Die absolute Mehrheit, die Enttäuschung und die Gefahr der Straße – Warum Macron gleich zu Beginn scheitern könnte

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Was bisher geschah – der frische Wind

Zwei Wahlen, zwei Einträge in die Geschichtsbücher der Grande Nation. Erst die Präsidentschaftswahl am 23. April, dann die wichtigen Parlamentswahlen am 11. und 18. Juni. Erst bebte bei den présidentielles die Erde unter den Füßen der Altparteien, dann kam es bei den législatives zu einem deutlichen Sieg von Macron. Die politische Landschaft wurde durcheinandergewirbelt, das Establishment auf den Kopf gestellt. Die Bürger haben die etablierten Parteien, die jahrelang kein Mittel gegen die steigende Arbeitslosigkeit finden konnten, abgestraft. Sie haben keine Lust mehr auf Skandale, die den Stolz der Grande Nation angreifen. Da war ein Präsident, der sich mit Motorroller heimlich zu seiner Affäre schleicht – Sixt freut sich, die Welt lacht. Da war ein aussichtsreicher Kandidat auf das politische Zepter Frankreichs, der seine Frau als Assistentin einstellt – der Steuerzahler zahlt, sie assistiert aber nicht. Peinlich. Beschämend. Es reicht.

Wenn zwei unwählbar erscheinen, freut sich der Dritte.

Emmanuel Macrons neu gegründete Partei La République en Marche! (REM) erhielt die absolute Mehrheit. 306 Sitze sprechen eine deutliche Sprache, auch wenn sich die überschwänglichen Prophezeiungen von über 400 Sitzen nicht bewahrheitet haben. Macron sorgt für einen frischen Wind, 49 Prozent der REM-Kandidaten hatten noch nie ein Abgeordnetenmandat ausgeübt, ihre Westen glänzen weiß, ganz ohne Skandal- oder Korruptionsfleck. Wer modern und neu sein will, muss auch jung und weiblich können: Trudeau macht es vor, und der jüngste Präsident Frankreichs steht seinem jungen Kollegen von der anderen Seite des Atlantiks dabei in nichts nach.

Benoît Hamon, Präsidentschaftskandidat der Sozialisten, schaffte es bei den Parlamentswahlen nicht einmal in die zweite Wahlrunde seines Wahlbezirkes – bezeichnend für die anstehenden Existenzkämpfe seiner Partei. Seine Aufforderung, dem Parteikollegen Manuel Valls das Kreuz zu verweigern (und stattdessen den linksradikalen Kandidaten der Partei Mélenchons zu unterstützen) ist bezeichnend für die interne Zerfahrenheit des Parti socialiste.

Ein durchschnittlicher REM-Abgeordneter ist 45 Jahre jung und kann eine Münze werfen, um sein Geschlecht zu bestimmen. Knapp die Hälfte der Anhänger Macrons im Parlament sind Frauen. Diese Besonderheiten, gepaart mit der Dominanz der Partei, färben auf die Gesamtstruktur des Parlaments ab, dem über 75 Prozent der neu gewählten Volksvertreter in der Legislaturperiode 2012–2017 noch nicht angehörten; ein Parlament, das nun einen hohen Anteil an jungen Abgeordneten (im Schnitt 48 Jahre) und Frauen (39 Prozent) aufweist.

Alles glänzt also, so schön neu? Alle vereint, und das mit der Stimme des Volkes im Rücken? Nicht ganz.

Die erste Quelle der Gefahr: Die schwache Opposition im Parlament

Zur ganzen Wahrheit der Wahlen in Frankreich gehört nämlich auch ein Rekordhoch der Enthaltungen. Über 57 Prozent der wahlberechtigten Bevölkerung sind in der zweiten Runde der Parlamentswahlen nicht wählen gegangen. Gerade bei der Jugend scheint die Politikverdrossenheit ihren Höhepunkt zu erreichen, drei von vier aus der Gruppe der 18- bis 24-Jährigen waren Nichtwähler.

Nichtwähler-Rekord bei den Wahlen in Frankreich! Doch gerade Politik-verdrossenheit verpflichtet zur Wahl, meint Hannes Weisbecker, Politikstudent an der London School of Economics. Hier geht es zu seinem interessanten Gedankenexperiment.

Zählt man den Anteil der sogenannten vote blanc / nul (ungültige Stimmen, die immerhin 11 Prozent der Wahlzettel ausmachen) hinzu, nimmt das Ausmaß eine erschreckende Gestalt an: Gerade einmal 38 Prozent der Bevölkerung gehören der Gruppe der exprimés an, die ihrem politischen Willen in Form eines gültigen Kreuzes Ausdruck verliehen haben. Sicherlich, von diesen exprimés haben 43 Prozent im Sinne Macrons gestimmt und die Kandidaten seiner Partei gewählt. Bezieht man jedoch die Nichtwähler und die ungültigen Stimmen in die Rechnung mit ein, klingt das Ergebnis weniger beeindruckend: Gerade einmal jeder sechste Bürger der gesamten wahlberechtigten Bevölkerung hat der Partei des Präsidenten sein Vertrauen ausgesprochen. Die Vertreter des Volkes innerhalb des Parlaments spiegeln nicht im gleichen Maße die Stimmung der Bevölkerung wider, das Prinzip des Mehrheitswahlrechtes im Land trägt auch dazu bei. Die Opposition in der politischen Arena ist nach den Wahlen des Unterhauses bescheiden. Doch genau aus dieser Schwäche entsteht die Gefahr radikalen Widerstands jenseits der politischen Institutionen.

Die zweite Gefahr: Der Frust der Franzosen

Macrons erster Gesetzesentwurf war ein symbolischer Schritt auf die frustrierten Bürger Frankreichs zu: Er trägt den heroischen Namen Moralisation de la vie publique –  die Moralisierung der öffentlichen Hand. Das Projekt soll unter anderem die Beschäftigung von Verwandten in administrativen Funktionen regeln – es gibt wohl kaum eine bessere juristische Antwort auf Penelopegate als dieses Gesetz. Es beinhaltet zudem auch Maßnahmen gegen Interessenskonflikte von Abgeordneten und auch hier darf gemutmaßt werden, dass Fillon als Muse fungierte. Er, der nur wenige Tage vor seinem Amtsantritt 2012 eine Beratungsfirma namens 2F gegründet hatte. Binnen drei Jahren brachte diese ihm ca. 750.000 Euro ein. Macron buhlt um die Unterstützung der Bevölkerung vor den einschneidenden Arbeitsmarktreformen. Diese Unterstützung wird er nur bekommen, wenn die Bevölkerung das Gefühl hat, dass die Politiker auch und vor allem endlich einschneidende Änderungen erfahren, ihre Privilegien abgeschafft werden und sie nicht über dem Gesetz stehen.

Und nun das.

Gerade jetzt, wo Ruhe einkehren sollte, jetzt, wo die wichtigen Wahlen vorbei sind, erschüttert der erste Skandal den Élysée-Palast. Ausgerechnet wieder eine Scheinbeschäftigungsaffäre und ausgerechnet die Partei Mouvement démocrate (MODEM) steht im Mittelpunkt der Affäre, die verbündete Partei von Macrons REM. Ironie des Schicksals: Der Gründer und Vorsitzende von MODEM, François Bayrou, wurde nach den Präsidentschaftswahlen als Justizminister im neuen Kabinett vorgestellt. Eben er ist es auch, der das Gesetz gegen Korruption vorgestellt hatte – und nun selbst wegen des Vorwurfs der Scheinbeschäftigung ins Kreuzfeuer der Justiz geraten ist. Er musste das Kabinett von Premierminister Philippe verlassen, genau wie seine zwei Parteikolleginnen Sylvie Goulard (Verteidigungsministerin) und Marielle de Sarnez (Europaministerin).

Richard Ferrand, gerade zum Präsidenten der Parlamentsgruppe von Macrons Partei gekürt, war vor einigen Tagen noch Minister von Edouard Philippe, zuständig für den Bereich Stadtplanung, bevor auch er in den Fokus der Justiz geriet und zurücktrat. Wie bei Fillon scheint die Lebensgefährtin eine Rolle zu spielen. Die Skepsis der Bürger gegenüber ihren Politikern scheint berechtigt, das Weiß der Westen der Anhänger Macrons hat schon einen leichten Grauschleier erhalten. Voilà: die zweite Futterquelle für eine Revolte gegen die Révolution Macrons.

Die Gefahr: eine explosive Mischung

Innerhalb der staatlichen Arena brodelt das Gemüt einer machtlosen politischen Opposition. Außerhalb der staatlichen Arena brodelt eine zusehends frustrierte Bevölkerung. Aus beiden Situationen kann eine explosive Situation hervorgehen. Der Politologe Adolf Kimmel, Experte für Frankreich und ehemaliger Vorsitzender der Deutschen Gesellschaft für Politikwissenschaft, beschreibt eine mögliche Gefahr folgendermaßen:

Wenn es Widerstand geben wird, dann außerhalb der politischen Institutionen. Proteste der Straße, wie es sie schon 1995 bei den Plänen Alain Juppés gab, sind nicht undenkbar […]. Das ist meines Erachtens das größte Hindernis für Macrons Reformpolitik. Es wird darauf ankommen, dass er es geschickt macht.

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So wie Juppé scheiterten auch Jacques Chirac und sein Premierminister Villepin 2006 mit ihren Plänen eines neuen Arbeitsgesetzes an den Protesten der Straße. Es waren Schüler und Studenten, die damals gegen den Contrat Première Embauche (CPA) protestieren, eine Mehrzahl aus jener Gruppe der 18- bis 24-Jährigen, von denen Anfang Juni 75 Prozent nicht wählen gegangen sind. Auch damals hatte Chiracs Union pour un mouvement populaire eine absolute Mehrheit in der Nationalversammlung.

Als Premierminister wollte Juppé im Jahr 1995 Sozialreformen anstoßen, vor allem die soziale Sicherheit und die Altersversorgung waren davon betroffen. Daraus resultierte ein 3-Wochen-Streik, das öffentliche Verkehrssystem wurde lahmgelegt, auch die Post, staatliche Bildungseinrichtungen sowie das Gesundheitswesen beteiligten sich. Die Proteste der Bevölkerung zwangen die Regierung, ihre Pläne zu verwerfen.

Der Präsident muss die Unterstützung der Bürger erhalten, sonst droht er mit seinen Arbeitsmarktreformen an der Opposition der Straße zu scheitern. Diese Unterstützung ist mehr als ungewiss, auch wenn die Wahlergebnisse zunächst einen anderen Eindruck erweckten.

Das Geschick Macrons und das Verbot des Scheiterns

Macron hatte sich bisher geschickt verhalten. Die Wahl des konservativen Édouard Philippe zum Premierminister war ein Signal an die konservative Partei Les Républicains, welche ihm bis dato die Unterstützung verweigert hatte. Zudem scheint er das Spiel der Medien um Bilder und Symbole zu beherrschen. Sein Händeschütteln mit Trump beim Nato-Gipfel ging um die Welt und wurde als Zeichen der Stärke interpretiert. Sein Plädoyer für die Bedeutung des Klimaschutzes, eine Antwort auf Trumps Ausstiegsambitionen aus dem Pariser Abkommen, endete mit den an den Wahlslogan Trumps angelehnten Worten Make Our Planet Great Again, und sein später dazu verfasster Tweet wurde so oft geteilt wie keine andere Nachricht eines französischen Accounts zuvor.

Der Weg schien frei für fünf erfolgreiche Jahre als Präsident. Doch der Weg beginnt steinig. Nun steht der erste große Test an, die Arbeitsmarktreformen. Seine Ideen für die Zukunft der arbeitenden Gesellschaft gehen deutlich weiter als die seines Vorgängers François Hollande. Macron plädiert für ein liberales Marktverständnis. Der Arbeitsmarkt soll im Zeichen der Flexibilisierung eine deutsche Note erhalten, Unternehmen sollen unabhängiger über Arbeitszeit und Löhne verhandeln dürfen. Zahlreiche Arbeitsplätze würden an Sicherheit verlieren. Wenn Macron nicht beweisen kann, dass er den Skandalen und ungerechten Vorzügen seiner Kollegen ein Ende bereiten kann, wird die Bevölkerung rebellieren und die ehrgeizigen, einschneidenden Reformen für das Land nicht akzeptieren, Hand in Hand mit den protestfreudigen Gewerkschaften Frankreichs. Der aufblühende MODEM-Skandal trägt nicht gerade dazu bei, unter den Bürgern Frankreichs das Gefühl eines sauberen politischen Neustarts zu verbreiten. Und wenn sich Macron nicht auf französischem Boden durchsetzen kann, werden auch seine ehrgeizigen Reformpläne für Europa misslingen.

Macron könnte gnadenlos scheitern. Bloß: Er darf nicht scheitern. Es steht zu viel auf dem Spiel. Für Europa, für Frankreich. Denn:

Wenn drei unwählbar erscheinen, freut sich die Vierte.

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