Sicher bin ich nicht der einzige Mensch auf dieser Welt, der miterlebt hat, wie sich eine sachliche Diskussion zu einem handfesten Streit entwickelt hat. Und ich werde auch nicht der Einzige gewesen sein, der sich nach so einem Abend dann fragt, warum man selbst – aber auch die andere Partei – so wenig Verständnis für die Position des Gegenübers erübrigen konnte; vor allem, wenn es eigentlich um etwas ging, das weder einen selbst noch das Gegenüber persönlich tangiert hat.
Betrachtet man die jüngsten (Pseudo-)Koalitionsverhandlungen zwischen den Grünen und der Union und ruft sich dabei die Pädophilie-Debatte im Wahlkampf in Erinnerung, dann glaube ich, dass man so manches politische Phänomen mit der eben genannten Entwicklung einer ursprünglich sachlichen Diskussion vergleichen kann. Auch hier wurden sachliche Argumente an den Rand gedrängt, indem versucht wurde, die Positionen der Grünen aufgrund persönlicher Vorbehalte von vornherein zu diskreditieren. Doch wie kommt man so schnell von einer sachlichen Diskussion zu einem handfesten Streit? Was passiert also in dem Moment, wenn sachliche Argumente ihre Gültigkeit verlieren und warum passiert es?
Das verpasste Ende einer anregenden Diskussion
Jede Diskussion hat einen Zeitpunkt für ein sinnvolles Ende. Jede Erörterung hat ein Ende und jeder Zeitungsartikel und Blogeintrag hat ein Ende. Nämlich dann, wenn es nichts mehr zu sagen gibt. Wenn alle Argumente in Stellung gebracht wurden und ein Weitermachen nur zu der längst schon erlangten Erkenntnis führt, dass man dieses Thema so oder so betrachten kann und dass es keine „bessere“ Meinung gibt. Man könnte also sagen: du siehst das so, ich sehe das so – eigentlich witzig, dass man ohne Letztgültigkeit behaupten zu können trotzdem eine derart gefestigte Meinung ausbildet.
Doch so friedlich war die Welt noch nie. Es ist nicht lange her, da stand auch in Europa am Ende eines sachlichen Streits das Duell, die Inquisition oder ein Verhörraum – es musste entschieden werden, wessen Meinung stehen bleibt. Die Tatsache anzuerkennen, dass es keine letztgültige Wahrheit gibt; dass jeder und jede eigentlich die Freiheit besitzt, einfach „Nein“ zu sagen und sich anders zu verhalten, war undenkbar. Und diese Logik sitzt auch noch in unseren Hinterköpfen fest: als goldene Regel oder kategorischer Imperativ. Als Grundlage seines Handelns soll man eine Maxime suchen, die auch ein allgemeines Gesetz darstellen könnte. Die Hintergrundannahme dieser Idee ist die, dass jeder Mensch vernunftbegabt ist. Er ist damit befähigt zu erkennen, wie die Gesetze aussehen müssten, die allen Menschen gerecht werden. Es wird ihm also unterstellt, dass er – nach längerem Nachdenken – zwischen der schlechteren und der besseren Meinung unterscheiden kann. Und diese Unterstellung schmeichelt jedem Menschen, denn sie erlaubt es ihm, die Eingeschränktheit seiner Perspektive auszublenden, indem sie dem Selbst unterstellt, selbstlos handeln zu können.
Überträgt man das auf unsere noch sachliche Diskussion, dann versteht man, warum wir häufig nicht aufhören können, auf der Letztgültigkeit unserer Meinung zu beharren. Mit anderen Worten: Wir nehmen die Challenge des kategorischen Imperativs an. Wenn unser Gegenüber eine Meinung vertritt, die unserer „vernünftigen“ und selbstlosen Meinung widerspricht, dann muss es sich bei ihm um einen selbstsüchtigen Menschen handeln. Um einen Menschen also, der seine Vernunftbegabung nicht einsetzt und dessen Meinung daher nicht weiter geachtet werden muss.
Das, was in diesem Moment geschieht, kann man also Moralisierung des Konflikts bezeichnen. Man wendet sich von der sachlichen Dimension der Argumente bei der Erörterung einer Situation ab und bewertet sie als gut oder schlecht. Und da man davon ausgeht, dass jeder Mensch zum Erkennen des Guten und des Schlechten in der Lage ist, kann man seinem Gegenüber seine argumentative Unfähigkeit nicht verzeihen, ohne die Selbstsicherheit eines vernunftbegabten Menschen aufzugeben. Man besteht also darauf, dass das Gegenüber die eigene Meinung annimmt, weil man sich nicht eingestehen will, dass man selbst und der Mensch an sich nicht so vernünftig ist, wie es gemeinhin unterstellt wird. Aus der sachlichen Differenz wird so ein persönlicher Zwist. Die Freiheit der Meinungsäußerung des Gegenübers wurde zum Angriff auf die eigene Person umgedeutet und kann als solcher nicht geduldet werden. In der Logik der Moral darf es keinen Widerspruch geben.
Der zerbrochene Konsens
Wir streiten uns also, weil wir glauben, dass es Gut und Schlecht gibt und dass wir selbst beides unterscheiden können. Wir glauben daran, dass eine Art Konsens über diese beiden Kategorien besteht, der uns zugänglich ist, den wir nur zu erkennen brauchen. Und das Erkennen der Absolutheit von gut und schlecht macht uns und alle, die sich sonst noch die Mühe machen, zu dem, was wir sein wollen: bessere Menschen.
Doch anscheinend hält sich kaum jemand an diesen Konsens: Bankerinnen spekulieren auf Lebensmittel, Bischöfe bauen sich dekadente Häuser und Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler überschreiten auch noch die letzten ethischen Grenzen. Jede Tageszeitung erinnert uns daran, dass dieses Verhalten höchst amoralisch ist, sich also nicht am vernünftigen Konsens orientiert. Es sind also die Medien, die mit dem „wir“ ihrer Leitartikel ständig einen Konsens bei der Bewertung bestimmter Sachverhalte unterstellen, ohne zu reflektieren, dass die Perspektive gar keinen Konsens mehr abbildet. Spätestens, wenn man den Blick weitet und über den westlich-europäischen Tellerrand guckt, wird deutlich, dass es in dieser globalen Gesellschaft keinen Konsens gibt: weder zwischen verschiedenen regionalen Kulturen noch im Hinblick auf verschiedene Sachverhalte.
Die moderne Gesellschaft hat sich darauf spezialisiert, Konsens aufzubrechen, falls er überhaupt aufkommt. Konnte früher ein König seine Gesetze erlassen, ohne dass er laute Kritik ertragen musste, sieht sich heute jede Regierung mit einer Opposition konfrontiert, die Alternativen aufzeigt. Konnte die katholische Kirche Galilei noch unschädlich machen, besteht der wissenschaftliche Diskurs heute genau im ständigen Widerlegen ausgerufener Wahrheiten durch neue Wahrheiten. Noch deutlicher wird dies, wenn man sieht, dass sich sowohl die Regierungsparteien als auch die Oppositionsparteien auf wissenschaftliche Erkenntnisse stützen, um ihre Politik zu machen. Die Moral jedoch verläuft quer zu all diesen unterschiedlichen Sachbereichen und behauptet ihre Unterscheidung von gut und schlecht noch gegen das sachlichste Argument. Es ist jedoch zu bezweifeln, ob eine Welt, in der die moralische Unterscheidung von gut und schlecht wieder Einzug in die Teilbereiche der Gesellschaft findet, wirklich wünschenswert ist. Denn wo man die Meinung der Opposition unabhängig von ihrem politischen Gehalt als schlecht bewertet und missachtet, da ist die Demokratie am Ende. Die Errungenschaft der modernen Gesellschaft liegt – so schwer man sich damit tut – in der Amoralität ihrer Teilbereiche.
Diese Amoralität ist es, die sowohl die unglaubliche Effizienz und Anpassungsfähigkeit als auch die Unmöglichkeit einer gesamtgesellschaftlichen Steuerung begründet. Wer wollte bestreiten, dass die Leistungsfähigkeit der modernen Wissenschaft auch daraus resultiert, dass sie sich nicht darum kümmert, ob ihre Ergebnisse gut oder schlecht sind, solange sie wahr sind. Und auch im Hinblick auf das Medizinsystem ist uns im Fall des von katholischen Kliniken zurückgewiesenen Vergewaltigungsopfers klar geworden, dass die Notaufnahme eines modernen Krankenhauses jenseits dieser beiden Kategorien arbeiten sollte. Die Religion stellt in dieser Hinsicht ein besonders aufschlussreiches Phänomen dar: Denn das anachronistische Festhalten der Kirchen am moralischen Konsens stellt diese heutzutage in Abseits; nicht nur weil klar wird, dass sie sich selbst in ihrem Anspruch nicht gerecht werden können, sondern weil diese Perspektive vielen Gläubigen zunehmend als unvereinbar mit der sie umgebenden Realität erscheint. Und so schwirrt die Unterscheidung in Wirtschaft, Medien, Kirchen und Politik immer dann herum, wenn die Beteiligten vermuten, dass sich die Leserschaft steigt, wenn man BankerInnen diffamiert oder eine moralisch diffamierte Partei dem eigenen Lager Stimmen bringt und verhindert bei den so aufgeladenen Themen, dass sich irgendjemand mit der Sache selbst beschäftigt.
Kommt man also auf den Streit zurück, dann wird klar, dass es ganz normal ist, unterschiedliche Meinungen zu haben. Denn keine Perspektive ist absolut. Es kommt zum Streit, da das gesellschaftliche Bild des Menschen aus einer Zeit stammt, in der ihm eine souveräne Perspektive unterstellt wurde, während sich der moderne Mensch gleichzeitig mit der unglaublichen Pluralität der modernen Gesellschaft konfrontiert sieht. Das Moralisieren von Meinungen und die darauf basierende Beachtung oder Missachtung von Personen ist also im Kern konservativ – sie stammt aus einer Zeit vor unserer Zeit.
Freiheit jenseits von richtig und falsch
Die Konsequenz dieser Erkenntnis ist, alle Meinungen als ablehnbar zu betrachten und gleichzeitig zu verstehen, dass sie nur die kognitiven Auswüchse eines aufrecht gehenden Primaten darstellen. Man muss sich also vom Thron des vernunftbegabten Menschen herablassen und sich eingestehen, dass die Eindeutigkeit der Welt prekärer ist, als man es sich bei der letzten Diskussion noch eingestehen wollte. Wie wünschenswert eine solche intellektuelle Notbremse im Hinblick auf die eigene Meinung manchmal wäre, sieht man, wenn man sich die moralische Elite à la Grass anschaut: ihr Selbstbewusstsein auf der Tatsächlichkeit eines durch den vernünftigen Menschen erkennbaren Konsenses gründend,
muss Grass gegen das Internet zu Felde ziehen. Denn wollte er die Pluralität und Globalität des Internets anerkennen, könnte er die mittelalterlich anmutende Antiquiertheit seines moralischen Zepters nicht mehr länger leugnen und es steht zu bezweifeln, dass er selbstironisch genug ist, um das zu ertragen.
Doch den Blick nach vorn. Wie schon erwähnt war es die Freiheit, die die Moral in ihrem absoluten Anspruch nicht dulden konnte. Sie konnte nicht dulden, dass jemand die Unterscheidung zwischen gut und schlecht ablehnt und sich allein auf sich selbst beruft, wenn er sein sachliches Urteil fällt. Das ist jedoch der Modus, der der modernen Gesellschaft angemessen scheint. Damit verbindet sich ein hehrer Anspruch, denn der Verlust der Vorstellung eines Absoluten bedeutet den Verlust eines Fixpunktes und damit die absolute Relativierung. Freiheit ist gewissermaßen ein Besinnen auf sich selbst und die eigene Beschränktheit – und dabei auch ein Stück weit Fatalismus: Ich bin weder verantwortlich für die Verhältnisse noch bin ich ihnen bedingungslos unterworfen. Die letzten Bezugspunkte, auf die ich mich berufen kann, bleiben ich, meine Auslegung der Welt und die Möglichkeit, nein zu sagen, wenn mir etwas nicht passt – ohne dass ich an Letzteres den Anspruch einer Revolution der Verhältnisse knüpfen kann. Keine Entscheidung kann in dieser Perspektive Absolutheit beanspruchen.
In ihrer Radikalität verängstigt die Freiheit des Individuums. Denn die eben noch mit exklusivem Anspruch vorgetragene Meinung erscheint in diesem Licht als sehr prekär. Doch mit diesem Anspruch fällt auch eine Last vom Einzelnen: Denn wenn man nicht mehr den Anspruch haben kann, alles richtig zu machen, kann man auch nichts mehr falsch machen. Entscheidungen und Meinungen können sich immer nur auf die subjektive Perspektive gründen und man kann den Anspruch getrost ablehnen, auch Entwicklungen im hintersten Winkel des Globus beurteilen zu können.
Man könnte daher überlegen, ob die moralische Aufladung eines Wahlkampfs überhaupt politisch wünschenswert ist, oder ob sie die Wahlbeteiligung noch weiter senkt, wenn moralische Argumente den Vorrang vor politischen haben. Leider beobachtet man häufig das Gegenteil: Der Gang zur Wahlurne wird zur moralischen Tugend und die Verweigerung wird zur Schmach.
Legt man die moralische Brille ab, ist es einem vielleicht möglich, beim nächsten Mal das Thema zu wechseln, bevor eine sachliche Diskussion zu einem Streit wird. Und über den Umweg der Amoralität des einzelnen Menschen ist es auch denkbar, dass auch die Politik sich vom wenig sachdienlichen Anspruch der moralischen Überlegenheit freimacht. Denn wo niemand an einen moralischen Konsens glaubt, lohnt es sich für Politikerinnen auch nicht, diesen zu bemühen. Alle könnten sich in dieser Hinsicht etwas von der Gelassenheit eines Danger Dans abgucken.
Hmm… Ich hab so meine Probleme mit der These.
Ich finde zwar auch, dass eine sachliche Diskussion wünschenswert ist. Aber hier ist, m.E., das Problem: Die Wissenschaft hat eine deskriptive Aufgabe. Die Politik aber eine präskriptive Aufgabe.
Der Wissenschaftliche Prozess braucht keine Moral. Es geht nur um wahr/nicht wahr. (Wobei ohne Moral auch die Notwendigkeit dessen hinterfragbar ist.)
In der Politik muss aber einen Schritt weiter gegangen werden. Sie kann und muss sich auf sachliches Wissen stützen. Aber wonach soll sie handeln?
Die Frage, wonach Politik handeln soll, trifft den Kern meiner These:
Politik kann sich heutzutage nicht mehr an einer allgemeinen Definition der „besseren Gesellschaft“ richten, da es keine Instanz mehr gibt, die den Inhalt dieses Begriffs definieren könnte. In dieser Hinsicht muss sich die Politik an sich selbst orientieren – und dabei natürlich auch im Hinblick auf den Rest der Gesellschaft. Sie muss sicherstellen, dass die Probleme, denen so beigekommen werden kann, durch kollektive Entscheidungen gelöst werden. Dabei ist potenziell jeder (Gesetzes-)Vorschlag gleichwertig und sollte im Hinblick auf und am Ende sogar durch die WählerInnen evaluiert werden. In dieser Tradition steht auch die Idee, nach der die Parteien Meinungen aggregieren und ihre Konsensfähigkeit anschließend zur Debatte stellen.
Die Moralisierung von Themen untergräbt diese Funktionsweise, indem sie den Diskurs vorreguliert: Sie bestimmt, welche Positionen als „gut“ gelten. Lehnt jemand eine in diesem Sinne qualifizierte Position ab, dann rechnet die Moral diese Tatsache persönlich zu, indem sie die ganze Person als „unmoralisch“ brandmarkt und damit für nicht weiter achtenswert befindet.
Dieser Mechanismus markiert den absoluten Anspruch der Moral, der als solcher nicht mit der universalen Teilnahme aller Personen vereinbar ist. Denn er gesteht ihnen nicht ein, ihre Meinungen jenseits des moralisch „Richtigen“ zu bestimmen. Gleichzeitig bleibt die Grundlage der moralischen Bewertung prekär, solange sie sich nicht auf eine wie auch immer geartete metaphysische Instanz beruft.
Moralische Argumentation schaltet der politischen Konsensfindung eine absolute Konsensvorstellung vor und wendet sich dabei sowohl gegen die Freiheit der individuellen Meinungsfindung als auch gegen die universale Teilnahme aller Personen am Diskurs. Modern ist das nicht.
Dass das Fehlen einer absoluten Instanz, die fähig wäre, gut und schlecht zu definieren, so schwer zu ertragen ist, bestärkt mich in meiner These, dass viele Menschen sich im Herzen in eine Zeit zurücksehnen, in der man sich noch in der Eindeutigkeit metaphysischer Begründungen einkuscheln konnte. Freiheit entpuppt sich nämlich nicht nur als Freiheit von dieser Eindeutigkeit, sondern auch als Notwendigkeit selbst zu entscheiden – für manche anscheinend eine beängstigende Vorstellung.
Ich verstehe, denke ich, was Du meinst. Aber den Prozess, den Du beschreibst kommt meiner Meinung nicht ohne Moral aus. Vielleicht ist es eher ein Definitionsproblem?
Moral muss sich notwendigerweise im ständigen Wandel befinden. Eine – pardon – Endlösung moralischer Fragen gibt es nicht.
Ich muss jeden Beitrag erstmal gleichwertig annehmen und prüfen. Also reine faktische Analyse. Aber, um nicht unendlich zu stagnieren, muss ich mich letzten Endes entscheiden. Und in dieser Entscheidung ist dann nicht unbedingt ein „gut“/“schlecht“, zumindest aber ein „besser“/“schlechter“ nötig.
Ich verstehe schon, dass es das Gute und Böse faktisch nicht gibt. Aber ich kann mir nicht vorstellen, wie irgendeine Handlungsentscheidung passieren kann, wenn wir dieses Gedankenkonstrukt nicht hätten/anwenden würden.
Das alles hält mich aber nicht davon ab, einen offenen, fairen Gedankenaustausch zu würdigen, und bringt mich schon gar nicht in die Versuchung, zu behaupten ich hätte finale Autorität in irgendwas (wie Du richtig schreibst, die Krankheit der Religion).