Wo Karl Marx recht hatte. Warum wir jetzt über das bedingungslose Grundeinkommen nachdenken müssen

Karl Marx hatte recht. Nicht in Allem, vielleicht nicht einmal in Vielem, aber doch: Es gibt mindestens eine Schwäche (kapitalistischen) Wirtschaftens, die er präzise wie kaum ein anderer erfasst und benannt hat: Im Kapitalismus, so schrieb Marx in Das Kapital, ist der Arbeiter „frei in dem Doppelsinn, daß er als freie Person über seine Arbeitskraft als seine Ware verfügt, daß er andererseits andere Waren nicht zu verkaufen hat, los und ledig, frei ist von allen zur Verwirklichung seiner Arbeitskraft nötigen Sachen“. Das bedeutet, dass der Arbeiter „seine Arbeitskraft selbst, die nur in seiner lebendigen Leiblichkeit existiert, als Ware feilbieten muß“. Der Arbeiter also, so könnte man etwas weniger umständlich formulieren, hat keine Wahl – er muss arbeiten, um zu überleben.

John Jabez Edwin Mayall: Foto von Karl Marx, vor 1973
John Jabez Edwin Mayall: Foto von Karl Marx, vor 1873

Die ökonomische Theorie des Liberalismus postuliert, dass es Plussummenspiele gibt, in denen beide Parteien von einem Handel profitieren. Denn Individuen, die auf den eigenen Vorteil bedacht sind (von solchen homines oeconomici geht die liberale Theorie bekanntlich aus), würden einen Handel, der ihnen nichts einbringt, gar nicht erst eingehen – jedenfalls, und hier kommen wir zum Kern des Problems, nicht freiwillig. Damit Kapitalismus so funktioniert, wie sich Liberale das vorstellen – Individuen kooperieren arbeitsteilig miteinander, um einen größeren Wohlstand zunächst für sich selbst und letztlich für alle zu erzeugen –, müsste gewährleistet sein, dass alle ökonomischen Interaktionen auf gegenseitiger Freiwilligkeit und Gleichberechtigung basieren. Ein Überfall zum Beispiel ist nicht die Art von Interaktion, die sich die liberale Theoretikerin (heute mal generisches Femininum) als typisch für das kapitalistische Wirtschaften vorstellt. Es geht eher um ein Geschäft, in dem beiden Parteien alle wesentlichen Informationen bekannt sind und in dem sie sich auch jederzeit abwenden und für eine andere Handelspartnerin entscheiden können, die vielleicht bessere Konditionen bietet.

In den letzten Jahrhunderten sind zahlreiche Institutionen etabliert worden, die die Freiwilligkeit von wirtschaftlichen Interaktionen gemäß dieser liberalen Vorstellung gewährleisten sollen. Die wohl wichtigste dieser Institutionen ist das Recht, das Verstöße gegen die liberale Grundordnung – wie eben Überfälle oder Betrug – sanktioniert. Auch die öffentliche Moral sanktioniert nicht selten Verhalten, das die Funktionsfähigkeit von Märkten unterminieren könnte, etwa wenn Monopolistinnen ihre Marktmacht ausnutzen. Denn auch Monopole sind ein Verstoß gegen das Prinzip der Freiwilligkeit – wo ich keine andere Anbieterin nutzen kann, kann von freier Wahl keine Rede mehr sein. Auch Sklaverei, eine krasse Form von unfreiwilliger Arbeit, ist mittlerweile an den meisten Orten verboten und verpönt – wenn sie auch leider noch lange nicht als abgeschafft gelten kann.

Eine sehr grundlegende Einschränkung aber bleibt: Auch in den Industrienationen können sich die meisten Menschen weiterhin nicht frei dazu entscheiden, zu arbeiten. Ihnen bleibt keine Wahl: Sie müssen irgendwie Geld verdienen, um zu überleben. Zwar hat der Wohlfahrtsstaat des 20. Jahrhunderts den Druck durchaus reduziert, aber auch er beruht auf der Idee, dass niemand ein Recht darauf hat, nicht zu arbeiten. Wer etwa in Deutschland Hartz IV bekommt, muss sich beständig um Arbeit bemühen und den Anweisungen der Arbeitsagenturen Folge leisten – sonst werden ihr die Leistungen gekürzt oder komplett gestrichen.

Der Zwang zur Arbeit ist eine Form der Unfreiheit, die kaum je beklagt wird, weil sie als weitgehend unhinterfragte Selbstverständlichkeit gilt. Gerade aus der Sicht der liberalen ökonomischen Theorie muss sie aber als fundamental problematisch erscheinen, weil sie die Freiwilligkeit wirtschaftlicher Interaktionen unterminiert. Wenn (so die Terminologie der Arbeitsökonomik, die den üblichen Sprachgebrauch völlig zu Recht umkehrt) Arbeitsnachfragerinnen (Arbeitgeberinnen) auf Arbeitsanbieterinnen (Arbeitnehmerinnen) treffen, sind die ersteren immer in einem strukturellen Vorteil, weil ihr Überleben nicht von einem Vertragsabschluss abhängt. Die beiden Parteien sind in diesem Handel also keinesfalls gleichberechtigt. Für Arbeitsanbieterinnen mit genug Humankapital – also mit einer guten Ausbildung und vielen Kontakten – mag das kaum ein Problem sein, weil sie auf eine ausreichende Arbeitsnachfrage treffen, um wählen zu können. Gerade für diejenigen aber, die über keine oder nur wenige solche Ressourcen verfügen, wird der Zwang zur Arbeit sehr real als Zwang spürbar.

Dieses Problem ist immer wieder sowohl von sozialistischen als auch von liberalen Denkern als zentral erkannt worden: Schon im 19. Jahrhundert postulierte der französische Sozialist Paul Lafargue ein „Recht auf Faulheit“ und griff die Arbeiterbewegung (und mit ihr Marx und seine Anhängerinnen) dafür an, dass sie die „Arbeitssucht“ und das „Dogma der Arbeit“ zur Grundlage ihrer Kritik am Kapitalismus machten, damit aber dessen Versuch unterstützten, den Arbeiter „zur Rolle einer Maschine zu verurteilen, aus der man pausenlos und gnadenlos Arbeit herausschindet.“ Aus der ziemlich genau entgegengesetzten politischen Richtung kommend, entwickelte Milton Friedman in den 1960er Jahren die Idee einer „negativen Einkommenssteuer“, die eine Grundversorgung für alle jenseits des von Friedman recht weitgehend verdammten Sozialstaats gewährleisten sollte.

In den letzten Jahren oder Jahrzehnten ist die Idee eines bedingungslosen Grundeinkommens (BGE) in weitere Kreise und in viele politische Diskussionen vorgedrungen, auch innerhalb von Parteien. Das BGE wäre eine Möglichkeit, der Arbeit ihren Zwangscharakter zu nehmen und das Problem der strukturellen Ungleichheit bei der Arbeitssuche zu lösen. Die Idee ist simpel: Der Staat überweist jeder Bürgerin, unabhängig von deren sonstigem Einkommen oder Vermögen, jeden Monat einen festen Betrag – eine Summe, die häufig mit 1000 Euro veranschlagt wird, in anderen Modellen aber auch deutlich darunter oder darüber liegen kann. Das BGE unterscheidet sich insofern deutlich von sonstigen staatlichen Transferleistungen, die nur unter bestimmten Bedingungen (z. B. Arbeitslosigkeit, Rente, Kinder) vergeben werden. Für diese Grundidee kursieren verschiedene Finanzierungsmodelle, die meist den Hinweis auf sehr viel geringere Bürokratiekosten beinhalten, weil das BGE viele mit großem bürokratischen Aufwand verbundene Transferleistungen – wie etwa Hartz IV – ersetzen könnte.

Schon aus dieser sehr kurzen Skizze wird vielleicht deutlich, dass die Debatte über das BGE viele Fallstricke bereithält. Woher soll das am Ende vielleicht doch zusätzlich benötigte Geld kommen? Was soll mit den Angestellten in der bisherigen Transferbürokratie geschehen? In welchem Verhältnis steht ein BGE zu den bisherigen Institutionen des Sozialstaats? Kann es ein BGE nur auf nationalstaatlicher Ebene geben, ohne dass sich Nationalstaaten noch mehr abschotten?

All das sind wichtige und intrikate Fragen, über die wir in den kommenden Wochen in einer kleinen Serie auf Unsere Zeit aus unterschiedlichen Perspektiven nachdenken wollen. Dabei wollen wir trotz aller Schwierigkeiten, die man mit dem BGE haben kann, eines nicht vergessen: Marx hat noch immer recht – die Lohnarbeiterin muss in letzter Konsequenz weiterhin ihre „eigne Haut zu Markte“ tragen. Bis jetzt ist es der Menschheit nicht gelungen (übrigens auch nicht im realen Sozialismus, der ebenfalls auf einem Arbeitszwang beruhte), dieses Grundproblem unseres Wirtschaftens zu lösen – trotz der enormen technischen Fortschritte und Wohlstandsgewinne, die die 150 Jahre seit der Veröffentlichung des ersten Bands des Kapitals mit sich gebracht haben. Der Zwang zur Arbeit trägt weiterhin einen nicht geringen Anteil der Verantwortung für Ungleichheit, Ungerechtigkeit, Armut, Unglück und Angst auf der Welt – gerade auch in unserer Generation, die durch Jugendarbeitslosigkeit und Jobunsicherheit bedroht ist. Gerade in unserer Zeit, in der Arbeit einen neuen Schub der Digitalisierung und Maschinisierung erfährt, der einen riesigen Anteil von einfachen Arbeiten überflüssig machen wird, ist es deshalb notwendig, ganz grundsätzlich über radikale Ideen nachzudenken.

About Author: WWWWWSören Brandes

Geboren 1989 in Paderborn, hat Geschichte und Literatur in Berlin und Lund studiert. Master in Moderner Europäischer Geschichte. Promoviert derzeit am Graduiertenkolleg „Moral Economies of Modern Societies“ am Berliner Max-Planck-Institut für Bildungsforschung über die Geschichte des Marktpopulismus. Lebt in Berlin-Neukölln und interessiert sich für eigentlich alles, insbesondere für Globalisierungsphänomene, den Einfluss der Massenmedien darauf, wie wir denken und leben, und europäische Politik. Mail: soeren@unserezeit.eu, Twitter: @Soeren_Brandes, Facebook: Sören Brandes View all posts by

5 Gedanken zu „Wo Karl Marx recht hatte. Warum wir jetzt über das bedingungslose Grundeinkommen nachdenken müssen“

  1. Es ist an der Zeit das bedingungslose Grundeinkommens einzuführen.
    Es ist jedoch sorgfältig zu spezifizieren, dazu gehört beispielsweise die obligatorische Teilnahme an beruflichen Fördermassnamen oder die Teilnahme an Tätigkeiten die dem Gemeinwohl dienen. Ferner kann der Grundbedarf an Einkommen erheblich schwanken, zu beachten wäre beispielsweise:
    1. Die menschenwürdige, bedarfsgerechte Unterkunft/Wohnung.
    2. Die Grundversorgung mit elektrischer Energie, Trinkwasser, Müllabfuhr so wie
    Kommunikation.
    3. Die Nutzung öffentlicher Verkehrseinrichtungen,
    4. Freie Weiterbildung für begabte Kinder.

    1. Aber wenn man die Leute zur Teilnahme an beruflichen Fördermaßnahmen oder an gemeinwohlfördernden Tätigkeiten zwingen würde, wäre das Einkommen ja gerade nicht mehr bedingungslos. Und man würde Aufgaben schaffen, die eine umfangreiche Bürokratie erneut zu erfüllen hätte: Leute kontrollieren, gängeln, „sinnvolle Tätigkeiten“ für sie (er)finden. So ist es, denke ich, nicht gedacht.

  2. Das Thema ist wichtiger denn je, denn vielen Menschen würde es endlich wieder mehr Lebensqualität bieten und endlich wieder eine Chance, auf eigenen Beinen zu stehen. Natürlich müsste sich bis dahin noch einiges ändern, aber irgend wann sollte endlich damit begonnen werden.

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