Ich sehe was, was du nicht siehst

Bei den Protesten rund um den G-20 Gipfel war Gewalt omnipräsent. Vermummt, schwarz gekleidet und teilweise hoch aggressiv zeigte sich die Staatsgewalt in Hochform. Wer jetzt vom „Linken Terror“ redet, übertreibt maßlos und legitimiert unverhältnismäßige Polizeigewalt.

Aleppo, Donezk, Mossul – Hamburg!?

Wer als Zuschauerin am politisch und massenmedial aufgebauschten Thema Linksextremismus teilnimmt, dem graust mittlerweile schon dann, wenn das Wort „Schwarzer Block“ nur fällt. Das ist verständlich. Eine gut organisierte paramilitärische Einheit soll die Hölle über Hamburg gebracht haben. Für den Stern war die Lage „apokalyptisch“, er berichtet über die „Schlacht“ in der „Kampfzone“ Hafenstraße, von einer „Armee in schwarzer Uniform“, von „schwarzen Kämpfern“. Diese angsteinflößende Armee muss auch Stefan Dammann vom Weserkurier erschüttert haben, denn ihm zufolge herrschten in Hamburg „kriegsähnliche Zustände“. Klar denkt die Leserin dann gleich an Afghanistan, ein Land im „kriegsähnlichen Zustand“ (Theodor zu Guttenberg). Eine Sandra P. wird derweil in der Zeit zitiert: „Es war wie im Krieg.“ Als André Trepoll, Fraktionsvorsitzender der Hamburger CDU, im Senat schilderte, was seine „Kollegin“ von einer „älteren Hamburgerin“ erfahren haben will, ergibt sich ein eindeutiges Bild Hamburgs in den Zeiten von G20. Die Hamburgerin fühlte sich an „ihre Jugendzeit im Krieg erinnert“, so Trepoll.

Ein lauer Sommertag im „kriegsähnlichen Zustand“, Foto von Benutzer JouWatch (CC BY-SA 2.0)

Der Feind steht links – vorwärts, marsch!

Welche Aspekte des Zweiten Weltkrieges ihr dabei wieder ins Bewusstsein gesprungen sind, führt Trepoll nicht aus. André Trepoll selbst spricht nicht von Krieg, sondern von „Linkem Terror“, „marodierenden, brandschatzenden Banden“, die die „Hamburger Seele verletzten“ und die „Stadt misshandelten“. Noch während man darüber nachdenkt, welches Unheil linker Terror über Menschen brachte, ja bringt, und wo genau solcher Terror in Hamburg gewütet haben soll, sind Trepoll und Kameraden schon einen Schritt weiter in ihrer Analyse. Der Feind ist längst ausgemacht. Obschon selbst der Stern schrieb, „die Vermummten gehorchen keiner Zentrale“, trommelte Trepoll unbeeindruckt weiter, „Die Flora muss Weg!“, denn sie sei als „Biotop und Keimzelle des Linksextremismus“ zentraler „Ausgangspunkt für diese verbrecherische[n] Taten“ gewesen. Auch der Leipziger Polizeichef Bernd Merbitz verlangt mit Blick auf die linke Szene in Sachsen Härte: „Die Zeit des Redens muss vorbei sein!“ Armin Schuster, CDU-Bundespolitiker und ausgebildeter Polizist, meinte indes, die „Rigaer Straße [in Berlin] muss konsequent dichtgemacht werden.“ Wenn Bundesinnenminister Thomas de Maizière (CDU) dann wieder die Platte auflegt, „linke Chaoten“ seien „Extremisten, genauso wie Neonazis und islamistische Terroristen“, während Kanzleramtschef Peter Altmaier (CDU) twitterte, der „Terror in Hamburg“ sei „so schlimm wie Terror von Rechtsextremen und Islamisten“, kann das Urteil über linke Strukturen in Berlin, Leipzig, Hamburg und anderswo gar nicht anders ausfallen. Da linksterroristische Gefährder „gar nicht erst Demonstrationsorte erreichen“ sollen, will de Maizière ihnen elektronische Fußfesseln anlegen und verschärfte Meldeauflagen durchsetzen. Denn gegen Linksterrorismus, wenn es ihn denn in der Bundesrepublik gibt, soll Haltung gezeigt werden. So wie sie der sächsische Innenminister und Chef der Innenministerkonferenz Markus Ulbig (CDU) zeigt, der sich schon jetzt Gedanken macht, „wie gewisse Bündelungen und Konzentrationen zerschlagen werden können“. Ja, der Ulbig, der als Innenminister die Gruppe Freital, Heidenau und anderen rechten Terror in Sachsen zu verantworten hat, sich nach der Einheitsfeier im Oktober 2016 mit „Volksverräter“-schreienden Pegida-Protagonisten traf und bereit war, mit ihnen zu „diskutieren, damit es am Ende vielleicht sogar Veränderungen geben kann“ – Ulbig will nun konsequent gegen Conne Island und Co vorgehen. Die CDU macht mobil. Welcome to Hell.

Die rote Gefahr. Um linke Politik zu diskreditieren, war der CDU noch keine Kampagne zu blöd. Wahlkampfplakat von 1953, Urheber: CDU (CC-BY-SA 3.0 DE)

Hölle, Hölle, Hölle

Das Motto „Welcome to Hell“ der ersten NoG20-Demonstration am Donnerstag wird in diesem Schlachtgetümmel Aufhänger einer aberwitzigen Argumentation, die davon ausgeht, Gewalt sei schon mit dem Wort Hölle angekündigt worden. Auf den ersten Blick einleuchtend, denn immer wenn Wolfgang Petry („Hölle, Hölle Hölle“) und AC/DC („Highway to Hell“) auf Dorffesten und in Kleinstadtdiskos gespielt werden, drehen viele tatsächlich durch, hauen sich auf die Fresse, zerlegen Privateigentum, kotzen sich voll. Wie im Film Der Exorzist. Mal im Ernst. Das Demothema war mehrdeutig und wer meint, „Welcome to Hell“ war die Einladung zu Gewalt, könnte recht haben. Der Hamburger Rapper Jonny Mauser hingegen meinte im mittlerweile berüchtigten Mobilisierungssong zum G-20-Protest, Hölle sei die Polizeipräsenz, sei, wenn Erdogan, Putin, Trump und andere lupenreine Demokraten in Hamburg verweilen, sei der in der Luft liegende Ausnahmezustand in Hamburg. Das seien die Gründe, warum „jeder hier statt ‚Moin‘ jetzt ‚Welcome to the Hell‘ sagt“, so Mauser. Dass im Video vermummte Gestalten militanter Ungehorsam zelebrieren, geschenkt.

Generalverdacht für die einen – Generalamnestie für die anderen

Aber Militanz, ziviler Ungehorsam und Vermummung ist Deutschen suspekt. Deswegen musste auch die angemeldete Demonstration „Welcome to Hell“ verhindert werden. Klar, oder? Wer sich vermummt, ist per se verdächtig. Dass Vermummung als Element des Rechts auf informationelle Selbstbestimmung ein Kennzeichen liberaler Gesellschaften ist, wird dabei leicht übersehen. Wer sich vermummt, hat etwas zu verbergen: eine Identität. In einer seltsamen Uminterpretation durch bundesdeutsche Politik soll genau das aber einer „offenen Gesellschaft“ widersprechen. Wolfgang Bosbach denkt sicherlich auch so, klagte er doch schon „mitteleuropäische Umgangsformen“ gegenüber der notorischen Soziologin Jutha Ditfuth bei Menschen bei Maischberger ein. Nutzlos. Statt sich „mitteleuropäischen“ Sitten anzupassen, präsentierte Ditfurth ständig eine verpönte Perspektive, die nicht im Repertoire des ehemaligen CDU-Funktionärs Bosbach auftaucht. Es ist unerträglich, mit Ihnen in einer Runde zu sitzen“, raunte Bosbach deswegen Ditfurth an. Als sie sich dann noch anmaßt zu sagen, dass genügend Videoaufnahmen existieren, die unrechtmäßige Polizeigewalt dokumentieren, wird sie auch von Joachim Lenders angeschnauzt. Der Polizeibeamte Lenders, der für die CDU in der Hamburger Bürgerschaft sitzt und außerdem stellvertretender Bundesvorsitzender und Hamburger Landesvorsitzender der Deutschen Polizeigewerkschaft ist, muss die Aussage Ditfurths schon aus karrieretechnischen Gründen als „dummes Gesabbel“ und „beleidigend“ abtun, ohne auf die Vorwürfe einzugehen. Später steht Bosbach auf und geht, weil Dithfuth durch Kritik an der Polizei „in ihrer Argumentation unerträglich“ für ihn ist.

Das Recht auf informelle Selbstbestimmung sollte auch und gerade auf Demonstrationen gelten.

Vertraut der Polizei, auch wenn’s mal weh tut

Wenn schon in Talkshows, dann müssen auch auf der Straße mitteleuropäische, na, sagen wir es ruhig: deutsche Sitten herrschen. Da bleibt Vermummung halt eine „Straftat“, wie Wolfgang Bosbach rechtlich richtig konstatierte. Gleichzeitig will er aber auch suggerieren, dass Polizistinnen, ausgerüstet mit Teleskopschlagstöcken, Pfefferspray und deutschen Sitten, prinzipiell keine unrechtmäßige Polizeigewalt ausüben können. „Atemberaubend“ sei, so Bosbach, wenn „auch nur der Ansatz“ verfolgt werde, die Polizei könnte „eine Mitschuld für diese Exzesse“ tragen. Selbstredend ist Bosbach „weit davon entfernt, irgendwelche Schuldzuweisungen vorzunehmen“, wie er selbst beteuert. Aber noch im gleichen Satz schiebt er hinterher, „verdammt nochmal, Schuld haben die Chaoten, die Kriminellen, die Schläger.“ Würde er Kriminelle und Schläger auch auf Seiten der Polizei ausmachen, würde man seiner Kritik der Gewalt fast zustimmen können. So aber bleibt er auf dem polizeilichen Auge blind und seine „Kritik“ entlarvt sich selbst als Legitimierung von Polizeigewalt.

Gewalt gegen „den“ Staat

Die ARD-Moderatorin Tina Hassel fragte kürzlich im pseudointeraktiven ARD-Format „Frag selbst“ Sahra Wagenknecht (Die Linke), ob sie Gewalt gegen „den“ Staat, ein Abstraktum sondergleichen, prinzipiell ablehnt. Mit ihrem „Ja“ dürfte sie sich mit Bosbach in der Sache einig sein. Gewalt gegen „den“ Staat müsse gemäß Wagenknecht prinzipiell abgelehnt werden. Wenn das zutrifft, dürften sich kurdische Widerstandsgruppen nicht mehr gegen Mörderbanden des Islamischen Staates wehren. Oder gegen türkisches Militär. Wenn das zutrifft, wäre die Gewalt der ukrainischen Aktivistinnen des Euromaidan gegen Janukowytschs Polizei ebenso abzulehnen wie die Gewalt im arabischen Frühling, denn auch dort haben sich Menschen gewaltsam gegen die Staatlichkeit gewehrt, gegen verstaatlichten Terror aufbegehrt. Wollen Bosbach und Wagenknecht wirklich Iranerinnen verurteilen, die sich gegen ein staatliches Terrorregime wehren? Wahrscheinlich nicht. Die Frage, ob es gerechtfertigt sein kann, gegen „den“ Staat Gewalt anzuwenden, kann in dieser Abstraktheit ganz ohne weitere Konkretisierung gar nicht beantwortet werden.

Halb richtig ist ganz falsch

In der Bundesrepublik jedenfalls stellen sich solche existenziellen Fragen noch nicht, auch wenn maoistische Volkskrieger und anarchistische Stadtguerillas sich in Verhältnissen wähnen und herbei wünschen, in denen die Bundesrepublik eindeutig terroristisch, Gewalt gegen diesen Staat also legitim wäre. Gerade weil in der Bundesrepublik solche Verhältnisse noch nicht herrschen, kann und muss nicht-staatliche wie staatliche Gewalt kritisiert werden. Wer aber staatliche Gewalt anprangert, die Schlimmeres verhindert und die insurrektionalistische Infamie nicht sehen will, wird seines blinden Flecks ebenso wenig gewahr wie diejenigen, die gewalttätige Linksterroristen dort ausmachen und schon verurteilen, wo tatsächlich Aktivisten der Interventionistischen Linken mit Mitteln des zivilen Ungehorsams gegen Kapitalismus protestieren. Diese Borniertheit wird bei denen offenkundig, die brutal prügelnde Polizistinnen oder „linke“ Volkskriegerinnen als heldenhafte Ausputzer der deutschen Gesellschaft abfeiern, und genau da zeigt sich auch, dass solche Borniertheit so oder so Teil eines gewalttätigen Kollektivs sein will. In beiden Fällen wird eine Gewalt verurteilt und Anlass, um eine andere Gewalt von der Kette zu lassen.

Gewalt erzeugt Gegengewalt

Müßig zu fragen, was schlimmer ist: Gewalt, die ausgeht um Gewalt zu unterbinden – oder Gewalt, die als automatisierter Selbstzweck vor sich hin prozessiert. Denn der Zweck politisierter Gewalt ist in ihrem Selbstverständnis immer das Austreiben, Beenden, Einhegen von konkurrierender Gewalt. Diese paradoxe Struktur, Gewalt durch Gewalt zu beenden, wird aufgelöst und entfaltet durch den Einschub, dass es legitime und illegitime Gewalt gebe. Und wie wir immer wieder an den Statements der Innen- oder Verteidigungsministerien sehen können, wird das „Legitimieren von Gewalt zu einem Dauergeschäft der Politik.“ (Niklas Luhmann) Dies gilt nicht nur für bürokratisch-administrative Politik und die ihnen mittelbar unterstellten Exekutivbehörden, sondern auch für eine politisierte Bevölkerung, die sich immer wieder fragt (oder fragen könnte, ja müsste), ob Staatsgewalt bzw. Polizeigewalt in bestimmten Fällen oder in toto legitim oder illegitim ist. Bei der Beantwortung der Frage können sich dann die Vorzeichen der Staatsgewalt und der Gewalt gegen Staatsgewalt verändern: Wenn Staatsgewalt illegitim wird, kann Gewalt gegen Staatsgewalt legitim werden. Wann allerdings Gewalt gegen den Staat legitim ist, bleibt Abwägungssache. Im Grundgesetz wird „diese Ordnung“ zur ultimativen Legitimitätsquelle für Gewalt, auch für den Staat, denn sie gelte es zu schützen. „Gegen jeden, der es unternimmt, diese Ordnung zu beseitigen, haben alle Deutschen das Recht zum Widerstand, wenn andere Abhilfe nicht möglich ist.“ Für andere ist „diese Ordnung“ und die sie schützende (Staats-)Gewalt illegitim, Gewalt dagegen also ultimativ gerechtfertigt. So schreibt Mikhail Bakunin, einer der einflussreichsten anarchistischen Theoretiker, für diese Überlegungen folgerichtig: „Um erfolgreich gegen militärische [auch polizeiliche] Gewalt kämpfen zu können, die künftig vor nichts mehr Achtung hat und zudem noch mit den schrecklichsten Vernichtungswaffen ausgerüstet und bereit ist, bei der Zerstörung nicht nur von Häusern und Straßen, sondern von ganzen Städten mit all ihren Bewohnern von ihnen Gebrauch zu machen, um also gegen eine so wilde Bestie ankämpfen zu können, muss man eine andere, nicht weniger wilde, dafür aber gerechtere Bestie haben: die organisierte Revolte des ganzen Volkes, die soziale Revolution, welche genauso erbarmungslos ist wie die militärische Reaktion und vor nichts zurückschreckt.“

Die erfolgreichste Gewaltakkumulation: der staatliche Gewaltmonopolist.

Das Problem ist die Lösung – die Lösung ist das Problem

Diese Gesellschaft hält Gewalt immerwährend vorrätig, weil und solange die Verfassung der Gesellschaft eine gewalttätige ist. Polizeigewalt und linksradikale Gewalt ziehen nicht nur am gleichen Strang, wenn auch in unterschiedliche Richtungen, mit unterschiedlichen Zielen und Mitteln, sondern sind zugleich Beleg einer Gesellschaft, die keine andere Alternative sieht, als Gewalt mit Gewalt auszutreiben – statt die Bedingung der Möglichkeit und Notwendigkeit von Gewalt abzuschaffen. Und wie ein Indiz dafür, dass diese Gesellschaft noch gar nicht aus dem Naturzustand herausgetreten ist, setzt sich Naturrecht durch und bestimmt zum Herrschen den, der am effektivsten die größte Gewaltsamkeit akkumulieren und anwenden kann. So setzt sich „natürlich“ der staatliche Gewaltmonopolist, ausgerüstet mit Maschinenpistolen und Blendgranaten, gedeckt von Scharfschützen und Räumpanzern, gegen Steine, Zwillen und Barrikaden durch – zuletzt in Form eines Spezialeinsatzkommandos mit der „Freigabe zum Schusswaffeneinsatz“ (Sven Mewes, SEK-Kommandoführer). Wie immer kassiert die größte Gewalt die kleineren Gewalttätigkeiten. Wir sahen in Hamburg eine brechtsche Aufführung von Hobbes‘ „Leviathan“, und nach einer kurzen Werbepause wird sie wiederholt werden.

Schwer bewaffnete SEK-Beamte bei der Kreuzung Feldstraße in Hamburg während des G20-Gipfels, Foto von Thorsten Schröder (CC BY 2.0)

Kann nicht sein, was nicht sein darf ?

Wem an Gewaltlosigkeit gelegen ist, muss sowohl staatliche als auch nicht-staatliche Gewalt benennen und ihre Argumentation, ihre Legitimitätspostulate offenlegen. Und zweifeln. Alles andere ist Heuchelei, die die insgeheime Freude über und stilles Gutheißen von Gewalt nur unzureichend kaschieren kann. Genau diese Heuchelei und hämische Freude über polizeiliche Gewalt scheint im Moment politisch und massenmedial zu grassieren, wenn zwar über Krawalle und Gewalt von Linksradikalen, Partyvolk und Schaulustigen geredet, Polizeigewalt aber systematisch ausgeblendet oder schon der Vorwurf aus machtpolitischem Kalkül oder ideologischer Verblendung verworfen wird. Für André Trepoll ist das Beklagen von Polizeigewalt seitens Linker und Grüner „einfach schäbig“. Denn schäbig ist, wer staatliche Behörden kritisiert und damit den „eigenen Leuten“, dem Leviathan, in den Rücken fällt. Man redet von Denunziation, wenn Polizeigewalt benannt wird, und will zugleich leugnen, sie habe stattgefunden. Olaf Scholz (SPD), Hamburger Bürgermeister, vollführt diesen psychischen Trick in einem Satz: „Polizeigewalt hat es nicht gegeben, das ist eine Denunziation, die ich entschieden zurückweise.“ Mittlerweile wurde dieser Ausspruch wortklauberisch relativiert, obwohl man sich in der Sache einig bleibt. Hamburgs Innensenator Andy Grote (SPD) meint, dass niemand behauptet habe, alle Polizeikräfte seien immer fehlerfrei vorgegangen. Als Polizeigewalt aber könne er die Übergriffe der Polizei nicht qualifizieren, denn, so Grote, „Polizeigewalt unterstellt strukturelles rechtswidriges und gewalttätiges Eingreifen der Polizei.“ Und das habe es in dieser Absolutheit in Hamburg nicht gegeben. Der Republikanische Anwältinnen- und Anwälteverein (RAV) sieht das anders. „Während der G20-Proteste in der vergangenen Woche haben staatliche Stellen systematisch Grundrechte verletzt und rechtsstaatliche Prinzipien außer Kraft gesetzt.“ Was sich dem Verein in Hamburg durch Zeugenaussagen und Bildaufnahmen gezeigt hat, sei eine sich „offensichtlich im rechtsfreien Raum wähnende Exekutive, was zu einem kaum vorstellbaren Ausmaß rechtswidriger Polizeigewalt geführt hat.“

Augen zu und durch

Die emotionale Präferenz liegt, mal wieder, überwiegend beim staatlichen Gewaltmonopolisten namens „Deutschland“ und seinen Angestellten. Polizeigewalt wird dementsprechend meist ausgeblendet, neutralisiert. Wie beim Abwehrmechanismus gegenüber eigenen Gewaltphantasien durch Verdrängung wird die Thematisierung von Polizeigewalt gesellschaftlich marginalisiert, wäre das Offenlegen und Anerkennen doch andernfalls das bewusste Eingeständnis, diese Gesellschaft müsse „naturgemäß“ qua ultima ratio Gewalt diszipliniert und zusammengehalten werden. Oder Polizeigewalt wird rationalisiert. Denn wie viel leichter und unbeschwerter lässt sich ein gewalttätiges Spektakel zelebrieren, wenn ein imaginiertes feindliches Kollektiv, ein „Schwarzer Block“, als Sündenbock herhalten kann, auf den man moralinsauer mit erhobenen Zeigefinger nach Lust und Laune schimpfen und schlagen kann. Mit seiner Delegitimierung durch gemeinschaftlich geforderte und vollzogene Abgrenzung, Ächtung und Verurteilung kann Polizeigewalt noch besser legitimiert werden. Doch selbst der Umgang gegen verfemtes anarchistisches Wüten mittels polizeilichen Spezialeinsatzkommandos stößt irgendwie noch bitter auf, weil es Ausweis der gewalttätigen Verfassung dieser Gesellschaft im Ganzen ist. Die ritualisierte „klare Distanzierung“ vom scheinbaren Kollektivsubjekt „Schwarzer Block“, mit dessen Gewalt Deutschland und Hamburg nichts zu tun haben will, wird auch gefordert, um demnächst noch hemmungsloser und undifferenzierter draufschlagen zu können. So schafft man sich en passant das leidige Thema „Unverhältnismäßigkeit der Mittel“ gleich mit vom Hals. Offensichtlich ungerechtfertigte Polizeigewalt wird teils verdrängt, teils mit dem Fingerzeig auf den „Linken Terror“ prophylaktisch oder nachträglich gerechtfertigt. Die Polizei wird gefeiert und bewundert, weil sie die harte „Arbeit“ durchgestanden hat und dabei noch so anständig geblieben ist. CDU-Mann Trepoll gibt die entsprechende Parole aus: Die Polizei hätte nichts anderes als volle „Sympathie und Solidarität“ verdient, denn sie habe nun mal in Hamburg gute Arbeit geleistet. Punkt. „Da darf es keinen anderen Blick drauf geben.“ Alles andere wäre auch Einsicht, Anerkennung und damit Eingeständnis.

Nichts sehen, nichts hören, nichts sagen?, Foto erstellt von Walther Sell (CC BY-SA 3.0)

Polizeigewalt bei den G-20 Protesten

Irgendwie scheint man in einer falschen Welt zu leben, wenn Olaf Scholz (SPD) bis de Maizière (CDU), Hans-Ulrich Jörgens bis Roland Tichy offenbar wirklich glauben, in Hamburg habe es keine rechtswidrige Polizeigewalt gegeben, während in sozialen Medien unzählige Videos und Fotos kursieren, deren Charakterisierung als „Unverhältnismäßigkeit polizeilicher Mittel“ ein zynischer Euphemismus für schwere Körperverletzung durch staatliche Behörden ist. Wer will, kann das alles sehen. Zum Beispiel wie einige Berliner Hundertschaftler an einer Protokollstrecke stehende Demonstranten ohne Vorwarnung niederschlugen, auf sie einprügelten und herumtrampelten, und zügig wieder verschwanden, während die Opfer noch am Boden lagen. Oder wie ein Demonstrant, der, nachdem er einen Hamburger Hunderschaftler fragte, ob er noch durch die Polizeikette schlüpfen kann, unvermittelt einen Faustschlag ins Gesicht bekam. Als er daraufhin Name und Dienstnummer des Polizisten wissen wollte, drohte ihm dieser, „verpiss dich sonst kriegst du gleich noch eine.“ Auf die vorderen Reihen des „Lila Fingers“, bei dem ein Konsens getroffen wurde, der der Polizeiführung mit Sicherheit bekannt war, nur zivilen Ungehorsam zu praktizieren, wurde ohne ersichtlichen Grund brutal eingeschlagen, obwohl der Finger längst von der Polizei gestoppt und „befriedet“ war. Die ausufernde Polizeigewalt traf auch Unbeteiligte und Journalistinnen. Eine Person, die mit erhobenen Armen neben einer Polizeikette stand und möglicherweise darauf wartete, einfach durchgelassen zu werden, bekommt unvermittelt von einem Polizisten einen so heftigen Schlag in die Seite, dass er unter Schmerzen zu Boden fällt und man fast sicher ist, dass der Beamte ihm die Rippen brechen wollte. Als Journalistinnen und Umstehende gegen diese Polizeigewalt aufbegehrten und Sanitäter riefen, wurden sie mit Pfefferspray bedroht. Sollte erwähnt werden, dass sich die hier geschilderte Polizeigewalt gegen Menschen richtete, die nicht dem „Schwarzen Block“ zuzurechnen sind, von denen auch keine Gewalt ausging?

Von massiver Polizeigewalt und blinder Zerstörungswut berichten kann auch das hedonistische Bündnis Alles Allen. „Beim gezielten Angriff des USK (Unterstützungskommando) Bayern am Samstag wurden viele Menschen verletzt. Eine zierliche und friedfertige Person wurde so heftig attackiert, dass die eingesetzten Beamten ihr sowohl eine Kopfverletzung zufügten als auch das Bein brachen. Die Beamten ließen von ihren Opfern selbst dann nicht ab, als ein Großteil wimmernd am Boden lag. Stattdessen wurden sie getreten und immer wieder auf sie eingeschlagen. Das Soundsystem wurde zerstört, die Boxen aus dem Wagen gezerrt und immer wieder auf den Boden geworfen. Ein Beamter schlug mit seinem Schlagstock auf unser Mischpult und auf unser Mikrofon ein.“ Mittlerweile sammeln die Seite https://g20-doku.org und https://policebrutalityg20.wordpress.com Beweismaterial zur Polizeigewalt beim G20-Protest. Man kann nur hoffen, dass zumindest rechtlich geahndet werden kann, was politisch und massenmedial zu wenig thematisiert wird.

Für ein Ende der Gewalt

Jan van Aken (Linke) kann uneingeschränkt unterstützt werden, wenn er, entgegen dem Schwarz-Weiß-Denken von Ditfurth und Bosbach, seine Hoffnung bei Maischberger kundtut, dass „doch wohl noch möglich sein muss, sowohl die Krawallos von Freitag Nacht, als auch die Polizeiführung und den Senat zu kritisieren.“ Wenig später zerstört Joachim Lenders diese Hoffnung. Er findet die Kritik an „Polizeiführung, Polizeiführern, Polizeipräsidenten unerträglich“. Dass Aken darauf nüchtern antwortet, die Kritik „ist aber wahr“ und insofern berechtigt, verliert im Kugelhagel des stakkatoartigen Gebrabbels von Lenders seine Wirkung. Genau wie die individuellen Erfahrungen von Polizeigewalt inmitten des kulturindustriellen Spektakels und politischer Legitimierungswut ihre Bedeutung verlieren, obwohl sie ebenso wahr sind. Zur Polizeigewalt gehört auch, dass Betroffene vor Gericht selten eine Chance haben und Polizistinnen nach einer Strafanzeige fast nie verurteilt werden – illegitime Polizeigewalt wird damit nachträglich legitimiert und man braucht sich deswegen nicht wundern, wenn bei vielen von Polizeigewalt Betroffenen Polizistinnen nicht mehr als „Freund und Helfer“ wahrgenommen werden. Um nicht falsch verstanden zu werden: Ich bin kein Pazifist und sehe durchaus ein, dass Gewalt notwendig sein kann. Ich sehe die Notwendigkeit der Gewalt zur Verhinderung einer gesellschaftlichen Ausweitung und Radikalisierung von Gewalt, als Widerstand oder zur Notwehr ein. Ich wehre mich nur dagegen, Gewalt als Merkmal der menschlichen „Natur“, ewige Notwendigkeit und als normales Kommunikationsmittel zu begreifen. Um Gewalt zu einen Anachronismus werden zu lassen, braucht diese Gesellschaft sicherlich eine radikale Transformation. Doch eine Gesellschaft ohne Gewalt ist möglich – und notwendig.

Ein Gedanke zu „Ich sehe was, was du nicht siehst“

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