Ein Land in der Klemme: Frankreich zwischen Nation und Europa

Sehr geehrter Herr X,
ich habe Ihr Ablehnungsschreiben erhalten und es sorgfältig gelesen. Leider kann ich Ihrem Wunsch nicht folgen. Ich erhalte in diesen Tagen unzählige Ablehnungen und Sie werden verstehen, dass ich nicht alle akzeptieren kann.
Ich werde daher wie angekündigt nächsten Montag um 8:00 Uhr bei Ihnen erscheinen, um meine Stelle anzutreten.
Vielen Dank für Ihr Interesse und viel Erfolg bei weiteren Ablehnungsschreiben.
Freundliche Grüße,
X
Diesen Post habe ich vor wenigen Tagen bei Facebook entdeckt, er war jedoch auf Französisch. Ich verbringe im Moment ein Auslandssemester in Rouen in der Haute-Normandie und möchte diesen Umstand zum Anlass nehmen, etwas über die Wahrnehmung Europas in Frankreich zu schreiben – so weit mir das auf Grundlage meiner persönlichen Erfahrungen, Zeitungslektüren und einigen wissenschaftlichen Texten möglich ist.

Der oben übersetzte Post war als „Zielsichere Technik, um einen Job zu finden“ beworben, mit dem Kommentar „Wer nichts wagt, der nichts gewinnt“ versehen und stammte von einem jungen Mann, den ich bei meinen nächtlichen Erkundungstouren in Rouen kennengelernt habe. Angesichts einer Jugendarbeitslosigkeit von ca. 22 Prozent muss dieser Post als ein Ausdruck des französischen Hangs zur Ironie gesehen werden, der in schlechten Zeiten als Zynismus zutage tritt. Und die Zeiten in Frankreich sind nicht gerade überragend, auch wenn es Anzeichen dafür gibt, dass der um sich greifende Pessimismus die positiven Aspekte der politischen und wirtschaftlichen Lage in Frankreich etwas zu schnell abtut.

Frankreich vor der Europawahl

Der amtierende Präsident François Hollande fährt gerade Unbeliebtheitsrekorde ein, die auch durch seine jüngste Regierungsumbildung nicht zurückzugehen scheinen. Schon Hollandes Wahl wurde von vielen Beobachtern eher als Wahl gegen den von Sarkozy eingeschlagenen und teilweise offen am „Deutschen Modell“ orientierten Modernisierungskurs gedeutet – und fiel relativ knapp aus. Die Frage nach der Zukunft des Politikmodells der V. Republik ist jedoch nach wie vor nicht gelöst: Es bleiben die Probleme der hohen (Jugend-)Arbeitslosigkeit, kaum zu verzeichnendem Wirtschaftswachstum und eines nach wie vor steigenden Haushaltsdefizits.

Klassischerweise werden die negativen Folgen der seit den 80er Jahren in Frankreich nicht mehr so recht in Fahrt kommenden Wirtschaft über einen starken Sozialstaat aufgefangen. Diese Strategie hat die Französische Staatsquote (den Anteil der staatlichen Ausgaben am BIP) mittlerweile auf ca. 56 Prozent geschraubt (Deutschland: 45 Prozent), womit das Land im europäischen Vergleich den zweiten Platz hinter Dänemark einnimmt. Doch die steigende Staatsverschuldung zeigt diesem Modell im Moment seine Grenzen auf: Die Abgabenlasten sind kaum noch zu steigern, in Zeiten, in denen es gleichzeitig an Wachstum fehlt. Und auch der populistisch motivierte Versuch, einen Spitzensteuersatz von 75 Prozent für Besserverdienende einzuführen, hätte den Staatshaushalt nicht aus den roten Zahlen gezogen. Zusätzlich hat sich Frankreich im Rahmen des europäischen Stabilitäts- und Wachstumspakts dazu verpflichtet, sein chronisches Haushaltsdefizit abzubauen.

Doch trotz dieser Gemengelage gilt das Antasten der Sozialleistungen in Frankreich noch immer als Sakrileg. Eine Regierung, die sich an die Verschlankung des Sozialstaats und des aufgeblähten Beamtenapparats heranwagt, kann mit starkem Druck von den Gewerkschaften und der Straße rechnen – und natürlich mit sinkenden Beliebtheitswerten. In Hinblick auf letztere befindet sich Hollande aber ohnehin schon in der Defensive, eine nötige drastische Reform des Sozialstaats und des Verwaltungsapparats ist daher kaum denkbar. Daher bittet Frankreich die EU nun schon zum wiederholten Mal um Aufschub der Frist, bis es einen den Stabilitätskriterien entsprechenden Haushalt vorlegen muss.

Denn das politische System Frankreichs, so der französische Ökonom Alain Fabre, funktioniert nicht nach dem Prinzip eines parlamentarischen self-governements, sondern trägt nach wie vor Züge eines Ancien Regimes. So hat der Präsident in Frankreich eine außerordentliche Machtfülle, die ihn in der tradierten Praxis der Amtsausübung (und entgegen anderer Interpretationsmöglichkeiten der Verfassung) in vieler Hinsicht über das Parlament und die Regierung stellt. Verstärkt wird diese Konzentration der politischen Macht durch die engen Beziehungen der Präsidentschaftskandidaten zu den Parteien – de facto stellen entweder die Sozialisten oder das konservative UMP den Präsidenten – und den Zentralismus Frankreichs – ein Großteil der Verwaltung wird immer noch von oben und damit von Paris aus gesteuert. Die Führungskräfte von Politik und Verwaltung (die sehr eng verbandelt sind) rekrutieren sich dabei im Wesentlichen durch die Grandes Écoles: Meist in Paris angesiedelte Eliteschulen.

Das Ergebnis dieser Konstellation ist eine classe politique, die eine ganz andere Ferne vom einfachen Volk pflegt, als man es z. B. in Deutschland gewohnt ist und die man laut Fabre als eine Art modernen Staatsadel betrachten kann. Als ich meinen Kommilitonen vom Aufruhr um Peer Steinbrücks Weinvorlieben erzählt habe, waren diese daher auch unisono eher erstaunt als empört.

Der Sozialstaat hat in Frankreich also die Funktion eines gesellschaftlichen Kitts: Er füllt die Lücke, die zwischen einer hauptsächlich in Paris angesiedelten politischen Elite und dem einfachen Wahlvolk besteht, indem er eine Win-Win-Situation schafft: Die Wähler akzeptieren die Ferne der politischen Klasse mit ihren Allüren und Skandalen und bekommen als Gegenleistung mindestens eine Bestandsgarantie für das engmaschige soziale Sicherungsnetz und die Arbeitsstellen im öffentlichen Dienst. Wenn sich Frankreich durch die wirtschaftliche und (fiskal-)politische Lage nun zu Reformen gezwungen sieht, dann steht dieser unausgesprochene Gesellschaftsvertrag auf dem Spiel.

Frankreich in einem deutschen Europa?

Bedingt durch die Mehrheitswahl findet man in Frankreich klassisch eine starke Polarisierung in linke und rechte Parteien. Diese Differenz zwischen konservativen  und sozialistischen Ansichten strukturiert auch die öffentliche Meinung. So kann man von einem linken Block sprechen, deren Hauptvertreter die Parti Socialiste ist, und einem konservativen Block, vertreten durch die Union pour un Mouvement Populaire. Beide Parteien sind traditionell pro-europäisch. Doch der durch die Haushalts- und Wirtschaftslage kleiner werdende politische Gestaltungsspielraum führt zu einer praktischen Annäherung der politischen Programme, wobei die schwächer vorhandenen Differenzen weiterhin scharf formuliert werden und eine Einstimmigkeit der großen Parteien normalerweise verhindern.

Dazu kommen Parteien am rechten (Front National) und linken (Front Gauche) politischen Rand, die Europa als Ursache der französischen Probleme identifiziert haben und in den Defizitgrenzen des Stabilitäts- und Wachstumspakts eine Beschneidung der nationalen Souveränität durch eine von deutscher Austeritätspolitik dominierte Europäische Union sehen, wie sie vom Duo „Merkozy“ betrieben wurde. Von hier ertönt daher nicht mehr die Frage nach linken oder rechten politischen Ideen zur Krisenbewältigung, vielmehr stellen sie das Problem im Lichte der Unterscheidung von Nation und Europa dar. Und mit dieser Polarisierung treffen sie anscheinend einen Nerv der Zeit: Marine Le Pen, die Vorsitzende des rechtsextremen bis nationalsozialistischen Front National und Tochter des Gründers Jean-Marie Le Pen, erreichte beim ersten Wahlgang der letzten Präsidentschaftswahlen knapp 18 Prozent der Stimmen und aktuelle Umfragen prophezeien, dass ihre Partei als stärkste französische Kraft in das Europäische Parlament einziehen könnte.

In der öffentlichen Meinung ist diese Frage daher sehr präsent. So habe ich in den letzten Wochen drei Beiträge in Le Monde und Le Figaro gelesen, die sich mit der Dominanz Deutschlands in der EU beschäftigen und Angela Merkel als wahre Chefin der Europäischen Union identifiziert haben – ein Interview lief sogar unter dem steilen Titel „Europa, ein deutsches Imperium?“. Die seriösen Politiker versuchen daher, sich nach innen als europaskeptisch zu inszenieren und nach außen eine grundsätzlich pro-europäische Linie zu fahren, gleichzeitig aber zu verhindern, dass die Differenz zum politischen Gegner verschwimmt. Und so hat Hollande in Le Monde einen Essay veröffentlicht, in dem er die friedensstiftende Kraft Europas beschwört und gleichzeitig eine Abkehr von einer europäischen Politik der „blinden Austerität“ warnt und damit einen Spagat zwischen Euroskepsis, linker Politik und einem klaren „Ja“ zu Europa versucht – eine Vision, die er ein „Europa des Willens“ nennt.

Frankreich befindet sich vor der Europawahl also in der Klemme: Der Präsident und die Regierung kämpfen gegen sinkende Beliebtheitswerte und den Druck von den politischen Rändern und hätten eigentlich genug damit zu tun, sich selbst und das Projekt Europa zu verteidigen. Gleichzeitig fordert die innenpolitische Lage eine Diskussion über das aktuelle politische und wirtschaftliche Modell, die jedoch relativ unproduktiv zwischen einer Auseinandersetzung verschiedener politischer Lager und einer einfachen Verteidigung der nationalen Souveränität gegen die europäische Bürokratie schwankt. Viele Beobachter scheinen zumindest nahezulegen, dass diese Vielschichtigkeit die politische Führung im Moment überfordert.

Auf der anderen Seite gibt das Bild eines von Deutschland und Merkelscher Austeritätspolitik dominierten Europas zu denken: Vor ungefähr einem Jahr wurde das 50-jährige Bestehen des Elysée-Vertrages gefeiert, einem Grundstein für die deutsch-französische Freundschaft, der die wichtige deutsch-französische Achse in Europa begründete. Doch um das gegenseitige Verständnis scheint es nicht gut bestellt. Während in Frankreich sehr grundsätzliche Fragen im Raum stehen, deren Brenzligkeit auch von den Folgen der Europäischen Integration und der Finanz- und Schuldenkrise verursacht wurde, scheint in der deutschen Diskussion die Sicht zu dominieren, dass die europäische Krise eigentlich gemeistert sei und es nunmehr nur noch auf eine vernünftige Fiskalpolitik der Mitgliedsländer ankäme. Während Frankreichs Situation also die Europäische Union als Teil des Problems identifiziert, werden die Probleme in der deutschen Diskussion eher nationalisiert und den Mitgliedsländern zugeschrieben.

Hält man sich vor Augen, dass die Verbindung zwischen Frankreich und Deutschland besonders gepflegt wurde und dass man in den „echten“ Krisenländern weitaus schrillere Deutschlandbilder findet, dann wird klar, dass es kaum im Sinne des europäischen Projekts sein kann, den deutschen Kurs weiterzuführen. Denn die Ungleichheiten in der nationalen Wahrnehmung Europas und nationaler Probleme stellen auf lange Sicht einen Sprengstoff für die Europäische Union dar. Ein Europa, das von einem Großteil der Mitgliedsländer als Instrument in den Händen eines egoistischen und mächtigen Deutschlands gesehen wird, ist für die Wählerinnen wenig verlockend.

So kann man die französische Sicht auch als Grundlage eines generellen europäischen Problems sehen: Wie kann Europa alle Länder in gleichem Maße mitnehmen? Es ist dieses Problem, das Anthony Giddens als „Europas Reifeprüfung“ bezeichnet und für das er den anstehenden Europawahlen eine entscheidende Bedeutung zuschreibt.

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