In der SPD herrschten nach der Kür von Martin Schulz zum Kanzlerkandidaten Euphorie und Aufbruchstimmung. Nicht zuletzt der Kandidat träumt von der Kanzlerschaft. Doch die Landtagswahlen im Saarland, in Schleswig-Holstein und in Nordrhein-Westfalen haben gezeigt, dass aus Personalien allein keine Regierungsmehrheit folgt. Um beim Wähler nachhaltig zu punkten, braucht man Inhalte. Schulz’ erste zaghafte Versuche in diese Richtung gingen die meiste Zeit nicht über Schlagworte hinaus: Die Agenda 2010 wolle er reformieren und für mehr soziale Gerechtigkeit in Deutschland sorgen. Letzteres hatten sich zuvor schon Grüne und Linke aufs Plakat geschrieben. Die Forderung findet in der Regel Anklang – wie könnte es auch anders sein? Aber was genau bedeutet es, wenn ein Staat sozial gerecht ist? Und was müssen wir in Deutschland ändern, damit ein sozial gerechter Staat entsteht?
Sozial ist, was bildet
Im politischen Diskurs geht es beim Thema soziale Gerechtigkeit meist um Mindestlöhne oder die Umverteilung von Wohlstand durch Fiskalpolitik. Dabei handelt es sich jedoch im Kern nur um die Behandlung von Symptomen, die keine dauerhafte Verbesserung erreichen wird, wenn nicht gleichzeitig auch die Ursachen sozialer Ungerechtigkeit angegangen werden.
Soziale Gerechtigkeit heißt für uns, dass jeder Mensch unabhängig von sozialer Herkunft die Möglichkeit erhält, seine individuellen Potenziale zu entfalten und entsprechend seiner Fähigkeiten und Eigenschaften am sozialen Leben der Gemeinschaft teilzuhaben. Sie ist untrennbar mit gleichen Bildungschancen und der Perspektive eines sozialen Aufstiegs durch diese Bildung verbunden. Diese soziale Mobilität ist das Element, das jeder neuen Generation Antrieb verleiht, nicht im Status quo zu verharren, sondern nach mehr oder wenigstens nach etwas anderem zu streben.
In Deutschland jedoch glauben viele Menschen an genau diese Perspektive nicht mehr: Man kann sich nur mit Mühe vorstellen, dass aus der Tochter eines Sachbearbeiters oder einer Aushilfe jemals eine Raumfahrtingenieurin wird. Oder dass der Sohn eines Kanalarbeiters überhaupt die allgemeine Hochschulreife erlangt, die ihm ein Medizinstudium ermöglichen würde. Es fehlt an sozialer Durchlässigkeit, weil die Bildung der Eltern auch die Bildungs- und Aufstiegschancen der Kinder bestimmt und so das Leben vieler Kinder bereits bei Geburt vorgezeichnet ist.
Mehrere Studien vergangener Jahre belegen für Deutschland einen deutlichen Zusammenhang zwischen Bildungserfolg und sozialer Herkunft (siehe Bildungsgerechtigkeit in Deutschland 2016, Bildung in Deutschland 2016, Chancenspiegel 2014), den auch die OECD in ihren Bildungsberichten bestätigt (2016, 2015, 2014, 2012). Dieser Zusammenhang lässt sich bereits im Kindergartenalter nachweisen und intensiviert sich bis zu Berufswahl und -einstieg. Besonders dramatisch ist die Situation für Kinder mit Migrationshintergrund: Etwa ein Viertel von ihnen wird als sprachförderbedürftig eingestuft und deshalb häufig verspätet eingeschult, sodass ihnen bereits im Alter von 6 bis 7 Jahren ein Nachteil gegenüber ihren Altersgenossen entsteht. Der Übergang zur Sekundarstufe ist ein weiterer Meilenstein, an dem sich herkunftsbedingte Unterschiede manifestieren: Bei gleicher Begabung und Leistung hat ein Kind eines Professors hierzulande eine 2,5 Mal höhere Chance, eine Gymnasialempfehlung zu erhalten, als das Kind eines Facharbeiters. Im weiteren Verlauf ihrer Bildungskarriere haben Kinder aus bildungsfernen Elternhäusern oder mit nicht-deutschen Elternteilen im Schnitt schlechteren Zugang zu Bildungsangeboten, nutzen diese seltener und erreichen vergleichsweise schlechtere Schulabschlüsse. In der Konsequenz liegt die Wahrscheinlichkeit, dass ein Arbeiterkind studiert, bei lediglich 23 Prozent, wohingegen 77 Prozent Akademikerkinder den Weg an die Universitäten und Fachhochschulen einschlagen.
Bildung als Schlüsselbereich
Wie problematisch diese Zustände sind, wird deutlich, wenn man sich die Bedeutung von Bildung in unser Gesellschaft vor Augen führt und die Effekte, die ein Mangel an Bildung für den Einzelnen und die Gemeinschaft bedeuten: Bildung und die damit verbundenen Perspektiven helfen, Gewalt und Kriminalität zu reduzieren, u.a. weil sie die Chancen am Arbeitsmarkt drastisch erhöhen und eine Universitätsbildung die Gefahr, langzeitarbeitslos zu werden, drastisch verringert. Arbeitslosigkeit wiederum ist ein wesentlicher Faktor für A(ltersa)rmut, Frustration, soziale Isolation und die daraus resultierenden psychischen und physischen Probleme – Probleme, für deren Vermeidung oder Beseitigung wiederum die Gemeinschaft mit Steuergeldern aufkommen muss, sodass Mehrinvestitionen in Bildung volkswirtschaftlich sinnvoll und vernünftig sind. John F. Kennedy sagte einst: “Es gibt nur eins, was auf Dauer teurer ist als Bildung: keine Bildung”
Auch im Kampf gegen Extremismus und Populismus leistet Bildung einen wesentlichen Beitrag, weil sie die Fähigkeit zur politischen Auseinandersetzung sowie die Bereitschaft zur politischen Teilhabe erhöht. Schließlich erhöht Bildung im Idealfall auch die Toleranz gegenüber unseren Mitmenschen – Ausnahmen gibt es natürlich auch hier.
Vereinfacht gesagt ist Bildung Ursachenbekämpfung einer Vielzahl gesellschaftlicher Herausforderungen und Probleme.
Ihre Bedeutung für unsere Gesellschaft kann nicht überschätzt werden und doch lassen wir zu, dass sie und ihre Vorteile nicht gerecht verteilt werden. Wir lassen zu, dass Kinder aus “Problemfamilien” auf “Problemschulen” in “Problemvierteln” gehen. Wir unternehmen nichts dagegen, dass Erzieher und Lehrer die Aufsicht über so viele Kinder haben, dass eine individuelle Förderung auf der Strecke bleibt und wir verstehen, dass Unternehmen bei der Stellenvergabe auf Praktika, Fremdsprachenkenntnisse und Auslandsaufenthalte Wert legen, bieten aber wenig Möglichkeiten für Kinder aus sozial schwachen Familien, sich dies auch zu erlauben.
Für eine Gesellschaft, die optimistisch und nicht voller Paranoia in die Zukunft sieht, die ihren Kindern Perspektiven eröffnet und jeden Tag den Beweis dafür liefert, dass diejenigen, die sich anstrengen, auch alles erreichen können, sind fundamentale Veränderungen und Maßnahmen erforderlich, die Bildungschancen erhöhen und soziale Mobilität fördern.
Bessere Bildung durchsetzen
Bildung muss wieder stärker in den Fokus der politischen und zivilgesellschaftlichen Diskussionen und Anstrengungen rücken. Die umfassende Bedeutung, die ihr innerhalb unserer Gesellschaft zukommt, muss auch für diejenigen spürbar sein, deren Alltag sie bestimmt und die sich gegenwärtig viel zu oft als lästige Bittsteller behandelt fühlen müssen: Chronisch unterfinanzierte, teilweise baufällige Schulen können nicht nur Schülern und Eltern den Eindruck vermitteln, ihre Interessen wären maximal zweitrangig. Auch Lehrer und Direktoren, die einst mit dem Idealismus angetreten sind, Kinder auf ihre Zukunft vorzubereiten und ihnen Mentoren und Vertrauenspersonen zu sein, werden konfrontiert mit ständig anspruchsvolleren Lehrplänen, großen Klassen, Personalknappheit und Respektlosigkeit ihrer ganzen Innung gegenüber. Ihr Job ist nicht einfacher geworden, verlangt ihnen körperlich und vor allem emotional enorm viel ab und doch fehlt die gesellschaftliche Wertschätzung dessen, was sie tagtäglich bewerkstelligen. Fast ein Drittel der Lehrer leidet an dauerhafter Erschöpfung oder Burn-Out-Syndrom, wie der Aktionsrat Bildung feststellt. Es bestehen Unzulänglichkeiten im System, die viel zu selten adressiert und viel zu bereitwillig toleriert werden. Um den monetären Druck von den Schulen zu nehmen, sollte das Kooperationsverbot fallen. Bund und Länder sollten zudem gemeinsam daran arbeiten, die Lern- und Lehrbedingungen deutschlandweit zu verbessern.
Auch sollte die Bedeutung von Kindertagesstätten als Teil des Bildungssystems nicht länger etwa durch Kita-Gebühren konterkariert werden. Soziales Verhalten, Sprache und kognitive Fähigkeiten werden entscheidend im frühkindlichen Alter geprägt, in dem die Grundsteine für die Entwicklung der Kinder gelegt werden. Umso wichtiger ist es, dass alle Kinder eine Kita kostenfrei besuchen können und gerade einkommensschwache Familien nicht aufgrund der Gebühren davor zurückschrecken, ihre Kinder in die Kita zu schicken.Bildung, gerade die unserer Jüngsten, bildet die Grundlage für eine gerechtere, sozial mobilere Gesellschaft und geht somit uns alle an. Entsprechend ist es gerechtfertigt, sie aus dem Budget der Allgemeinheit zu finanzieren.
Zu guter Letzt müssen wir auch dafür sorgen, dass die vielen ehrenamtlichen Kräfte, die sich in zivilgesellschaftlichen Initiativen der Kinder- und Jugendförderung jenseits staatlicher Angebote widmen, für ihr Engagement mehr Anerkennung erfahren. Beispielsweise indem bürokratische Hürden bei der Beantragung kleinerer Geldbeträge abgebaut werden oder von Seiten staatlicher Institutionen mehr Sachmittel – wie Räumlichkeiten – bereitgestellt werden, in denen sie ihrer Arbeit mit den Kindern und Jugendlichen nachgehen können. In der Realität investieren heute viele Ehrenamtliche nicht nur Zeit, sondern auch eigenes Geld, um Kindern lokal und unentgeltlich Bildungsangebote zu machen. Zwar sind große Fördertöpfe vorhanden, allerdings bringen die oft umfangreichen Antragsprozesse gerade kleine Initiativen dazu, von einer Bewerbung abzusehen, weil der Aufwand schlicht unverhältnismäßig wäre. Wenn wir weiterhin möchten, dass Menschen sich ehrenamtlich engagieren, um Kindern bessere Zukunftschancen zu ermöglichen und die Lücken im Bildungssystem zu kitten, sollten wir uns bemühen, ihnen dieses Engagement zu erleichtern.
Was müssen wir tun?
Wie ließe sich nun die Bildungsdebatte beleben? Zum Beispiel durch Einbeziehung derjenigen, die von ihr am unmittelbarsten betroffen sind. Was würde dagegen sprechen, der Gesamtlehrerschaft und der Gesamtschülerschaft die Gelegenheit zu geben, in einem formalisierten Verfahren wenigstens einmal pro Jahr eine begrenzte Anzahl politischer Forderungen an die Bundes- und Landesbildungsminister zu stellen? Forderungen, mit denen sich die Ministerkonferenz verbindlich und öffentlich auseinandersetzen müsste.
Wie wäre es zudem mit einem öffentlichen „Feiertag der Bildung“, der dem Thema die gebührende gesamtgesellschaftliche Aufmerksamkeit verschafft sowie Raum für Dialog und Vernetzung bietet? Eine zivilgesellschaftliche Initiative in diese Richtung gibt es bereits – würde diese von der Politik aufgegriffen, wäre es ein richtungsweisendes Symbol. Auch über Wettbewerbe ließe sich mehr Aufmerksamkeit für gelungene Projekte, Initiativen und engagierte Menschen schaffen sowie eine Zusammenarbeit mit den Vertretern von Politik und Verwaltung initiieren.
Als Informationsgesellschaft, in der geistige Arbeit die körperliche zunehmend verdrängt, erscheint es umso fahrlässiger, wenn wir zulassen, dass unsere Kinder und Jugendlichen nicht ausreichend gefördert werden, ihre Talente und Fähigkeiten zu entwickeln, ihre Kreativität zu praktizieren und ihre Ambitionen zu verfolgen – nur, weil sie im „falschen“ Teil der Stadt aufwachsen oder ihre Eltern keine Akademiker sind. Als Gesellschaft haben wir alle ein Interesse daran, Kindern Perspektiven zu bieten und Aufstiegsmöglichkeiten zu stärken, um ein weiteres Auseinanderdriften sowie sozialen Unfrieden zu verhindern. Mehrausgaben für Bildung sind sinnvoll, weil es wenige Investitionen mit vergleichbar hohen Renditen gibt und auch weil sie die Grundlage für den Erhalt des „Sozialen“ in der sozialen Marktwirtschaft bilden.
Dieser Beitrag wurde von Jenny Laube und Natalya Nepomnyashcha verfasst. Die Autorinnen engagieren sich für Netzwerk Chancen – eine unabhängige Plattform, die durch einen gesamtgesellschaftlichen Dialog Lösungsansätze für mehr Chancengleichheit für Kinder und Jugendliche aus sozial schwachen Familien erarbeitet.