Projektarbeit statt Politikshow – wer den Konflikt um die Ukraine tatsächlich entschärfen könnte

Benedikt Paulowitsch (25) ist Politik- und Verwaltungswissenschaftler und wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für eGovernment in Potsdam. Er ist Mitglied der SPD sowie Sprecher des stipendiatischen Arbeitskreises Osteuropa der Friedrich-Ebert-Stiftung. In den vergangenen Jahren beschäftigte er sich wissenschaftlich mit politischen und administrativen Problemen, aber auch privat mit der Kultur, Geschichte und Lebensweise in Russland und der Ukraine, besuchte dabei mehrmals Kiew und die Krim und forschte 2013 für mehrere Monate im russischen Nizhny Novgorod.

Die Krim ist für die Ukraine verloren. Da können sich die ukrainische Regierung und der Westen noch so sehr auf das Völkerrecht und die ukrainische Verfassung berufen. Russland wird die Halbinsel nicht mehr verlassen.

Inzwischen darf es nur noch darum gehen, dass alle Beteiligten ihr Gesicht wahren können. Vladimir Putin kann und wird sich schon aus innenpolitischen Gründen nicht mehr von der Krim zurückziehen. Die EU muss dagegen zeigen, dass sie sich nachhaltig zur europäischen Perspektive für die Ukraine bekennt und diese auf ihrem Weg zu Rechtsstaatlichkeit und Demokratie begleitet und damit ihr Versagen nach der Orangenen Revolution nicht wiederholt. Und schließlich muss die neue ukrainische Regierung zeigen, dass sie tatsächlich eine Regierung für die gesamte ukrainische Bevölkerung sein kann, die der Ukraine Unabhängigkeit garantiert und nicht von Partikularinteressen und dem Streben nach Macht und Geld gesteuert ist. Hierzu werden alle Seiten ein wenig auf die Pauke hauen, sei es mit Sanktionen oder mit Rhetorik im Stile des Kalten Krieges. Dies darf sich jedoch in den nächsten Wochen nicht weiter hochschaukeln. Ein Krieg mag unrealistisch erscheinen, doch in den USA sind erste hochrangige Stimmen für eine militärische Unterstützung der Ukraine zu vernehmen. Die Eigendynamik einer solchen Entwicklung ist schwer einzuschätzen und höchst gefährlich.

Der Osten ist nicht die Krim

Was folgt in den nächsten Wochen? Die große Gefahr besteht darin, dass Bevölkerungsteile im Osten der Ukraine ebenfalls einen Anschluss an Russland fordern könnten. Anders als auf der Krim wäre dies in Donezk, Kharkiv oder Luhansk um einiges gefährlicher. Denn hier empfindet sich der Großteil der Bevölkerung trotz der Russischsprachigkeit dennoch als Ukrainer. Zwar sind die Menschen hier aufgrund der geographischen Nähe und der gemeinsamen Geschichte stärker an einer kulturellen und wirtschaftlichen Kooperation mit Russland interessiert. Daraus einen Wunsch nach Anschluss oder Übernahme abzuleiten ist jedoch verwegen. Schließlich fühlt sich Bayern wirtschaftlich und kulturell auch enger mit Österreich verbunden als mit den Niederlanden. Ein militärisches Eingreifen Russlands in diesen Landesteilen würde zu Blutvergießen und Bürgerkrieg führen. Die Folgen wären unabsehbar, vor allem dann, wenn sich die NATO im Angesicht von Gewalt und Krieg in der Mitte Europas zu einem eigenen Eingreifen gezwungen sieht.

Anstatt den Konflikt zwischen dem Westen und Russland durch politische Kampfrhetorik und Konfrontation anzuheizen, sollte intensiv über gemeinsame Projekte beraten werden. Ein solches Projekt kann die Zukunftsfähigkeit der Ukraine sein. Was diese braucht, sind vor allem neue staatliche Strukturen. Neben einer Schwächung des mächtigen Präsidenten und einer Stärkung von Parlament und Regierung, die bereits durch die wieder eingeführte Verfassungsänderung angegangen wurde, muss es vor allem um den Aufbau föderaler Strukturen gehen. Es ist müßig den Politikwissenschaftler Arend Lijphart zu zitieren, da es keinen Akademiker braucht um zu erkennen, dass es gerade bei heterogenen Gesellschaften wie der ukrainischen sowie aufgrund der großen geographischen Distanzen unvernünftig ist, eine zentralistische und alleinentscheidende Regierung zu haben, die von gut 50 Prozent der Bevölkerung als illegitim betrachtet wird. Marcel Röthig von der Friedrich-Ebert-Stiftung sowie der ehemalige US-Außenminister Henry Kissinger haben sich zuletzt ausführlich zu den Chancen des Föderalismus in der Ukraine geäußert. Ergänzen kann man folgende Punkte:

  • Das Risiko einer Abspaltung einzelner Landesteile wird reduziert. Eigene Gestaltungsmöglichkeiten der Regionen machen die Abgabe von Macht (z.B. an Russland) uninteressant. Eine zentralistische Regierung treibt dagegen manche Bevölkerungsteile schon aus Angst in die Arme Russlands.
  • Eine föderale Struktur stärkt die Rolle politischer Parteien, indem die Abhängigkeit von der jeweiligen Führungsperson reduziert wird. Die Folge sind tatsächliche politische Programme auf Basis politischer Grundideen, Partizipationsmöglichkeiten für die breite Bevölkerung und Konstanz im politischen Machtgefüge.
  • Die zahlreichen Probleme, vor denen Gesellschaft, Staat und Wirtschaft in der Ukraine stehen, können im Sinne des Subsidiaritätsprinzips vor Ort unter Berücksichtigung regionaler Besonderheiten angegangen werden.
  • Das politische System erhält einen höheren Grad an Legitimation. So wird Akzeptanz gegenüber dem Staat generiert, auch wenn in Kiew eine unbeliebte Regierung an der Macht ist.

Zurück zur Arbeitsebene – der Föderalstaat als gemeinsames Projekt

Um den Konflikt zu entschärfen sowie der Ukraine und den europäisch-russischen Beziehungen mittelfristig wieder eine positive Zukunft zu bescheren, müssen die Akteure vor allem auf die Arbeitsebene zurückkehren. Sicher soll und wird sich auch weiterhin die politische Prominenz öffentlich äußern, um nicht den Eindruck von Gleichgültigkeit zu erwecken. Gleichzeitig darf es nicht erneut zu einer verfahrenen Situation kommen, in der die Beteiligten einen Gesichtsverlust fürchten müssen und sich daher beharrlich zeigen. Eine Verfassungsreform und eine daran gekoppelte Umstrukturierung des ukrainischen Staatswesens kann ein gemeinsames Projekt der Konfliktparteien werden. Insbesondere Deutschland und Russland verfügen über viel Erfahrung bei der Errichtung und Steuerung föderaler Strukturen.

Es wäre entschärfend, wenn am Verhandlungstisch nicht Vladimir Putin und Angela Merkel, sondern zum Beispiel der Staatssekretär des Innenministeriums des Landes Nordrhein-Westfalen, der Minister für internationale Angelegenheiten des Landes Baden-Württemberg, der Europaminister des Freistaates Bayern oder Beamte auf Referats- und Abteilungsleiterebene aus den Ländern mit ähnlichrangigen Vertretern aus den Regionen Rostov, Nizhny Novgorod oder St. Petersburg gemeinsam mit Vertretern der Ukraine über eine föderale Verfassungsänderung und die praktische Umsetzung diskutierten. Durch verschiedene Arbeitsgruppen zu Themen wie Gesundheit, Umwelt oder Bildung können feste Arbeitsstrukturen und gegenseitiges Vertrauen aufgebaut werden. Auf diesen Ebenen bestehen bereits funktionierende Kanäle, Netzwerke, teilweise Vertrauen sowie wirtschaftliche, soziale und kulturelle Kooperationen und Abhängigkeiten. Institutionen wie Stiftungen, Wirtschaftsverbände oder Handelskammern können solche Arbeitskreise beratend ergänzen. Durch die Verlagerung auf niedrigere Hierarchieebenen und damit „unbekanntere Gesichter“ würde die mediale Aufmerksamkeit vermindert und ließe den Akteuren den notwendigen Raum für die Arbeit an der Sache.

Es darf nicht weiterhin ein Gegeneinander der Beteiligten geben. Nur gemeinsames Handeln der Konfliktparteien kann Stabilität, Frieden und Wohlstand für den europäischen Kontinent ermöglichen. Dass in der Ukraine aus Furcht um die Eigenständigkeit Vorbehalte gegen solche Arbeitsgruppen bestehen ist verständlich. Jedoch muss der Ukraine klar gemacht werden, dass eine Transformation zu Rechtsstaatlichkeit und Demokratie ohne Hilfe von außen nicht erfolgreich sein kann. Dafür gab es in den letzten Jahrzehnten hinreichend viele Beispiele – unter anderem die Ukraine selbst nach 2004. Auch der Einbezug Russlands wird insbesondere bei der aktuellen ukrainischen Regierung und vor allem der Maidanbewegung auf Widerstände stoßen. Die letzten Wochen haben jedoch gezeigt, dass eine Lösung ohne Russland nicht möglich ist.

Die USA werden in diesem Artikel übrigens aus gutem Grund nicht erwähnt. Die USA und Russland sind wirtschaftlich kaum voneinander abhängig. Dies verleitet eher zu Kampfrhetorik und birgt letzten Endes die Gefahr einer militärischen Auseinandersetzung. Es gibt keinen größeren Garanten für Frieden als wirtschaftliche Verflechtung. Das bekannteste Beispiel: die Europäische Union.

About Author: WWWWWBenedikt Paulowitsch

Benedikt Paulowitsch ist Regierungsrat im Innenministerium Baden-Württemberg. Zuvor arbeitete er im Verbindungsbüro des Deutschen Bundestags bei der EU in Brüssel. Von 2014 bis 2016 leitete er das Büro des baden-württembergischen Bundesrats- und Europaministers. Seine Karriere begann der Spezialist für Verwaltungsmodernisierung als wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Electronic Government in Potsdam. Schon während dem Studium sammelte er Erfahrungen bei den Vereinten Nationen in New York. Der ehemalige Stipendiat der Friedrich-Ebert-Stiftung studierte Politik- und Verwaltungswissenschaften an den Universitäten Konstanz und Prag sowie an der Zeppelin Universität in Friedrichshafen. View all posts by

4 Gedanken zu „Projektarbeit statt Politikshow – wer den Konflikt um die Ukraine tatsächlich entschärfen könnte“

  1. Die Forderung, die Ukraine aktiv und wesentlich engagierter als bisher auf dem Weg hin zu mehr Rechtstaatlichkeit und Demokratie unter die Arme zu greifen, kann man nur unterstützen. Allerdings bin ich sehr kritisch, was eine Förderalisierung angeht: Weder würde diese die (vermeintliche) Angst einiger Ukrainer vor der Zentralregierung abschaffen, noch das (ebenfalls vermeintliche) Risikso einer Abspaltung reduzieren. Beide Punkte geregelt zu haben, ist Vorrausetzung, nicht Folge einer Förderalisierung.

    Gänzlich abwägig finde ich die Idee, Russland als konstruktiven Akteur in innenpolitische Reformen der Ukraine einzubinden. Dass die russische Regierung diese Rolle nicht spielen möchte, beweist sie in Transnistrien, Syrien und jetzt wohl mehr als überdeutlich in der Ukraine. Außerdem frage ich mich, was die Ukrainer nach der Ereignissen der letzten Wochen wohl dazu sagen würden. Unabhängig davon, hinkt die Gleichsetzung (in der förderalistischen Erfahrung) zwischen VertreterInnen russischer Regionen und VertreterInnen der deutschen Bundesländern: Förderalismus heißt Teilung von Macht und Mitentscheidung auf Bundesebene, nicht nur Verwaltungsgliederung und Entscheidungsdurchsetzung. Machtteilung findet in Russland nicht statt, insofern könnten russische Vertreter zu förderalistischen Reformen auch nicht viel Erfahrung beisteuern – so sie denn überhaupt wollten.

    Marcel K.

  2. Was den russischen Anteil an einer solchen Beraterkommission angeht, stimme ich Marcel K. zu. Die Ukraine kann sich in der Frage der Föderalisierung eher praktische Beratung aus Italien (Beispiel Südtirol) holen, wo eine Föderation erfolgreich aus einem Zentralstaat entstand als aus Russland. So entsteht auch nicht der Eindruck, dass Deutsche und Russen sich das Land nach alter Art aufteilen, sollte in einem solchen Gremium nur deutsche und russische Expertise sitzen. Ganz grundsätzlich fehlt mir im Artikel eine genaue Ausgestaltung eines solchen Beratungskonzeptes: wer legt ein solches Gremium fest? Welche Befugnisse hat es? Wer hat an diesem Gremium welchen Anteil?

    Marcel R.

  3. Lieber Marcel, vielen Dank für Deine Anmerkungen. Zu deiner ersten Anmerkung verweise ich auf meine Antwort an Marcel K.
    Ich sehe ein solches Projekt primär als Instrument, alle Konfliktparteien an den Verhandlungstisch zu bekommen, um gemeinsam zu arbeiten und Vertrauen aufzubauen. Der Föderalismus eignet sich hierbei aufgrund von mir genannter Argumente, es ist aber auch denkbar, ein solches Konzept auf andere Bereiche zu übertragen. Entscheidend sind folgende Punkte:
    – Der Konflikt muss entpolitisert werden, um eine unabsehbare Entwicklung (hin zu Krieg) zu verhindern
    – Alle Konfliktparteien müssen beteiligt werden
    – Alle Seiten müssen die Möglichkeit auf Gesichtswahrung haben

    Ergänzend können funktionierende und etablierte Kanäle (die der Öffentlichkeit nicht unbedingt bekannt sind) dafür genutzt werden.

    Ich mache mir gerne Gedanken über die konkrete Ausgestaltung des Gremiums, bin mir aber unsicher, ob das der Kern des Problems und damit zielführend ist. Schließlich geht es primär darum, dem Konflikt (zumindest partiell) den Wind aus den Segeln zu nehmen.

    Beste Grüße, Benedikt

  4. Lieber Marcel, vielen Danke für Deine Anmerkung. Hier die Reaktion:
Ohne föderale Strukturen (z.B. durch Regionalparlamente und entsprechende Regierungen) wird die ukrainische Gesellschaft weiter auseinanderdriften. Wir beobachten seit Jahren, dass Wahlerfolge (sei es zu Recht oder nicht) von einem Großteil der Bevölkerung nicht akzeptiert werden. Damit verliert der Staat als Ganzes seine Legitimität.

Ich halte es sehr wohl für realistisch, die russische Regierung in die Planungen mit einzubeziehen. Denn auch Russland benötigt aktuell eine Exit-Strategie für den Konflikt. Zwar genießt Putin offensichtlich seine hervorgehobene Machtstellung und er möchte definitiv Russland wieder als Großmacht etablieren. Dennoch weiß auf er, dass der Konflikt in den nächsten Wochen nicht weiter eskalieren darf – sobald die russische Wirtschaft leidet, können sich Bevölkerungsteile von ihm abwenden. Dass er tatsächlich ein militärische Auseinandersetzung mit der NATO möchte, kann ich mir ebenfalls nicht vorstellen. 
Auf der anderen Seite kommt er aus seinem selbst geschaffenen rhetorischen Gefängnis nicht mehr heraus. Er kann und wird keinen Rückzieher machen. Der Westen dagegen wird aufgrund seiner Worte und ersten Taten ebenfalls nicht vor einer weiteren Eskalation zurückschrecken. Wenn also das Gegeneinander nicht aufzuhalten ist, dann muss es einen Mechanismus für ein Miteinander geben. Durch meinen Vorschlag könnte diese Spirale durch eine Entpolitisierung durchbrochen werden. Dies ist in beiderseitigem Interesse. Bei einem solchen Ansatz könnten alle Beteiligten ihr Gesicht wahren, da keiner zugunsten des anderen verlieren kann.
Selbstverständlich sind die Bundesländer nicht mit russischen Regionen vergleichbar. Allein schon da Putin Gouverneure nach Belieben auswechseln kann und dies auch praktiziert. Entscheidend ist hier aber nicht die faktische Realität, sondern die Eigenwahrnehmung der Russen. Kein Gouverneur wird zugeben, nur eine Marionette zu sein und Putin wird nicht zugeben, dass seine Regionen machtlos sind, sondern im Gegenteil die Vorteile des föderalen Russlands betonen.
    Fakt ist, dass zahlreiche deutsche Bundesländer Verbindungen und Partnerschaften mit russischen Regionen pflegen – diese Kanäle können genutzt werden, um den Konflikt zu entschärfen. Und letzten Endes fordert Russland bereits seit geraumer Zeit föderale Strukturen in der Ukraine.

    Ich sage bewusst, dass ein solcher Lösungsansatz den Konflikt nicht lösen kann, sondern nur entschärfen. Es geht um innovative Ideen wie das politische Hochschaukeln gestoppt werden könnte.
Der Knackpunkt ist (da gebe ich Dir Recht), dass bezweifelt werden kann, ob die Ukraine bei einer solchen Lösung mitmacht. Sie lehnt aktuell Forderungen nach föderalen Strukturen ab und sieht sich bereits in einer militärischen Auseinanderseztung mit Russland. Jedoch muss auch der ukrainischen Führung klar sein, dass es ohne Russland keine Lösung geben wird (ob man will oder nicht!). Es braucht einen Anlass und ein konkretes Projekt, um zumindest an den Verhandlungstisch zurückzukehren – und hierfür wäre ein solches Gemeinschaftsprojekt geeignet (und sei es nur als Unterthema einer Kontaktgruppe).



    Beste Grüße, Benedikt

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