Ihr seid nicht das Volk! Europäische Ideen gegen rechtspopulistische Propaganda

Grenzkontrollen? Volksgemeinschaft? Heim ins Reich? Neeein, danke! Wir können neue Ideen von Politik, Staat und Kultur entwickeln, um Europa als solidarisches Projekt neu zu erschaffen.

Die Schnelligkeit, mit der 2016 eine böse politische Überraschung die nächste jagte, war bemerkenswert. Es wurde viel darüber diskutiert, wie man mit der Formierung einer autoritären Internationalen oder den Wahlsiegen rechtspopulistischer Parteien umgehen sollte. 2017 ist ebenfalls ein bedeutendes Wahljahr, in dem rechte Parteien in den Niederlanden, Frankreich und Deutschland die Möglichkeit haben große Erfolge heimzufahren.

Gibt es liberale oder linke Visionen, Bewegungen oder Parteien, die jenen Wählern eine glaubhafte Alternative bieten können, die mit dem Status Quo unzufrieden sind? Oder haben sich die liberalen Demokratien müde gelaufen und haben nur noch Figuren wie Angela Merkel, Hillary Clinton, David Cameron, François Hollande oder Mariano Rajoy anzubieten, die emblematisch für ein „business as usual“ stehen und deren größte Versprechungen sind, dass es kommenden Generationen vielleicht und unter günstigen Umständen nur etwas schlechter gehen wird als ihren Eltern?

Wie lässt sich eine Alternative zu unserer Gegenwart denken, die Menschen begeistern kann und nicht auf Angst und Ausgrenzung aufgebaut ist? Wie lässt sich also – um zwei Ausdrücke Ernst Blochs aufzugreifen – mit „militantem Optimismus“ eine „konkrete Utopie“ entwerfen? Dies sind wohlgemerkt offene Fragen, über die wir uns jedoch unterhalten sollten.

Populismus

Populismus – das könnte die Überschrift für das Kapitel 2016 im Buch der Menschheit sein. Man liest von ihm überall. Jeder weiß scheinbar intuitiv, wen man damit betiteln kann – von Yanis Varoufakis über Beppe Grillo hin zu Victor Orbán und Beatrix von Storch. Doch was genau verbindet diese verschiedenen Politiker eigentlich? In der wissenschaftlichen Literatur zu populistischen Bewegungen findet man zahlreiche widerstreitende Theorien, welche Merkmale das Phänomen charakterisieren.

Bereits seit über zehn Jahren wird heftig darüber diskutiert, ob es einer linkspopulistischen Gegenbewegung zum Rechtspopulismus bedarf, wie es prominent die Politikwissenschaftler Ernesto Laclau und Chantal Mouffe vertreten haben. Die Antwort auf diese Frage hängt stark davon ab, wie man dieses Phänomen definiert.

In diesem Artikel beziehe ich mich vornehmlich auf Ausarbeitungen des Politikwissenschaftlers Jan-Werner Müller. Er warnt davor den Begriff zu überdehnen und ihn beispielsweise für all jene zu benutzen, die Eliten kritisieren, politische Zusammenhänge unzulässig vereinfachen oder deren Überzeugungen einem gegen den Strich gehen. Vielmehr sagt er, dass Populisten immer etwas sehr Spezifisches sagen:

Sie – und nur sie – repräsentieren das wahre Volk.

Daraus leitet Müller zwei schädliche Konsequenzen für die Demokratie ab: Erstens sprechen die Populisten dadurch ihren politischen Gegnern jegliche Legitimität ab, wodurch die Kritik dann nicht auf Inhalte zielt, sondern zur moralischen Charakterfrage wird. Zweitens schließen die Populisten die Menschen, die ihnen nicht folgen, vom wahren Volk aus. Dieser doppelte Ausschluss führe dazu, dass Populismus immer antipluralistisch ist.

Pluralismus

Populisten leben davon, dass sie behaupten den Willen des wahren oder einfachen Volkes zu repräsentieren. Dass das jedoch nur ein symbolisches Konstrukt sein kann, zeigt sich schon alleine daran, dass Populisten nicht zuerst Feldforschung betreiben und millionenfach Interviews führen, bevor sie in die politische Arena treten, sondern immer schon im Vorhinein wissen, was das Volk will. Gleich einem religiösen Medium, durch das die Toten mit den Lebenden sprechen, behaupten Populisten, durch sie äußere sich der Willen des Volkes ganz ohne Verzerrung durch Lügenpresse oder korrupte Eliten.

Dass es den einen Volkswillen nicht gibt, besagt hingegen das Konzept des Pluralismus. Demzufolge sollte das Leitbild legitimer, moderner Demokratien auf ein freies politisches Zusammenleben zielen, das die liberalen Grundrechte respektiert und jegliche rassische, geschlechtliche und politische Diskriminierung untersagt. Es gibt demnach nur eine Vielzahl verschiedener gesellschaftlicher Gruppen, die mit- und gegeneinander um gesellschaftliche, wirtschaftliche und politische Macht konkurrieren. Pluralismus ist demnach mehr als die sachliche Feststellung darüber, wie unsere Gesellschaften beschaffen sind. Er enthält auch eine Aussage darüber, in welchem Modus sich widerstreitende Gruppen begegnen sollten:

Zunächst einmal ist Pluralismus nur eine Kurzformel dafür, dass wir in einer modernen Demokratie damit zurechtkommen müssen, als freie und gleiche Bürger auf einigermaßen faire Weise mit Leuten zusammenzuleben, die zum Teil ganz anders sind als wir. Wir müssen akzeptieren, dass auch Menschen, deren Lebensstil uns nicht immer gefällt, Teil der Gesellschaft sind und mitbestimmen können.

In diesem Verständnis ist der Pluralismus als politische Forderung der Gegenbegriff zum Populismus. Man muss dabei beachten, dass man – will man nicht scheinheilig erscheinen – mit einer pluralistischen Perspektive in besonderem Maße jene Gruppierungen und Meinungen anerkennen muss, mit denen man nicht übereinstimmt. Nationalisten haben demnach ihren Platz in der politischen Arena, solange sie gewählt werden, auch wenn man ihrem Alleinvertretungsanspruch des Volkes entgegentreten und ihre häufig autoritäre Infragestellung demokratischer Institutionen unterbinden muss.

Wirr ist das Volk! #Tittenhitler – auf der NoFragida-Demo am 11. Mai 2015. Foto von Berichtbestatter via Wikimedia Commons, CC-by-2.0

Identitätspolitik

Populisten mobilisieren besonders durch Identitätspolitik. Die Beschimpfung von Muslimen durch Marine Le Pen oder die Hetzreden Donald Trumps gegen Mexikaner unterstreichen die Behauptung, dass diese diffamierten Gruppen nicht zum wahren Volk gehören und von der Mitsprache im Staat abgehalten werden müssen.

Die Anrufung des einen Volkes macht es verständlich, dass Populismus sehr häufig mit nationalistischer Rhetorik einhergeht. Ich würde diese beiden Phänomene jedoch klar voneinander trennen. Sich einer Nation zugehörig zu fühlen ist noch nicht per se eine politische Einstellung, sondern eine historisch gewachsene Form, wie Menschen in den letzten zwei Jahrhunderten ihre Identität konstruiert haben. „Deutsch sein“ ist in diesem Sinne etwas Ähnliches wie „katholisch sein“, „Ingenieur sein“, „Jazzliebhaber sein“ oder „introvertiert sein“. Es ist ein mögliches Versatzstück in der Geschichte, die wir über uns selber erzählen. Und für manche Menschen ist es so selbstverständlich polnisch, baskisch oder türkisch zu sein, zu fühlen und zu denken, dass es ebenso schwer sein dürfte sie davon abzubringen, wie der Versuch einem Menschen zu sagen, dass seine religiöse Gewissheit, dass Gott existiert, falsch sei.

Dass identitäre Bewegungen besonders dort erfolgreich sind, wo Menschen sich missachtet fühlen, ist ein Hinweis darauf, dass es keine erfolgversprechende Strategie ist, ihnen mit Spott und Verachtung gegenüber zu treten. Der Philosoph Axel Honneth interpretiert die Auseinandersetzungen zwischen sozialen Gruppen in diesem Sinne als einen „Kampf um Anerkennung“:

Soziale Konflikte können nicht allein als ein Kampf um Lebens- und Überlebenschancen, um die Durchsetzung des jeweiligen Gruppeninteresses verstanden werden. Vielmehr sind diese Kämpfe immer auch moralisch motiviert: In ihnen wird darum gerungen, daß sich privilegierte und unterprivilegierte Gruppen in Zukunft wechselseitige Anerkennung entgegenbringen. Unterdrückte und randständige Gruppen widersetzen sich nicht nur, weil sie bestimmte Interessen – materielle Versorgung, Gleichberechtigung et cetera – durchsetzen wollen. Sie begehren auch auf, weil sie sich durch die Gegebenheiten gedemütigt, erniedrigt, „beschämt“, das heißt in ihrer Selbstachtung getroffen fühlen.

Die Herausforderung, die es zu bewältigen gilt, ist also die Lebensweisen von Menschen, die sich in starkem Maße über ihre Nationalität definieren, anzuerkennen und gleichzeitig selbstbewusst darauf hinzuweisen, dass ihre politischen Forderungen keine privilegierte Stellung gegenüber denen anderer gesellschaftlicher Gruppen haben.

Ich sehe zwei Hindernisse, die einer Verbreitung dieser Position im Wege stehen: unsere gedankliche Verknüpfung von Nation und Kultur sowie die von Nation und Staat.

Nation und Kultur

Menschliche Identität und Kultur hängen sehr eng zusammen. Dabei hat unsere Vorstellung davon, was Kultur bedeutet, eine direkte Auswirkung darauf, wie in der Gesellschaft mit kulturellen Phänomenen, dem Eigenen und dem Fremden umgegangen wird. Unser Verständnis von Kultur ist häufig noch sehr stark von Vorstellungen aus dem 18. und 19. Jahrhundert geprägt. Johann Gottfried Herder schrieb 1774: „…jede Nation hat ihren Mittelpunkt der Glückseligkeit in sich wie jede Kugel ihren Schwerpunkt!“

Der Philosoph Wolfgang Welsch macht deutlich, dass in diesem Verständnis der Kultur als Kugel immer die Vorstellung eines sozial homogenen Volkes steckt, das sich von anderen Kulturen abgrenzt und in Konkurrenz zu ihnen tritt:

Noch immer ist es zu sehr unser Habitus, bei ‚Kultur’ gleichsam automatisch an ‚Nationalkultur ’ zu denken. Sagt man ‚Kultur’, so geht wie bei einem Bewegungsmelder gleich das Licht ‚Nation’ an, und man blickt dann in diesem Licht auf ‚Kultur’. Wir haben, wenn wir von deutscher, französischer, japanischer, indischer etc. Kultur sprechen, üblicherweise in Wahrheit Staatsgeographien, also gar nicht eigentlich kulturelle, sondern politische Gebilde im Sinn. Eine Pointe der neueren Entwicklungen aber liegt gerade darin, dass sich politische und kulturelle Geographien nicht mehr decken. Es wäre an der Zeit, den genannten Bewegungsmelder abzuklemmen.

Welsch meint mit „neueren Entwicklungen“ Vorgänge des kulturellen Austauschs in den Prozessen der Globalisierung, der digitalen Vernetzung oder durch Migrationsphänomene. Welschs Gegenvorschlag zum Kugelmodell der Kultur ist das der „Transkulturalität“. Mit diesem Begriff weist er auf zwei Eigenschaften von Kultur in der Gegenwart hin: Nicht nur sind Kulturen stark verflochten, sodass man überall in der Welt auf bekannte Elemente stößt, sondern es hat sich bei einer Vielzahl von Menschen auch eine starke innere Pluralität entwickelt, die Elemente aus unterschiedlichen kulturellen Zusammenhängen in einer Person vereint.

Es ist zu einer muffigen Annahme geworden, dass die kulturelle Formation eines Individuums schlicht durch dessen Heimat oder Nationalität oder Staatszugehörigkeit bestimmt sein müsse. Die Unterstellung, dass jemand, der einen iranischen oder deutschen Pass besitzt, auch kulturell eindeutig ein Iraner oder Deutscher zu sein habe und dass er, wenn er das nicht ist, ein vaterlandsloser Geselle oder Vaterlandsverräter sei, ist töricht und gefährlich. Ich denke, man sollte auf der Entklammerung von staatsbürgerlicher Identität und persönlich-kultureller Identität bestehen und das sollte sich in Staaten wie den unseren, wo die Freigabe der kulturellen Formation zu den Grundrechten zählt, eigentlich von selbst verstehen.

Dass widerstreitende Auffassungen darüber, was Kultur überhaupt bedeutet, ein wesentliches Erklärungsmoment für gegenwärtige Konflikte auf der ganzen Welt sind, behauptet auch der Soziologe Andreas Reckwitz. Ihm zufolge lassen sich zwei verschiedene Positionen unterscheiden, die er als „Hyperkultur“ und „Kulturessenzialismus“ bezeichnet. In der ersten Kategorie ist der Wunsch nach individueller Selbstverwirklichung prägend, der auf einem globalen Markt an Kulturgütern befriedigt werden kann:

Sie ist in der Tat auf Vielfalt, diversity, geeicht, da die kulturellen Güter sich zunächst nicht in einer Hierarchie zueinander befinden, sondern prinzipiell gleichwertig scheinen. Diversität ist in diesem Kontext per se positiv besetzt, weil sie den Raum der kulturellen Ressourcen ausdehnt und zu ‚bereichern‘ verspricht. Und sie ist in dem Sinne auch kosmopolitisch, als sowohl die Kultursphäre wie auch die Individuen gegenüber der Herkunft der kulturellen Güter indifferent sind: Gleich welcher regionaler, nationaler oder kontinentaler, ebenso welcher gegenwärtigen oder historischen, hochkulturellen oder populärkulturellen Herkunft die kulturellen Güter sind – entscheidend ist, dass sie zur Ressource subjektiver Selbstentfaltung werden können.

Die zweite Position ist stärker auf moralische Identitätsgemeinschaften ausgerichtet, die mit einem strikten Innen-Außen-Dualismus arbeiten:

Erstens ist Kultur hier nicht als ein unendliches Spiel der Differenzen auf einem offenen Bewertungsmarkt organisiert, sondern modelliert die Welt in Form eines jeweiligen Antagonismus, eines Antagonismus zwischen Innen und Außen, zwischen ingroup und outgroup, der zugleich ein Dualismus zwischen dem Wertvollen und dem Wertlosen ist. Der Prozess der Valorisierung verläuft also nicht dynamisch und mobil, sondern arbeitet vielmehr daran, die Eindeutigkeit der wertvollen Güter – der Glaubenssätze, Symbole, der nationalen Geschichte, der Leidensgeschichte einer Herkunftsgemeinschaft – nach innen aufrechtzuerhalten und zugleich nach außen eine konsequente Devalorisierung zu betreiben: die eigene, überlegene Nation gegen die fremden (Nationalismus), die eigene Religion gegen die Ungläubigen (Fundamentalismus), das Volk gegen die kosmopolitischen Eliten (Rechtspopulismus). Zweitens ist diejenige Instanz, die gewissermaßen in den Genuss der Kultur kommt und damit den Referenzpunkt der Kultursphäre bildet, nun nicht das sich selbst verwirklichende Individuum, sondern das Kollektiv, die community, die sich über die Sphäre des als wertvoll Anerkannten ihrer Gemeinschaftlichkeit versichert.

In dieser Unterscheidung wird deutlich, dass Identitätsfindung im ersten Kulturverständnis die Aufgabe jedes Einzelnen ist. Dass dies nicht nur als Bereicherung, sondern auch als Zumutung empfunden werden kann, brachte bereits Jean-Paul Sartre markant zum Ausdruck: Der Mensch ist zur Freiheit verdammt. Im zweiten Kulturverständnis wird hingegen ein Identitätsangebot gemacht, das den Einzelnen in einer Gemeinschaft auffängt und ihm eindeutige, geteilte Werte und Ziele vorgibt.

Liberale und besonders linke politische Gruppen tun sich häufig sehr schwer auf der Ebene der Identitätspolitik zu argumentieren, es sei denn sie fordern spezifische Rechte für diskriminierte Bevölkerungsteile wie Frauen, Homosexuelle oder ethnische Minderheiten. Ein allgemeineres Identitätsangebot, hinter dem sich verschiedene Gruppen gemeinsam versammeln könnten, und welches eine Vision für eine bessere Zukunft enthält, fällt ihnen oftmals schwer zu formulieren. Früher hoffte man einmal mit der Figur des Arbeiters eine Identitätskonstruktion mit universalistischem, emanzipatorischem Potential gefunden zu haben. In den Gesellschaften des 21. Jahrhunderts scheint die Kategorie des Proletariats hingegen dramatisch an Plausibilität eingebüßt zu haben. Die Formulierung einer politischen Vision, die über bloße Besitzstandswahrung oder individuelle Selbstverwirklichung hinausgeht und die es den unterschiedlichsten Gruppen ermöglichen würde, sich hinter einem politischen Traum zu versammeln, ist demnach die große Aufgabe einer linken Gegenbewegung.

Nation und Staat

Dass Populisten mit ihren Forderungen überhaupt so viel Zuspruch erlangen können, hängt in meinen Augen auch damit zusammen, dass unsere Vorstellung vom Staat, genauso wie unser Kulturverständnis, noch immer auf allen Ebenen von der Idee der Nation durchzogen ist. Man muss nur an den Begriff der „Volks“-Parteien denken, um zu merken, dass es eigentlich keine Partei(-führung) gibt, die das Konzept der Nation überwunden hat. Über das Lippenbekenntnis „God Bless America“, das jeder US-Präsident zu leisten hat, schmunzelt man als Europäer gerne. Aber in der europäischen Politik ist die Ausrichtung politischen Denkens an „nationalen Interessen“ gleichermaßen selbstverständlich. Dass Frank-Walter Steinmeier im August 2016 vor dem „Ungeheuer des Nationalismus“ warnte, verdeckt im Grunde nur die Tatsache, dass linke wie rechte Parteien allesamt im nationalstaatlichen Denken gefangen sind.

Ein Umdenken wäre allerdings möglich und besonders angesichts globaler Herausforderungen unbedingt notwendig. So wie in einer säkularen Demokratie die Religion als politische Richtschnur verbannt werden soll, so kann man sich auch ein Staatswesen vorstellen, das das Konzept der Nation verstärkt in den Privatbereich verschiebt. Es ist ja gar kein Problem, wenn Menschen ihre Heimat lieben, die Kulturprodukte in ihrer Sprache besonders mögen oder gerne Volkstänze tanzen. Dass jene Menschen allerdings einen privilegierten Zugang zum Staatswesen haben sollten, lässt sich nicht rechtfertigen, wenn man beginnen würde, staatliche Institutionen vom Konzept der Nation zu befreien und anzuerkennen, dass der Staat für alle da ist, die in der Gesellschaft leben.

Europa als solidarisches Projekt

Krise ist nicht gleichbedeutend mit Verfall und Untergang. Vielmehr ist sie ein möglicher Zustand von Systemen, der Raum für Veränderung lässt, weil Altes nicht mehr funktioniert und sich Neues noch nicht durchgesetzt hat. Die politischen Entwicklungen in Europa bieten die Chance neu darüber nachzudenken, in was für einer Welt wir leben möchten.

Das naheliegende Versuchsfeld, um ein solidarisches Großprojekt zu entwerfen, ist die Europäische Union. Die politische Integration der Union in Form demokratischer, supranationaler Institutionen muss dafür weiter vorangetrieben werden. Erst dann wird es möglich sein, soziale Ungleichheit abzubauen, einen gerechten Arbeitsmarkt zu schaffen, sozialstaatliche Politik zu stärken und endlich effektiv auf den sich vollziehenden Klimawandel zu reagieren. Um den geistigen Rückzug in den Nationalstaat aufzuhalten bedarf es unserer Phantasie, wie man dieses Projekt gestalten kann, damit es Menschen auffängt, integriert und begeistert und so dem Identitätsangebot der Rechtspopulisten den Nährboden entzieht.

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