Tsipras gegen Merkel? Wie man über Europa schreiben sollte – und wie nicht

Nur selten ringe ich mich dazu durch, mir einen Spiegel zu kaufen. Mein Problem: Da ich mich für fast alles interessiere, komme ich kaum umhin, fast das gesamte Heft zu lesen (das einzige, was mich wirklich gar nicht interessiert: welcher Fuzzi nun welches Unternehmen leitet), und das kostet mich üblicherweise mindestens einen ganzen Tag. Ab und an tue ich es aber doch, nehme mir einen Tag Zeit und fühle mich am Ende gut über die meisten aktuellen Themen informiert – besser jedenfalls, als wenn ich, womöglich stündlich, die Sensationsmeldungen im Internet verfolge, die meistens ohne jede Einordnung und Analyse nur ein paar Informationsfetzen präsentieren.

Am Sonntag habe ich mir also wieder einmal einen Spiegel gekauft, aus dem einfachen Grund, dass ich wissen wollte, was nun schon wieder mit den Griechen los ist, und was das für Europa bedeuten kann. Der Titelbericht mit dem dümmlichen Titel Der Wutgrieche (hier eine frei zugängliche englische Version, die teilweise noch schlimmer ist) ist aber in eigentlich jeder Hinsicht eine Enttäuschung: Nicht nur enthält er quasi keine selbst recherchierten Hintergründe aus Griechenland, etwa: Welche Parteien standen überhaupt zur Wahl? Wie funktioniert das griechische Parteiensystem? Woher kommt Syriza? Wer sind die Minister im neuen Kabinett? Er weigert sich auch, darüber nachzudenken, ob die derzeitige europäische Krisenpolitik, die komplett daran gescheitert ist, Griechenland vor einer ausgewachsenen Great Depression zu bewahren, wirklich Sinn macht, oder ob es nicht doch Alternativen gibt (und wenn ja: welche? wie kann man sich ihre praktische Umsetzung vorstellen?).

Das größte Problem mit diesem Bericht aber ist, dass er mit einem peinlichen, personalisierten Nationalismus arbeitet: Auf der einen Seite der Wutgrieche Alexis Tsipras, auf der anderen Seite – Angela Merkel. Dass die Europäische Union aus 28 Staaten besteht, mit je eigenen Regierungen, Parlamenten, Gerichten, dass es Institutionen wie das Europäische Parlament, die Europäische Kommission und den Europäischen Rat gibt, die übrigens je eigene Präsidenten haben – all das ist für die Autoren des Spiegel-Artikels im Grunde irrelevant. Angela Merkel ist für sie die Königin der EU, und das ist, daran lässt der Artikel keine großen Zweifel aufkommen, auch gut so. Das klingt dann so:

Die Nähe von Syriza zu Russland ist zwar nicht neu, sie hat auch viel mit den traditionell engen Kontakten zwischen Griechenland und Russland zu tun. [Hier wäre übrigens die Gelegenheit, mal ein bisschen Hintergrund zu liefern: Welche Kontakte? Mit wem? Warum? Doch nein:] Aber wieder ist Merkel sein [Tsipras’] Antipode. Ihr oberstes Ziel ist, die 28 EU-Staaten geschlossen beisammenzuhalten, es ist ihr [!] fast einziger Trumpf im Ringen mit Putin.

Oder so:

Und im kleinen Kreis hat sie auch schon einmal gesagt, dass Deutschland zum Euro und zu Europa stehen müsse – nach zwei Weltkriegen, für die Deutschland Verantwortung trage. Deshalb entschied sie im Sommer 2012, Griechenland im Euro zu halten.

Deutschland hier, Merkel da. Sie kämpft alleine für den Weltfrieden und entscheidet mal eben, offenbar völlig eigenständig, dass Griechenland im Euro bleibt. Ohne viel Mühe sieht man hier das erfreute „Wir sind wieder wer“ der Spiegel-Journalisten durch die Zeilen schimmern.

Eine unter vielen: Angela Merkel (grün) auf einem Treffen einiger Mitglieder der Europäischen Volkspartei, Juli 2014 (EVP, CC-by-SA)

Nehmen wir mal zum Vergleich einen zweiten Artikel zur Hand. Im Blog Der (europäische) Föderalist hat Manuel Müller (der zufällig nebenbei an „meinem“ Institut promoviert, honi soit qui mal y pense) eine Analyse vorgelegt, der es gelingt, genau die oben beschriebenen Klippen sauber zu umschiffen. Der Artikel fasst erst einmal unaufgeregt zusammen, was eigentlich bisher vorgefallen ist – und kommt dann zielgenau auf das dahinterliegende Problem zu sprechen:

In einer Währungsunion, in der alle Staaten voneinander abhängig sind, kann eine nur nationale Demokratie nicht mehr funktionieren. Eine wirtschaftspolitische Gängelung Griechenlands durch die Kreditgeber ist ebenso wenig demokratisch wie die Idee, dass die griechischen Wähler nach Belieben das Geld ausländischer Steuerzahler ausgeben können. Wenn die Wirtschaftspolitik in der EU aber nur noch gemeinsam festgelegt werden kann, dann sollte darüber auch gemeinsam entschieden werden. […] Langfristig darf die Zukunft des Kontinents nicht mehr vom Ausgang einzelner nationaler Parlamentswahlen abhängen. Es gibt ein Europäisches Parlament, das die europäische Bevölkerung alle fünf Jahre gemeinsam wählt – hier, und nicht im Europäischen Rat, müssen die Fragen entschieden werden, in denen kein Mitgliedstaat mehr ohne die anderen kann.

Bleibt die Frage, wieso es ein unbezahlter Blogger schafft, einen solchen, dringend nötigen Artikel zu schreiben, während insgesamt zehn (so viele Zeichner hat Der Wutgrieche) hochbezahlte Profis an demselben Problem derart kläglich scheitern. Ich hätte zwei Antworten im Angebot: Erstens haben die Spiegel-Reporter schlicht zu wenig Ahnung davon, wie Europa funktioniert, dass es eine multilaterale Veranstaltung mit teilweise grundverschiedenen Akteuren ist, die sich kaum auf einen gemeinsamen Nenner („Merkel“) bringen lassen. Ihre Stärke und zugleich ihre Schwäche ist ihre Nähe zu deutschen Politikern: Merkel kennen sie gut und aus vielen Hintergrundgesprächen auch persönlich, über sie, ihre Absichten und Handlungen können sie berichten. In Brüssel dagegen sind sie kaum vernetzt, und offenbar noch weniger in anderen europäischen Hauptstädten – wenn es um die Verhältnisse in Athen geht, können sie auch nur Medienberichte wiederkäuen.

Das führt zweitens zu einem Mangel an europäischem Bewusstsein: Das Denken der Spiegel-Redakteure steckt wie das der meisten (deutschen) Journalisten noch tief im nationalen Zeitalter. Im Inhaltsverzeichnis gibt es weiterhin eine große Rubrik Deutschland und eine kleine Rubrik Ausland. Nach diesem Muster funktionieren die Artikel dann auch inhaltlich: Deutschland hier, die anderen da. Und man selbst steht zwar nicht mit Emphase, nicht explizit, aber doch mit der allergrößten Selbstverständlichkeit auf der Seite der Gruppe, die man durch genau diese Art von Berichterstattung überhaupt erst mitkonstruiert: den Deutschen.

Ich glaube, beim nächsten Mal überlege ich mir auch noch ein drittes Mal, ob ich mir den neuen Spiegel kaufe.

About Author: WWWWWSören Brandes

Geboren 1989 in Paderborn, hat Geschichte und Literatur in Berlin und Lund studiert. Master in Moderner Europäischer Geschichte. Promoviert derzeit am Graduiertenkolleg „Moral Economies of Modern Societies“ am Berliner Max-Planck-Institut für Bildungsforschung über die Geschichte des Marktpopulismus. Lebt in Berlin-Neukölln und interessiert sich für eigentlich alles, insbesondere für Globalisierungsphänomene, den Einfluss der Massenmedien darauf, wie wir denken und leben, und europäische Politik. Mail: soeren@unserezeit.eu, Twitter: @Soeren_Brandes, Facebook: Sören Brandes View all posts by

3 Gedanken zu „Tsipras gegen Merkel? Wie man über Europa schreiben sollte – und wie nicht“

  1. Es ist nicht alles „nationalistisch“, was sich an nationalen Interessen orientiert. Dann wäre so ziemlich jedes Mitglied des Bundestags „nationalistisch“. Die Grünen, weil sie eine deutsche Energiewende wollen, die SPD weil sie irgendwie einen deutschen Sozialstaat will, die CDU, weil sie das gleiche will aber anders ausdrückt und die Linken, weil sie einen deutschen Sozialismus mag.

    Ich frage mich, warum der Herr Müller das europäische Parlament so lobt, wo er doch von Demokratie spricht – einige Zeilen darüber. Das EP ist nicht nur relativ undemokratisch zusammengesetzt, es hat auch gar nicht die Rechte, die ein Durchschnittsparlament hat. Das Königsrecht, eigene Gesetze einzubringen, ist ihm bis heute verwehrt.
    Nein. Die Politik in der EU (ungleich Europa) macht die europäische Kommission, genauer gesagt die Big Player darin. Und das ist nun mal auch Frau Merkel. Das EP besteht aus überbezahlten Ex-nationalparlamentarier, die mit einem hübschen Gehalt ihre Karriere ausklingen lassen. Ausgliederungsmaßnahme auf einem verdammt hohen Niveau. Fast sympathisch.
    Die sogenannte Gängelung Griechenlands ist nur folgerichtig. Wenn ich Schulden habe, stresst mich die Bank. Die Gläubiger, also auch Deutschland, wollen nun mal ihr Geld zurück – zumindest langfristig. Und weil sie sehen, dass dieses (ökonomisch) strukturschwache Land ohne Reformen es niemals zurückzahlen kann, pochen sie eben auf diese Reformen. Dass diese utopisch sind – zumindest in dieser Währung – wollen sie nicht wahrhaben. Diese Anstrengung, diese Abwertung von rund 20% wäre einmalig und mit Verlaub, die Griechen fielen bisher nicht aufgrund ihrer eisernen Disziplin auf. Polen ist halb so teuer und doppelt so produktiv. Noch fragen?
    Die Leute, die heute „undemokratisch“ krakeelen sind die gleichen, die schwiegen, als Maastricht gebrochen wurde, die kein Problem damit haben, dass sie ein EP wählen, dass kein Parlament ist.
    Man hätte den Griechen gar kein Geld geben sollen. Ein vergleichbarer Währungsraum ist die USA. Da gehen immer mal wieder Bundesstaaten pleite. Sogar New York City war mal insolvent. Die EU Rettungspolitik befeuert nichts weiter als „moral hazard“.
    Weder die Griechen werden „gegängelt“, noch wird das Geld von Steuerzahlern ausgegeben. Es werden damit lediglich Banken befriedigt. Im Übrigen auch Deutsche.
    Von welchem europäischen Bewusstsein sprechen Sie? Dieses, dass man den Euro gut findet oder das EP wählt? Erasmus? Mit Verlaub, ich halte „europäisches Bewusstsein“ für eine Floskel, mit denen sich vielleicht Feuilletons füllen lassen, nicht aber den Abend der sog. Einfachen Leute. Und wissen Sie was? Zum Glück.

  2. Überlegen ist immer gut, auch beim Ob des Spiegel-Kaufs. Bei Deinen Ansprüchen liegt allerdings das Nein nahe. Der Spiegel wird für einen Leser-Markt gemacht, dessen Teilnehmern überwiegend NICHT an ausführlichen, komplexen Analysen gelegen ist. Sie wollen schnell und unterhaltend informiert sein, dafür ist Personalisierung genau das Richtige. Da das die Journalisten wissen, konzentrieren sie ihre Recherche-Aktivitäten hierauf. M.E. konstruieren sie ein derartiges Politikverständnis nicht, sondern reagieren auf eine entsprechende Nachfrage, die dann durch ihr journalistisches Verhalten wiederum stabilisiert wird. Ein Wochenmagazin „für alles“ ist ohnehin nicht der geeignete Ort für ansprüchliche, fundierte Analysen und Ausführungen. Das hat wegen der kurzen Publikationstaktung und Aktualitätsdruck keine Zeit dafür und ist eben auch nicht auf Politik spezialisiert. Für politische, speziell europapolitische Interessen mit Tiefgang braucht man mindestens Monatshefte, noch besser entsprechende wissenschaftliche Periodika.
    Da sich aber die demokratische Öffentlichkeit mit Hilfe solcher oberflächlichen Medien über Politik informiert – und hier gehört der Spiegel ja noch zu den besseren – hilft deren und dessen Lektüre aber immerhin zu verstehen, wie welche Mehrheitsmeinungen sich bilden.
    Und „europäisches Bewußtsein“ gibt es wohl nur in Spurenelementen. Das ist nicht vorwerfbar, sondern es entwickeln zu helfen die eigentliche und große Aufgabe. Unverzagt und hartnäckig. Dieser Blog trägt dazu bei.

  3. Den Begriff „Nationalismus“ kann man auf sehr verschiedene Weisen verstehen. Die meisten Deutschen verstehen darunter eine Art extreme Variante von „Patriotismus“, den Glauben, dass das eigene Land besser als alle anderen sei (was z. B. in den USA als ganz normaler „patriotism“ gilt). Ich dagegen benutze den Begriff ganz in dem (deskriptiven, nicht notwendig polemischen) Sinne, wie ihn etwa Ulrich Beck mit seiner auf die Soziologie gemünzten Kritik des „methodischen Nationalismus“ verwendet hat: Nationalismus ist das, was den Nationalstaat mehr oder weniger unhinterfragt als jetzt und in Zukunft wichtigsten Bezugspunkt von Politik, Medien, Wirtschaft nimmt. Insofern sind in der Tat auch die deutschen Grünen, die SPD, die CDU und die Linke sehr ausgeprägt „nationalistisch“.

    Zum Europäischen Parlament: Es stimmt natürlich, dass das EP noch nicht die vollen Rechte eines nationalen Parlaments hat oder gar alle Rechte, die man sich als europäischer Föderalist (wie Manuel Müller einer ist) wünschen würde. Deswegen ist Deine Aussage „Das EP besteht aus überbezahlten Ex-nationalparlamentarier, die mit einem hübschen Gehalt ihre Karriere ausklingen lassen“ aber noch lange nicht richtig. Das Europäische Parlament hat in den vergangenen Jahren – auch wenn es langsam vorangeht – mehr Zuständigkeiten und eine stärkere Eigenständigkeit errungen. „Hast du einen Opa, schick ihn nach Europa“ gilt schon längst nicht mehr. Im Parlament wird wichtige Arbeit gemacht, die nur dank dem medialen Nationalismus kaum jemand mitbekommt.

    Übrigens wollte ich auch nicht so verstanden werden, dass Merkel (oder Deutschland) nicht tatsächlich eine sehr machtvolle Stellung innerhalb der EU innehat. Trotzdem sind aber verschiedene Regierungen und Institutionen an der europäischen Entscheidungsfindung beteiligt. Das müsste man in Rechnung stellen – allerdings muss man dafür natürlich den schönen Personalismus „Merkel vs. Tsipras“ aufgeben…

    Und genau das ist in diesem Fall mit europäischem Bewusstsein gemeint: das Bewusstsein, dass es Europa gibt, dass es verschiedene Entscheidungs- und Interessenträger hat. Dass wir – gerade die Medien – generell unsere bisherige Vorstellung, dass Entscheidungen von freien, souveränen nationalen Regierungen getroffen würden, hinterfragen müssen.

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