Der Feind, liebe Linke, steht rechts

Gut, ich gebe es zu: Ich habe die Linken auf dem Kieker. Das liegt allerdings nur daran, dass ich selbst ein Linker bin. Ich will, dass alle Menschen frei und gleich werden. Ich will, dass die Welt besser und gerechter wird. Ich will, dass Rassismus, Sexismus und Nationalismus aus der Welt verschwinden, lieber gestern als morgen. Ich will, dass alle Menschen in Wohlstand leben können. Ich trage also auch das gute alte linke Bedürfnis mit mir herum, die Welt zu verändern. („Wir alle sind Atlanten und tragen die Welt auf den Schultern“, wie Erik gerade dichtete. Nunja, Ayn Rand nicht.) Wie viele meiner Freunde bestätigen können, bin ich auch mindestens so selbstgerecht wie die meisten Linken und habe außerdem einen ebenfalls typisch linken, nervtötenden Spaß daran, andere mit meinen politischen Ansichten zu belästigen. Eigentlich bin ich wahrlich ein Vollblutlinker.
Nun habe ich aber einige Probleme mit meinem Linkssein: Erstens werde ich nur selten als Linker wahrgenommen und anerkannt. Damit kann ich noch leben – ich behaupte einfach wacker weiter, dass ich dazugehöre. Zweitens aber finde ich zunehmend Ansichten und Aussagen von Linken, denen ich nicht nur nicht zustimmen kann, sondern denen ich ganz vehement widersprechen muss – und zwar gerade, weil ich links bin. Eine Einladung an junge Südeuropäer, in Deutschland eine Lehrstelle zu suchen, sei eine „Ohrfeige“ für die deutschen Jugendlichen, die, selbstverständlich, zuerst gefördert werden müssten, meint etwa Sahra Wagenknecht. Der Schweizer Sozialdemokrat Rudolf Strahm glaubt, Personenfreizügigkeit über nationale Grenzen hinweg sei ein „neoliberales und menschenverachtendes Konzept“. Oder nehmen wir die Forderung nach einer erneuerten nationalen „Grenzziehung gegenüber der sogenannten ‚Globalisierung’“, die der Soziologe Wolfgang Streeck erhebt. Und Paul Murphy von der Sozialistischen Partei Irlands, bis zur letzten Wahl Abgeordneter im Europäischen Parlament, befindet: „Gäbe es mehr europafeindliche Abgeordnete, ob von links oder rechts, würde das Parlament weniger Schaden anrichten.“

Links oder rechts? Man muss sich schon entscheiden. (Hansjörg Lipp, CC-by-SA-2.0)
Diese Aussagen, denen man noch einige hinzufügen könnte, haben ihren gemeinsamen Ursprung in einem Missverständnis: dass die ärgsten Feinde der Linken nicht Rechte, sondern Liberale wären. Der junge Genosse aus dem Europaparlament etwa freut sich ganz offen über den Zuwachs an Rechtsradikalen und -populisten bei der letzten Europawahl – weil er glaubt, mit ihnen gemeinsam den „ausführenden Arm der neoliberalen Verschwörung gegen Europas Arbeiterklasse“, das EU-Parlament, bekämpfen zu können. Da tut sich also ein Linker mit Rassisten, Nationalisten, Homophoben zusammen, und findet überhaupt nichts dabei. Schlimmer: Wo bleibt der Aufschrei auf der Linken? Denn im #Aufschreien ist sie doch eigentlich gut geübt, jeder baden-württembergische Kommunalpolitiker kann sie auf die Palme bringen. Und hier sitzt einer der Ihren im wichtigsten und mächtigsten Parlament Europas und verbündet sich mit ganz offen nationalistischen Ideologen, und die Linke sagt: nichts.
Mein Verdacht ist: Sie sagt nichts, weil sie das Verhalten des Herrn Murphy in Wahrheit nachvollziehbar und sympathisch findet. Es gibt, spätestens seit 1848, dem Erscheinungsjahr des Kommunistischen Manifests, in der Linken eine ehrwürdige Tradition, Gespenstern hinterherzujagen, und das Gespenst der heutigen Linken ist der „Neoliberalismus“. Zwar lässt sich sicher einiges gegen einen radikalen Marktfundamentalismus einwenden, der mit einem religiös anmutenden Eifer daran glaubt, dass der Markt die Lösung all unserer Probleme wäre. Man kann auch mit einigem Recht argumentieren, die Politik von Margaret Thatcher und Ronald Reagan habe Schaden angerichtet. Es ist aber etwas ganz anderes, zu behaupten, wir lebten in einer Zeit, in der der „Neoliberalismus“ (was immer das genau sein mag) unsere gesamte Kultur und Politik durchdrungen habe, und die EU sei nur ein weiterer „Agent“ dieser rätselhaften, alles unterwerfenden Macht, gegen die man den Nationalstaat in Stellung bringen müsste.
Ich persönlich glaube ja, dass man der Wirklichkeit der heutigen Welt näher kommt, wenn man sie über Prozesse wie Globalisierung, Differenzierung und Individualisierung beschreibt und die positiven Entwicklungen nicht vergisst, die diese Prozesse beinhalten. Das ist aber hier nicht relevant. Die Linke, will ich sagen, kann den Neoliberalismus durchaus hassen (und analysieren und bekämpfen) – solange sie ihn nicht mehr hasst als Rassismus, Nationalismus und Sexismus, die klassischen rechten Überzeugungen. Die Linke scheint sich aber das neoliberale Gespenst, gegen das sie schattenboxt, als so mächtig vorzustellen, dass sie tendenziell der Meinung ist, sie müsste mit der klassischen Rechten paktieren, um es zu erlegen. Man konnte das, zum Beispiel, gerade in Frankreich beobachten: Arnaud Montebourg, der Führer des linken Flügels der Parti Socialiste und bis dahin Wirtschaftsminister, stellte sich öffentlich gegen den „neoliberalen“ Kurs von Präsident Hollande – nicht ohne darauf hinzuweisen, dass dieser Kurs Frankreich von außen aufgezwungen werde, durch Deutschland und die EU. Diese nationalistische Sündenbockrhetorik kann man exakt so auch bei Marine Le Pen finden.
Die Neigung, den „Neoliberalismus“ zu überhöhen, entspringt letztlich dem schon von Marx formulierten Glauben, dass die Ökonomie die „Basis“, der alles beherrschende Kern von Gesellschaft und Politik sei. Die „Ökonomisierung“ der Gesellschaft, die viele Linke für das angebliche Zeitalter des Neoliberalismus konstatieren, das in den 80er Jahren angebrochen sei, hat insofern weniger mit tatsächlich beobachtbaren Entwicklungen zu tun als mit ihren eigenen theoretischen Vorannahmen: Wer nur nach Ökonomie und Märkten sucht, findet auch nur Ökonomie und Märkte. (Das gilt übrigens ganz ähnlich auch für tatsächlich neoliberale Wirtschaftswissenschaftler wie Gary Becker, die ebenfalls – déformation professionnelle – überall in der Gesellschaft nach Märkten suchten und sie folglich auch fanden. Linke Sozial- und Kulturwissenschaftler untersuchen nun die Werke Beckers und anderer und lesen deren Fehlrepräsentation der Gesellschaft als Hinweis auf eine tatsächliche Ökonomisierung – eine der vielen seltsamen Blüten, die die „Analyse“ des „Neoliberalismus“ in den Kultur- und Sozialwissenschaften getrieben hat. Don’t get me started.)
Der Schattenkampf der Linken gegen den „Neoliberalismus“ wäre an sich ganz lustig anzusehen – wenn er nicht, ganz real, rechten Kräften in die Hände spielen würde. Denn das Modell Montebourg ist nicht spezifisch französisch. Überall in Europa gewinnen die Rechten mit der Behauptung Stimmen, Globalisierung und Europäisierung unserer Gesellschaften seien zu bekämpfende Übel. In dieser Situation müsste die Linke leidenschaftlich auf der Seite des Internationalismus stehen, für das Globale, die Menschenrechte, Europa und die Überwindung des Nationalstaats eintreten. Stattdessen überzieht sie alles mit einer ätzenden „Kritik“, verfolgt abstruse Verschwörungstheorien und jagt Gespenster. Die Globalisierung ist für sie, genau wie für die Rechte, ein Feind, der von außen kommt und den man bekämpfen muss. Die Menschenrechte sind für sie ein neokoloniales Projekt des Westens. Europa ist für sie „neoliberal“, rassistisch und bellizistisch. Und sie fordert einen starken Staat, der für sie nach wie vor und ohne weitere Reflexion (oft gar mit Emphase) der Nationalstaat ist – anstatt in die Zukunft zu denken, Alternativen zum nationalen Sozialstaat zu suchen, gräbt sie sich im 20. Jahrhundert und damit im vergangenen Jahrtausend ein.
Dieser Nationalismus ist vielleicht das Kernproblem. Dank der Erfolge des nationalen Wohlfahrtsstaats in der Mitte des letzten Jahrhunderts scheint die Linke ihre kosmopolitische Tradition vergessen zu haben. Man muss noch nicht einmal die nationalistischen Exzesse eben jenes Jahrhunderts in Erinnerung rufen, um das für problematisch zu halten. Man kann sich auch einfach vor Augen führen, welche Erfolge die nationale Grenzen perforierenden Entwicklungen unserer Zeit – Globalisierung und Europäisierung – anzubieten haben:
  • Wirtschaftliche Fortschritte vor allem in Schwellenländern mit gewaltigen Wohlstandsgewinnen und einem (absoluten, nicht nur relativen) Abbau globaler Armut.
  • Transnationale Migrationsbewegungen, die die Vielfalt und den Wohlstand aller Gesellschaften voranbringen.
  • Globale Kommunikationsnetze.
  • Offene Grenzen in Europa. So beschämend und empörend die Vorgänge an den EU-Außengrenzen sind – jeder abgebaute Schlagbaum ist ein Fortschritt in einer Welt, die abstruserweise nach wie vor in künstlich festgelegte Flächen eingeteilt ist, an deren Grenzpfosten für viele Menschen die Bewegungsfreiheit endet.
  • Der Aufbau einer supranationalen Demokratie in Europa, ein Modell, das in der Tat, sollte es funktionieren, als Vorbild für andere Weltregionen dienen kann, weil es Konflikte verhindert und moderiert und leistungsfähige Politiken gegenüber globalen Prozessen ermöglicht, ohne auf demokratische Legitimation und Repräsentation zu verzichten.
  • Ganz persönlich: Wie viele Freunde, Bekannte, Kollegen habt ihr, die aus anderen Ländern stammen? Wie viele hatten eure Großeltern oder Eltern? Würdet ihr auf diese Menschen verzichten wollen? Nein? Dann solltet ihr auch auf die Globalisierung nicht verzichten wollen.
Man kann und sollte sicher verschiedene Aspekte der Globalisierung kritisch hinterfragen. Aber jemand, der ernsthaft gegen Nationalismus ist (und viele Linke reklamieren das trotz allem für sich), kann nicht gleichzeitig gegen die Globalisierung sein. Es gibt zwei Varianten, wie Linke mit diesem Widerspruch umgehen: Entweder ignorieren sie ihn. Das ist die „kritische“ Variante, die sich auf eine linke Tradition berufen kann, derzufolge es, warum auch immer, Sinn macht, schlechterdings alles zu kritisieren, was einem vor die Flinte läuft. Man kann das, wenn man will, von Adornos „negativer Dialektik“ herleiten, die von vornherein und sowieso alles schlimm findet und sich deshalb um positive Alternativen nicht zu kümmern braucht. Man kann so ganz wunderbar gleichzeitig gegen Nationalismus, Globalisierung und überhaupt alles sein und dabei ein reines Gewissen bewahren, ohne die Welt auch nur das kleinste Stück vorangebracht zu haben.
Die zweite Variante: Man konvertiert (oder bekennt sich) ganz offen zum Nationalismus. Man findet diese Version vor allem bei männlichen, älteren und entsprechend etablierten Intellektuellen. Diese altlinken Grummelopas sehnen sich nach den 50er und 60er Jahren zurück, ihrer Jugendzeit, in der der nationale Wohlfahrtsstaaat seine großen Erfolge feierte. Nehmen wir zum Beispiel Wolfgang Streeck, den oben bereits einmal zitierten Leiter des Max-Planck-Instituts für Gesellschaftsforschung, der in seinem 2013 veröffentlichten Buch Gekaufte Zeit zu dem Schluss kommt, dass man den Nationalstaat gegen die von ihm sogenannte „sogenannte ‚Globalisierung’“ in Stellung bringen müsse: „Im Westeuropa von heute ist nicht mehr der Nationalismus die größte Gefahr, schon gar nicht der deutsche, sondern der Hayekianische Marktliberalismus.“ (Siehe nämlich Front National, UKIP, SVP, FPÖ, AfD… Und warum eigentlich nur Westeuropa?)
Womit wir auch schon wieder beim Liberalismus wären. Denn wie gesagt: Die seltsame Rechtsneigung der Linken resultiert nicht zuletzt aus ihrer übertriebenen Abneigung gegen den Liberalismus. (Und, leider, auch aus der seltsamen Rechtsneigung von „Liberalen“ wie eben Hayek, Friedman oder auch Westerwelle. Der Verrat des real existierenden Neoliberalismus durch seinen Pakt mit den Konservativen wäre eine eigene Polemik wert.) Die Linken müssen keinesfalls alle Positionen des Liberalismus, schon gar nicht des Neoliberalismus, übernehmen, sonst wären sie keine Linken mehr. Sie sollten aber den Gegner unmissverständlich auf der Rechten suchen. Dabei würden sie zahlreiche Ziele entdecken, die sie mit Liberalen gemeinsam haben: Freiheit und Wohlstand für alle. Mitbestimmung, Demokratie, Emanzipation.
Um Lenins Frage aufzunehmen: Was tun? – Die Linke muss sich von der konservativen Rechten und insbesondere ihrem traditionellen Nationalismus abwenden. Sie sollte sich auch vom Marxschen Ökonomismus lossagen, der in der Ökonomie, im Kapitalismus oder nun im Neoliberalismus die Wurzel allen Übels erkennen will, und einsehen, dass wir, wenn wir die Welt verändern wollen, zunächst einmal die Einstellungen derer ändern müssen, die das „Fremde“ ablehnen und verabscheuen. Sie muss sich endlich in ein konstruktives Gespräch über die Globalisierung einklinken, ein Nachdenken nach vorne beginnen, anstatt weiter die Vergangenheit zu idealisieren. Sie muss Konzepte entwickeln, wie die beiden großen historischen Leistungen des Nationalstaats – Demokratie und allgemeine Wohlfahrt – auch in einer globalisierten, von nationalen Grenzen so weit wie möglich befreiten Welt bewahrt werden können. Ganz konkret muss sie sich heute gegen den nationalistischen Backlash stellen, der das bisher auf dem Weg zu einer offenen, freien und gleichen Welt Erreichte umkehren und zerstören will. Mit anderen Worten: Sie muss sich selbst wiederfinden.

About Author: WWWWWSören Brandes

Geboren 1989 in Paderborn, hat Geschichte und Literatur in Berlin und Lund studiert. Master in Moderner Europäischer Geschichte. Promoviert derzeit am Graduiertenkolleg „Moral Economies of Modern Societies“ am Berliner Max-Planck-Institut für Bildungsforschung über die Geschichte des Marktpopulismus. Lebt in Berlin-Neukölln und interessiert sich für eigentlich alles, insbesondere für Globalisierungsphänomene, den Einfluss der Massenmedien darauf, wie wir denken und leben, und europäische Politik. Mail: soeren@unserezeit.eu, Twitter: @Soeren_Brandes, Facebook: Sören Brandes View all posts by

10 Gedanken zu „Der Feind, liebe Linke, steht rechts“

  1. Zum großen Teil Zustimmung. Allerdings sehe ich als linker nicht ein, wieso nicht auch eine kritische Position zur Globalisierung, trotz absolutem Internationalismus, möglich sein sollte. Dabei finden die positiven Aspekte in jedem Fall Anerkennung. Allerdings übersieht man dabei gerne, dass nicht alles Gold ist was glänzt. Selbiges findet sich übrigens auch bei Adorno. Dialektik der Aufklärung zeigt nichts anderes als die Schattenseite der Aufklärung. Vor dem Hintergrund des Holocausts kann man dabei jedoch kaum erwarten, dass er noch die positiven Aspekte einbaut. Dennoch müssen sich die Autoren der Frankfurter Schule nun schon seit geraumer Zeit diese doch recht polemischen Kritik anhören, dass sie gegen alles seien. Wenn ich mir vornehme etwas zu kritisieren, was bis dato kaum kritische Reflexion erfahren hat, dann ist es nicht meine Aufgabe auch noch die positiven Errungenschaften einzubringen. Die wurden ja auch schon häufig genug angesprochen. Dennoch kann meine Bewertung, und sei sie auch ein vernichtendes Urteil, dabei helfen eine kritische Auseinandersetzung in Gang zu setzen. Und dabei findet man im übrigen bei Adorno auch keine Anweisungen, dass man nun zurück zum Feudal,- und Lehnswesen kehren sollte o.ä.. Kritik muss auch nicht per se bereits Lösungen parat haben. Bei der Linken und der Globalisierung verhält es sich ähnlich. Wobei selbstverständlich oftmals nur aus einer linken Laune heraus gegen Globalisierung gewettert wird und die eigentliche Kritik auch den falschen trifft. Ein großer Teil der negativen Auswirkungen, welche angeblich durch Globalisierung losgelöst wurden, gehen eher auf das Konto der Nationalstaaten. Sich Schlagwörter wie Globalisierung, Kapitalismus etc. rauszusuchen ist aber ohnehin ein typisches Merkmal populistischer Debatten und Interessensgruppen (z.b. pol. Parteien). Eine kritische Auseinandersetzung sollte eigentlich auf sachlicher Basis stattfinden und sich von diesen Kampfwörtern lösen. So komme ich als brennender Internationalist, bekennender Anhänger von weltstaatlichen Konzepten und Gegner jeder Form des Nationalstaats, dennoch zu der Ansicht, dass Kritik möglich sein muss. Nur muss diese an die richtigen Empfänger gerichtet werden und nicht an Schlagwörter, womit sie sich von ihrer populistischen Form lösen würde. Leider verhindern grade diese populistischen Diskussionen eine sinnvolle Diskussion. Die polemische „per se-Kritik“ der einen führt dazu, dass innerhalb der Linken andere dazu übergehen Kritik im Keim zu ersticken. Auf der Strecke bleiben die Menschen, denen es seit 200 Jahren nicht besser geht, zum Teil sogar schlechter. Währenddessen man hier darüber streitet, wer Schuld daran trägt.
    Abgesehen davon ist es aber richtig, dass es vielen dieses speziellen Teils der „Linken“ nicht gelingt. Meine Vermutung ist, dass diese populistische Art der politischen Diskussion einfach zu falschen Urteilen führt. Die Kritik an der israelischen Politik (vermutlich vom selben Teil der Linken) führt auch immer unweigerlich (und teilweise nicht zu unrecht) zu Antisemitismusvorwürfen. Das immer gleiche Problem wenn ich für Mißstände einen möglichst knackig klingenden Empfänger suche, welchen ich meine einfachen Vorwürfe an den Kopf knallen kann.

  2. Einerseits: Klar, Kritik ist immer erlaubt und oft notwendig. Andererseits glaube ich, dass Kritik mit einem positiven Ziel formuliert sein muss, um irgendwie sinnvoll oder nützlich zu sein. Denn nur, wenn man weiß, wofür man sich überhaupt einsetzt, kann man vernünftig darüber nachdenken, wie dieses Ziel zu erreichen (oder eben wie es auf keinen Fall zu erreichen) sein könnte. Andernfalls verstrickt man sich in Widersprüche, weil Kritik ja immer von einem Standpunkt stattfinden muss, von dem aus man etwas kritisieren oder verurteilen kann. Wenn man aber Kritik so übt wie Adorno oder die postmodernen Dekonstruktivisten, dann reißt man den eigenen Standpunkt und damit auch die eigene Kritik gleich mit ein. Am Ende bleibt dann nichts Positives mehr übrig. An diesem Punkt kann man natürlich immer noch behaupten, es sei halt alles schlimm auf der Welt – aber dann hat man, ganz einfach, fundamental unrecht und sollte nicht mehr ernstgenommen werden. So in etwa sehe ich das.

  3. Vielleicht ergänzend: Die Gefahr einer solchen Kritik bzw. die Falle, in die, aus meiner Sicht, Adorno ebenso wie die Dekonstruktivisten getappt ist, ist, dass man Dinge delegitimiert und zerstört, die einem eigentlich helfen könnten, andere, „schlimmere“ Probleme zu lösen. Auch wenn Adornos Aufklärungskritik damals vielleicht gegen ein allzu positives Bild der Aufklärung gerichtet war, das sie korrigieren sollte, gibt es heute Leute auf der Linken, die, wenn sie an die Aufklärung denken, überhaupt nur noch an Rassismus, Kolonialismus und den bösen „Rationalismus“ denken können. Das allerdings spielt Islamisten und anderen religiösen Fundamentalisten in die Hände, gegen die man in der Folge gar keine argumentative Handhabe mehr hat. Bruno Latour hat in seinem schönen Text „Elend der Kritik“ (online unter http://www.bruno-latour.fr/sites/default/files/downloads/89-CRITICAL%20INQUIRY-DE.pdf) darauf hingewiesen, dass dank der dekonstruktivisten Wissenschaftskritik nun Holocaustleugner, „Klimaleugner“ (ein unschönes Wort, gibt leider kein besseres), Kreationisten usw. sich über alle wissenschaftlichen Erkenntnisse hinwegsetzen können. Man glaubte, progressiv zu sein, indem man die Grundlagen der Wissenschaft dekonstruierte, und hat dabei nur den Reaktionären genützt. Das hätte man vermeiden können, wenn man sich beizeiten die Vorteile von so etwas wie Aufklärung, Wissenschaft und, ja, auch Kapitalismus oder jetzt eben Globalisierung einmal vor Augen geführt hätte, anstatt alles unterschiedslos mit einer ätzenden, radikalen Kritik zu übergießen.

  4. Wobei eine bloße Kritik doch immernoch die Möglichkeit offen lässt, dass sich andere um ein positivistischeres Bild bemühen. Adorno kann beruhigt in Ewigkeit ruhen angesichts der Tatsache, dass seine Nachfolger schon dafür Sorge tragen, dass sein vernichtendes Urteil nicht zum Ende der Gesellschaft führt. Manchmal kann Kritik eben Anstoß für dringend notwendige Diskussionen sein ohne das der Kritiker selber schon den positiven Aspekt vorweg nimmt. Und Personen mit genügend Überblick sollten in der Lage sein, Adornos Kritik richtig einzuordnen. Mit Globalisierung hat er sich im übrigen damals noch gar nicht wirklich auseinandergesetzt. Abgesehen davon nervt diese Verwendung von Adorno oder den hier angesprochenen Dekonstruktivisten als Blaupause für oben erkennbare Kritik an linken Weltbildern. Am Ende des Tages findet man bei beiden Beispielen wesentlich mehr als „alles ist schlimm auf der Welt“ und „wir negieren jeden wissenschaftlichen Positivismus“. Mehr als die meisten linken Weltbilder begreifen wollen und mehr als deren Kritiker verstehen wollen. Oder sie ignorieren diese bewusst weil man Adorno und co. sonst ja nicht mehr benutzen könnte.

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