner Europäischer Geschichte. Promoviert derzeit am Graduiertenkolleg „Moral Economies of Modern Societies“ am Berliner Max-Planck-Institut für Bildungsforschung über die Geschichte des Marktpopulismus. Lebt in Berlin-Neukölln und interessiert sich für eigentlich alles, insbesondere für Globalisierungsphänomene, den Einfluss der Massenmedien darauf, wie wir denken und leben, und europäische Politik. Mail: soeren@unserezeit.eu, Twitter: @Soeren_Brandes, Facebook: Sören Brandes View all posts by

12 Gedanken zu „Konservatismus und Ambivalenz – Eine neue deutsche Möglichkeit“

  1. Das klingt ja sehr euphorisch. Leider fehlen die Gegenbeispiele, die dieses positivistische Bild etwas revidieren. In Persona des Innenministers Friedrich oder Volker Kauder zum Beispiel. Nicht zu vergessen die nationalistisch, homophobe Front aus München. Wenn Horst Seehofer nicht grade über mehr Nationalismus für Deutschland nachdenkt, sehnt er sich nach dem bajuwarischen Nationalstaat. Inklusive Autobahnmaut. Dann auch für Restdeutschland. Dobrindt und Söder, bei denen „Randgruppen“-Themen ohnehin nicht besprochen werden sollten, übernehmen dann im Kabinett-Seehofer Ministerämter. Und war es nicht Frau Merkel selbst die, frei nach Altkanzler Kohl (wir müssen die Zahl der Türken halbieren), noch vor ein paar Jahren das Projekt „Multi-kulti“ für gescheitert erklärte. Das passt dann auch wieder zum bayerischen Monarchen. Der sprach ja auch bei jeder Gelegenheit von der „christlich-abendländischem Tradition“. Kein Platz für Muslime. Keine Zugehörigkeit zur Nation. „Nation“, dieses Konstrukt an dem die CDU/CSU nach wie vor festhält. Auch Angela Merkel. Kompetenzen an Brüssel abgeben? Nicht mit der CDU/CSU. Und wehe jemand greift die Kirchen an. Die Gleichstellung der Religionsgemeinschaften wird regelmäßig von der CDU/CSU verhindert. Auch bei der Gleichstellung von Homosexuellen ist man noch nicht besonders weit. Im Vergleich zu Russland und Qatar sicherlich. Aber sollte man sich nicht eher mit Großbritannien, Frankreich oder den USA vergleichen? Nicht nur geht eine Partei wie die CDUCSU mal einen Schritt vorwärts (und das auch nur durch Druck aus Karlsruhe), nein sie muss diesen aufgezwungenen „Wandel“ auch gleich aufwerten in dem sie sich mit Ländern vergleicht, die sonst eher selten als Vergleich heran gezogen werden. Angesichts der Tatsache, dass hier wenn überhaupt nur mikroskopische Schritte nach vorne getan werden und angesichts einer Studid zum Thema Menschenfeindlichkeit von der Uni Bielefeld, ist mein Blick auf die Entwicklung weit weniger optimistisch. Viel zu oft ist man noch genau dieser „Gutmensch“ der mit der Keule des „political correctness“ umher schwingt. Zwei fast Synonym verwendete Diffamierungen.

  2. Hallo!

    Erst einmal: ja, sicher, die große Schwäche eines optimistischen Ansatzes ist meistens, dass es auch viele Gegenbeispiele gibt, und man darf die sicher auch nicht ausblenden. Von daher vielen Dank für deine Beispiele – gerade Bayern ist sicher ein wichtiges (wobei: kommt es nur mir so vor, oder sind sogar die Bayern im Vergleich zu früher (also jetzt Post-Strauß-Ära, davor ist’s eh indiskutabel) kleinlauter geworden?). Ich würde allerdings behaupten, dass dasselbe für den Pessimismus gilt: Er blendet systematisch Entwicklungen aus, die ihm nicht in den Kram passen. Da 99 Prozent aller Presseerzeugnisse lieber die pessimistische Linie verfolgen, schien es mir angebracht, mal das Gegenteil zu versuchen. Das nur allgemein.

    Konkreter: Ursprünglich ging es mir nicht so sehr um die Entwicklung bestimmter Parteien bzw. um die Handlungen der „hohen Politik“, sondern auch und vor allem um eine gesellschaftliche Klimaveränderung hin zu weniger Homophobie und Ausländerfeindlichkeit – in Deutschland. Dafür ist es nicht gar so relevant, was Angela Merkel tut oder unterlässt, ob die CDU jetzt die Homo-Ehe gleichstellt oder nicht (ich finde es übrigens einfach erstaunlich, dass sie überhaupt darüber diskutiert – auch das wäre vor zehn Jahren undenkbar gewesen). Sondern die Frage ist, was die Leute davon halten, und da scheint mir doch eine sehr bemerkenswerte Bewegung passiert zu sein, wenn man das z. B. mit der Debatte von vor 10 Jahren unter Rot-Grün vergleicht.

    Mit diesem Fokus nehme ich deinen Vorschlag deshalb auch gerne auf, den Vergleich lieber mit Frankreich, GB oder den USA zu versuchen. In Frankreich wurde zwar die Gleichstellung nun rechtlich durchgesetzt, was François Hollande und den Sozialisten hoch anzurechnen ist, aber man sehe sich mal an, mit welchen Protesten das verbunden war. Spätestens seit Hunderttausende gegen die Gleichberechtigung auf die Straße gegangen sind, weiß man, was für ein erzkonservatives Potential es in Frankreich immer noch gibt. In Deutschland kann ich mir eine solche Protestwelle ehrlich gesagt nicht vorstellen – aber das ist natürlich auch nur Spekulation. Darum noch ein weiteres Argument: 17,3 Prozent der Franzosen haben 2012 Front National bzw. Marine Le Pen gewählt. Das jedenfalls scheint mir in Deutschland aktuell nicht möglich. USA: Ich weiß nicht, wenn ich mir die Tea Party so ansehe, die mittlerweile die Macht hat, das ganze politische System zu blockieren, dann frage ich mich, worauf du mit deinem Vergleich abzielen willst. Und deren Ideologie baut eben auch unter anderem auf Homophobie und Ausländerfeindlichkeit auf – die gehen ja teilweise als Bürgerpatrouillen an der Grenze zu Mexiko auch aktiv gegen die „Überfremdung“ vor. Auch hier scheint mir Deutschland weniger extrem zu sein. GB: Also in Sachen Europafeindlichkeit sind die uns weit voraus; und was Ausländerfeindlichkeit angeht: Es gab vor ein paar Monaten eine interessante Kampagne, weil Bulgaren und Rumänen 2014 EU-weit uneingeschränktes Arbeitsrecht bekommen sollen. In Deutschland gab es die Debatte auch (Friedrich hat sich da hervorgetan), aber lange nicht so groß und krass wie in Großbritannien. Dort gab es z. B. den ernstgemeinten Vorschlag, in Bulgarien und Rumänien Plakate aufzuhängen, die das verregnete England zeigen sollten, immer mit der Aussage: So toll ist es hier gar nicht, bleibt lieber weg. Über dieses Ausmaß an wichtigtuerischer Ausländerfeindlichkeit kann man sich gar nicht genug aufregen. Kurz und gut: Die meisten Probleme gibt es in Deutschland auch, sie scheinen sich nur momentan auf dem Rückmarsch zu befinden, während ich diese Entwicklung in vielen anderen Ländern eben nicht sehe. Man könnte sogar Angst haben, dass es dort eher rückwärts geht. (Und das wär’s dann auch schon mit dem Optimismus.) Eine mögliche Erklärung wäre vielleicht die alte Korrelation zwischen Wirtschaftskrisen und Überfremdungsängsten. Die würde allerdings leider mein Narrativ zerstören, dass sich quasi im Innern der Deutschen etwas geändert habe…

  3. Dass der Mensch nicht alleine leben kann und zur Orientierung fester Bezugsgruppen wie etwa Familie, Nation oder Kirche bedarf.
    Dass die Ehe ein Lebensbund zwischen Mann und Frau ist.
    Dass ein effektives Rechtssystem mit ausreichend abschreckenden Sanktionsmöglichkeiten Voraussetzung für Rechtssicherheit und Rechtssicherheit die Voraussetzung für Sicherheit und Wohlstand ist.
    Dass sich Politik, um erfolgreich zu sein, an den realen Gegebenheiten und nicht an phantastischen Visionen oder ideoloischen Utopien (etwa „Multikulti“, „Energiewende“ oder „europäische Integration“) zu orientieren hat.
    Dass Geld nunmal die Welt regiert und dass jede „Kapitalismuskritik“ naiv und weltfremd ist.
    Nur um einige Beispiele zu geben. 😉

  4. Ihre Gesellschaftsanalyse gerät arg kurz. Sicherlich erfüllen Familie, Nation bzw. Nationalstaat und Religion wichtige Funktionen, aber darüber hinaus gibt es Wissenschaft, Sport, Kunst, Massenmedien und weitere Teilbereiche(Sie erwähnen ja auch Recht und Wirtschaft), ohne die moderne Gesellschaft ebenfalls nicht denkbar wäre. Eben dass es diese vollkommen unterschiedlichen Funktionszusammenhänge gibt, macht unsere Gesellschaft so dynamisch.

    Die Ehe ist so lange ein „Lebensbund zwischen Mann und Frau“ wie das vom Recht so definiert wird. Selbst Sie müssen bemerkt haben, dass diese Rechtsetzung aufzuweichen beginnt. Hier zeigt sich, dass es Ihnen nicht um das geht, „was immer gilt“, sondern um das, was ihrer Meinung nach immer zu gelten habe. Und genau deswegen ist Konservativismus eben doch ein Hängen an dem, was gestern war. Dass Sie „Multikulti“ nicht als reale Gegebenheit (sic) einordnen, sondern als „phantastische Vision“ oder „ideologische Utopie“, entlarvt sie vollends als konservativen Idealisten.

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