Zwölf Töne in Zeiten der Globalisierung, oder: Warum ich einen Halbton zersägte

Wer macht die Musik? Warum klingt sie, wie sie klingt? Wir machen die Musik. Denken wir. Doch auch das Instrument macht die Musik, und die Tonskala, und unsere Ausbildung: das, was wir als Musik kennengelernt haben. Was, wenn alles ganz anders wäre?

Aber von vorne.

Im Jahr 2010 studierte ich Musikwissenschaft. Mit geringer Leidenschaft: Ich hatte mir den Studiengang praxisorientierter vorgestellt, kannte die meisten der behandelten Werke nicht und hatte zu dieser Zeit wenig Interesse, mich quer durch Sinfonien und Requiems zu hören. Mich bewegten Rockmusik, Folk und Lieder.

Es gab allerdings einen Tag, an dem ich aus einem Seminar nach Hause kam und sofort zu recherchieren begann. Es war eine Erwähnung im Nebensatz, nicht mehr als die lapidare Feststellung, dass es Menschen gegeben habe, die andere Töne benutzten als unsere zwölf Töne pro Oktave. Harry Partch habe die Oktave in 43 kleine Tonschritte eingeteilt und dafür Instrumente gebaut und Musik komponiert.

Ich war verwirrt. Ich hatte elf Jahre Klavier gelernt, ordentlichen Musikunterricht mal mehr und mal weniger genossen, Noten gelesen, Dur- und Molltonarten auseinanderhalten und voneinander ableiten gelernt. Geh, du alter Esel, hole Fisch: Der beliebte Merksatz für die Durtonarten mit Kreuzvorzeichen: G D A E H Fis. Das war Musik, so funktionierte Musik, zumindest die gut durchdachte, die notierte. Im Kern von allem steckte irgendwie eine C-Dur-Tonleiter. Die im Mittelalter wussten das noch nicht, aber irgendwann hatten es dann alle mehr oder weniger kapiert – wir hatten es ihnen beigebracht. Das Ende der Geschichte war die Zwölftonmusik. Avantgarde, zum Verstehen, kaum mehr zum Mögen.

War das nun alles falsch, hinfällig? Wie konnte es sein, dass ein dahergelaufener Amerikaner sechzig Jahre vor meiner Geburt eine Musik erfand, die auf anderen Tönen beruhte, auf anderen Instrumenten, einer unvergleichlichen Instrumentenlandschaft?

Eines von Harry Partchs kuriosen Instrumenten: Das Quadrangularis Reversum. Foto: Seth Tisue via Flickr, CC-by-SA-2.0

Harry Partch wuchs in Oakland in Kalifornien auf, am Rande des ausgehenden Wilden Westens. Seine Eltern waren Missionare in China. Seine musikalischen Einflüsse lesen sich wie ein musikethnologisches Lexikon: christliche Gesänge, japanisches Theater, Rituale aus Kongo. Er war ein Wanderer zwischen den Welten, der mit Vorliebe gegen das westliche Konzertsystem wetterte und sein Musikstudium relativ bald abbrach.

Partchs eigene Musik hörte sich für mich, anders als ich es in einigen musikwissenschaftlichen Aufsätzen beschrieben fand, niemals schief und unerträglich an. Sonderbar ja, schief nein, wie sein letztes Werk The Dreamer That Remains, das erste, das ich kennenlernte. Anders eben, aber humorvoll und interessant. Ich las seine Autobiografie Genesis Of A Music, halb musiktheoretische und -geschichtliche Abhandlung, halb Pamphlet, und schrieb später meine Bachelorarbeit über ihn. Meine Faszination für mikrotonale Musik, wie man die Musik mit kleineren Intervallen als dem Halbton in unseren Breiten nennt, hielt an.

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Nach und nach begriff ich, wie normal das ist, wofür wir den komplizierten Namen „Mikrotonalität“ verwenden. Ich wohnte in Berlin-Wedding, in unserer Straße war ein Antiquariat, das Metin gehörte, einem Türken. Er spielte Saz oder Bağlama, noch immer arbeite ich daran, den Unterschied zu verstehen, und als ich mir eine kleine Saz bestellte, fand ich heraus, dass die Bünde so angebracht waren, dass man Dritteltöne spielen konnte.

Ich wusste nicht viel damit anzufangen. Ich kannte keine Musik, die man mit einer Saz oder Bağlama spielen konnte.

Aber ich begann zu verstehen, dass Partch kein Irrer war, und auch keine Ausnahme.

In der indischen Musik gibt es 22 Töne pro Oktave, die sie Shrutis nennen. In der arabischen Musik sind Vierteltöne etwas völlig Normales. Verwunderlich finde ich im Nachhinein, dass ich überhaupt so verwundert sein konnte über die Existenz von Tönen zwischen unseren Tönen. Dass ich in Zeiten der globalen Vernetzung, der weltumspannenden Freundschaften und Zusammenarbeiten so lange in der Überzeugung leben und musizieren konnte, dass unsere Töne die einzigen sind.

Der Tonraum ist durchgehend und bruchlos. Mit der Stimme kann ich von ganz oben nach ganz unten gehen, ohne an der Schwelle eines Halbtonschritts zu stolpern. Wie dieser kontinuierliche Tonraum gegliedert ist, ist eine Frage von Traditionen. Diese Traditionen haben sich in der westlichen Welt der klassischen Musik verhärtet: Wir haben seit etwa einhundertfünfzig Jahren kaum neue Musikinstrumente in unser Repertoire aufgenommen. Die Elektronik kam dazu, aber der Konzertflügel als Herzstück des Konzertsaals steht noch da, wo er stand.

Mit dem Klavier als zentralem Tasteninstrument schrieben sich die zwölf Töne pro Oktave fest. Auch der Synthesizer änderte daran nichts. Mit den „Klassikern“ der westeuropäischen Musik haben wir auch die zugehörigen Instrumente exportiert, das Konzert- und Ausbildungssystem, die halbtönige Notation. Es wurde schwer, etwas Anderes zu denken.

In meiner Aufgewachsenheit in dieser jahrhundertealten Idee von klassischer Musik kamen mir Partchs Visionen wie eine verirrte Seifenblase vor – sogar achtzig Jahre später noch. Do It Yourself, sagt er mit seinem Werk. Er sagt es nicht wie später die Punks durch Lautstärke und Nieten, sondern durch die Schöpfung einer Gegenwelt.

Musik und Musikgeschichte, selbst Musiktheorie, sind also nicht unpolitisch. Sie normieren, sie wählen aus, was man als Musik kennt und kennenlernt; sie grenzen ein und aus, etablieren Ideen – und können etablierte Ideen infrage stellen.

Mit der Zwölftonskala verbreitete sich infolge von Globalisierung (und Kolonialismus) eine musikalische Sprache, in der man sich über weite Strecken verständigen kann, die aber auch die Vielfalt der Töne schwerer sichtbar machte.

Es ist schwer, von einer mikrotonalen Strömung oder Bewegung zu sprechen, da vor allem die frühen Mikrotöner zum Einzelkämpfertum neigten.

In den letzten Jahren hat sich der unter anderem von Harry Partch inspirierte Johnny Reinhard um die tonale Vielfalt verdient gemacht. Der Fagottist und Komponist organisiert das AFMM, das American Festival for Microtonal Music. Er interpretiert regelmäßig Partch-Stücke.

Johnny Reinhard plädiert für die 128-Ton-Skala. Ja, 128 Töne pro Oktave. Er hat musikalische Virtuosen aus der ganzen Welt ins Boot geholt und spielt mit ihnen Konzerte in der 128-Stimmung. Diese Stimmung kann so ziemlich alle Tonskalen abbilden: arabische, asiatische, mittelalterliche, byzantinische, altgriechische. Es ist ein großer Aufwand, keine Musiken auszuschließen.

Neben dem Berliner Saxophonisten Philipp Gerschlauer ist auch Tolgahan Çoğulu vom Microtonal Guitar Duo bei Reinhards 128er-Crew involviert. Auf YouTube zeigt er zwei seiner mikrotonalen Gitarren mit festen Bünden, die erlauben, auf der Gitarre unter anderem traditionelle Bağlama-Stücke zu spielen.

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Die Töne zwischen den Tönen sind nicht verloren gegangen. Immer wieder finden sich Menschen, die den Tonraum neu entdecken und entwerfen wollen. Sie orientieren sich häufig an ganz alter Musik oder arbeiten quer über den Globus zusammen.

Und meine eigenen Mikrotöne? Vor zwei Jahren habe ich in Berlin mit einem Ukrainer zusammen eine Gitarre zur Vierteltongitarre erweitert, mit der Säge zwischen zwei Bünden angesetzt und Bunddraht dazwischengebaut. Es wäre gelogen, zu sagen, dass ich seither besonders viel Vierteltonmusik gemacht hätte.

Aber ein wenig befreiend fühlte sich das Sägen schon an.

Titelbild: Sazspieler in Selçuk, Westtürkei. Foto: Klaus-Peter Simon via Wikimedia Commons, CC-BY-3.0

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