Schritte in Richtung einer Utopie: Ein pragmatischer Blick auf das Grundeinkommen

Ist ein flächendeckendes bedingungsloses Grundeinkommen (BGE) realisierbar? Diese Frage stellt sich zwingend, sobald man Sörens gute Argumente für die Einführung eines Grundeinkommens akzeptiert. Selbst wenn Eva eher pessimistisch ist, dass die momentane deutsche Sozialgesetzgebung mit der Idee eines BGE vereinbar ist, glaube ich, dass es durchaus möglich ist, dieses Projekt anzugehen. Bisherige Ansätze streiten sich in der Regel darum, was in der momentan noch utopischen BGE-Gesellschaft für wirtschaftliche und fiskalische Regeln gelten und verlieren dadurch das jetzt schon Machbare aus dem Blick – dabei ist der deutsche Sozialstaat schon wesentlich näher an einem Grundeinkommen dran, als man zunächst glauben mag.

Die Wissenschaft von einer utopischen Welt: Wie man das Grundeinkommen nicht diskutieren sollte

Wenn es um die Einführung eines BGE in Deutschland geht, dann werden in der Regel verschiedene Modelle diskutiert, die die Finanzierbarkeit des Grundeinkommens sicherstellen sollen und mal mehr und mal weniger hohe Beträge für ein Grundeinkommen erwarten lassen. Die verschiedenen Modelle und damit simulierten Ergebnisse einer Einführung des BGE sind aber auch der Punkt, an dem es technisch wird und an dem sich die durchschnittliche Nicht-Volkswirtin von der Debatte abwendet, weil sie nicht weiß, ob sie den optimistischen oder den pessimistischen Experten Glauben schenken sollte. Diese technische Dimension der Debatte um das BGE ist jedoch nicht nur langweilig, sondern überflüssig und lenkt von der eigentlichen Frage ab, um die es gehen sollte: die Frage, ob wir ein BGE wollen und wie wir diesem Willen Gehör verschaffen können.

Denn sowohl die optimistischen als auch die pessimistischen Analysen zur Realisierbarkeit verkennen den utopischen Charakter des BGE. Im Ergebnis steht auf der einen Seite ein sinnloser Streit über die Finanzierbarkeit, der die politische Unmöglichkeit eines solchen Schritts ausblendet, und auf der anderen Seite ein Streit über die möglichen Auswirkungen, der jedoch wissenschaftlich nicht fundiert ist und daher in eine völlig unsinnige ideologische Diskussion mündet.

Es ist relativ schnell verständlich, dass die Einführung eines BGE eine  große Veränderung der sozialpolitischen Landschaft der Bundesrepublik darstellen würde und eine Menge Komplikationen mit sich brächte, die sie bis auf weiteres politisch unmöglich macht. Es müsste zum Beispiel geklärt werden, was mit bisher erworbenen Ansprüchen – durch Einzahlung in staatliche Pflege-, Arbeitslosigkeits- und Rentenversicherungen – nach einer Einführung geschieht – und in einer alternden Gesellschaft gibt es viele Menschen, die in Sachen Rente auf nichts verzichten möchten. Außerdem würde ein BGE eine große Zahl von Arbeitsplätzen in der Verwaltung des Sozialstaats überflüssig machen. Und drohende Arbeitslosigkeit ist eine Perspektive, die diesem Projekt – neben dem Arbeitgeberverband und dem Deutschen Gewerkschaftsbund – einige weitere natürliche Feinde in der öffentlichen Verwaltung bescheren würde. Schließlich wäre für eine solch grundlegende politische Reform wahrscheinlich eine im Moment nicht absehbare verfassungsändernde Mehrheit im Bundestag nötig. Doch um diesen Makel, so habe ich den Eindruck, kümmern sich weder Befürworterinnen noch Gegner des BGE besonderes häufig.

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Aktiv inaktiv: Teinehmende beim Couch Potato Wettbewerb von ESPN

Nicht selten folgt in einem nächsten Schritt sogar noch eine Debatte darüber, welche Auswirkungen ein Bedingungsloses Grundeinkommen haben würde: Die eine Seite ist sich in der Regel sicher, dass mit dem Bedingungslosen Grundeinkommen eine Wohlstands-Idiokratie eintreten würde, da niemand mehr einen Anreiz verspürt, etwas zu tun – geschweige denn bei der Müllabfuhr oder in der Kläranlage zu arbeiten. Die andere Seite hingegen ist überzeugt, dass der Mensch immer arbeiten möchte und sich zudem ein neuer Gemeinschaftssinn zwischen den befreiten Individuen entwickeln wird, der dazu führt, dass Arbeiten spaßiger und schöner wird. Die problematische Annahme beider Seiten besteht darin, dass sie von einer Prognostizierbarkeit der Effekte eines BGE ausgehen. Doch tatsächlich begeben sich solche Prognosen auf sehr dünnes Eis. Diese Unsicherheit ist dadurch begründet, dass eine solche Entscheidung eine so weitreichende Veränderung der Rahmenbedingungen der Wirtschaft bedeuten würde, dass möglichen Vorhersagen für diese BGE-Welt jede empirische Evidenz fehlt. Alle Prognosen bezüglich der makroökonomischen Auswirkungen dieser Veränderungen müssen daher zwangsläufig noch unzuverlässigere Ergebnisse liefern, als sie es häufig schon unter „normalen“, (sozial-)politisch weitgehend stabilen, Bedingungen tun. So schließt die Konrad-Adenauer-Stiftung in ihrer Evaluation eines solidarischen Bürgergelds mit Hinblick auf dessen wirtschaftliche Auswirkungen:

Diese Unsicherheiten in der Hoffnung auszuräumen, ein exaktes Simulationsergebnis zu erhalten, dürfte auch zukünftig nicht möglich sein. Zum einen, weil es an der erforderlichen empirischen Datenbasis fehlt. Zum anderen, weil über die Verhaltensänderungen der Menschen in einer „Bürgergeldwelt“ nur Annahmen formuliert, aber keine naturwissenschaftlichen Versuche angestellt werden können. Es wird deshalb eine Frage der politischen Überzeugung sein, ob sich für ein […] Bürgergeldkonzept eine Mehrheit in der Gesellschaft finden lässt.

Man muss dieser Form der Diskussion des Bedingungslosen Grundeinkommens zugute halten, dass sie die Idee am Leben erhält. Sie bringt das Projekt jedoch keinen Schritt weiter, weil sie den Anschein erweckt, die Entscheidung über die Einführung eines Grundeinkommens könnte technokratisch geklärt werden. Im Ergebnis steht ein langweiliger und unproduktiver Streit um empirisch nicht fundierte Menschenbilder, die in den Vorannahmen simulierter Grundeinkommenswelten enthalten sind, deren Komplexität und Technizität für viele Menschen eine abschreckende Wirkung haben.

Wir sind schon viel weiter

Wenn man anerkennt, dass die Dikussion um den „großen Wurf“ – also eine baldige und flächendeckende Einführung des BGE – hinfällig ist, dann heißt das aber noch lange nicht, dass es keine Perspektive für ein solches Projekt gibt. Denn es gibt schon heute einige Sozialleistungen in Deutschland und anderen Staaten der Welt, die sehr nah an dieses Ideal herankommen. Der Unterschied zu einem Bedingungslosen Grundeinkommen besteht dabei in der Regel darin, dass die Bewilligung dieser Leistungen an bestimmte Auflagen geknüpft ist. Aber das muss ja nicht so bleiben.

Das Kindergeld ist eine der Leistungen im deutschen Sozialleistungskatalog, die am häufigsten genannt wird, wenn es um Kandidaten für ein Grundeinkommen-light geht: Außer dem Nachweis, dass man ein Kind hat, für das man aufkommt, muss man relativ wenig nachweisen und erhält dann über einen Zeitraum von bis zu 25 Jahren um die 200 Euro im Monat für jedes Kind. Damit ließe sich das Kindergeld relativ einfach zu einem Grundeinkommen für junge Menschen unter 25 Jahren verwandeln. Würde man es aufstocken, ab 18 Jahren direkt an das Kind auszahlen und einige Anspruchsprüfungen obsolet machen, dann könnte dieses Jugend-Grundeinkommen schon viele der positiven Effekte realisieren, die man sich von einem Grundeinkommen allgemein erwartet: Man könnte die hohe Zahl an von Armut bedrohten Kindern reduzieren, mehr Chancengleichheit bei der Ausbildung erreichen, das Bafög-Amt abwickeln und so Bürokratiekosten und nervige Anträge sparen, das Kinderkriegen von einem Großteil seines ökonomischen Risikos befreien und alleinerziehende Eltern – häufig Frauen – unterstützen.

Die gesetzliche Rente ist ebenfalls eine Sozialleistung, die als heißer Kandidat für ein abgespecktes BGE gelten kann. Zwar ist sie heute noch lange nicht bedingungslos, doch die im Koalitionsvertrag der aktuellen Bundesregierung vorgesehene Lebensleistungsrente kommt, sollte sie realisiert werden, einem Grundeinkommen noch ein weiteres Stück näher. Würde auch die Grundsicherung im Alter auf einen angemessenen Betrag aufgestockt, dann hätte der deutsche Staat schon eine Art Alters-Grundeinkommen, ohne direkt alle Strukturen komplett revolutionieren zu müssen – und würde abermals vor Allem Frauen helfen, die am ehesten von Altersarmut betroffen sind. Ein solch pragmatischer Ansatz liegt auch der Idee zugrunde, Hartz IV von Sanktionen im Rahmen der unmenschlichen Eingliederungsvereinbarungen zu befreien, wie es die Initiative Sanktionsfrei anstrebt.

Der deutsche Sozialstaat ist also wesentlich weniger weit von einem Grundeinkommen entfernt, als es die dramatisierte Debatte um die Idee häufig suggeriert: Ein Bedingungsloses Grundeinkommen für bestimmte (Alters-)Gruppen könnte durch relativ geringe Anpassungen bestehender Leistungen realisiert werden. Und täte man dies, könnte man die Effekte dieser teilweisen Einführung eines Grundeinkommens beobachten und als tatsächliche empirische Basis für die Abschätzung der Folgen einer Erweiterung des Empfängerkreises nehmen. Die Frage, ob wir dies tun wollen oder nicht, ist keine Frage der technischen Möglichkeit. Es ist eine politische Frage. Damit ist es eine Frage, die auf Basis individueller Werte und Überzeugungen getroffen werden kann, ohne dass man sich durch technische Details einschüchtern lassen muss. Wenn man mich fragt: Ich bin dafür.

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