Wir möchten neben kürzeren Kommentaren und längeren Essays nun auch, in unregelmäßigen Abständen, Rezensionen veröffentlichen. Darin muss es nicht notwendig um gerade Erschienenes gehen; wichtig ist nur, dass es, auf welche Weise auch immer, unsere Zeit betrifft. Den Anfang macht Dariyas Rezension des neuesten Buches von Albrecht Koschorke, die (und das) uns eines in Erinnerung ruft: Was wir über unsere Gesellschaft, ja über die Welt, in der wir leben, wissen, wissen wir durch Erzählungen. –Sören
Albrecht Koschorke: Wahrheit und Erfindung. Grundzüge einer Allgemeinen Erzähltheorie, Frankfurt a. M. 2012
„Am Anfang war Napoleon.“
„Am Anfang war keine Revolution.“
„Im Anfang war das Reich.“
Mit diesen Setzungen beginnen drei prominente Historiker – Thomas Nipperdey, Hans-Ulrich Wehler und Heinrich August Winkler – ihre großen Narrative zur deutschen Geschichte der Neuzeit. Die Bedeutung dieser Anfänge, dieser ersten Sätze für die darauffolgende Geschichte (story, nicht history), für das Was und das Wie der historischen Darstellung, hat Gordon Craig sich und seinen Lesern durch die kritische Nachfrage „Ist es ein Fehler, bei Bismarck anzufangen?“, mit der er seine Deutsche Geschichte 1866–1945 beginnt, vor Augen geführt. Der Anfang jeder Geschichte ist, wie die Beispiele zeigen, immer bewusst gewählt und nie notwendig – genauso wie ihr Ende. Er bestimmt einerseits, ob man eine Geschichte der großen Männer, eine Sozial- oder eine Ideengeschichte erzählt. Andererseits entscheiden Anfang und Ende z. B. bei Konflikterzählungen Fragen nach Verantwortung und Schuld der Beteiligten verleihen so jeder Erzählung eine signifikante Erklärungsmacht.
Die Frage nach Anfang und Ende eines Narrativs, die durch eine bewusste, normative Entscheidung gesetzt werden, ist auch für den Konstanzer Literaturwissenschaftler Albrecht Koschorke in seiner im Frühjahr 2013 erschienenen Monographie entscheidend. Oder sie hätte es sein sollen. Wie der Leser im letzten Kapitel erfährt, hätte das Buch ein Anderes werden sollen. Es sollte die Anfangsprobleme von Groß- und Ursprungserzählungen thematisieren, die laut Koschorke eine spezifische Binnenperspektive herstellen: Mit der Setzung eines Anfangs werden Phänomene und Konzepte, die in Bezug darauf älter sind, also in einer Vorzeitigkeit stehen, für inexistent erklärt. Das seien z. B. „die Welt vor Erschaffung der Welt, das Denken vor dem Einsetzen des Denkens, die Gesellschaft, die den Gesellschaftsvertrag abschließt“. Bevor der Autor dem Erzählen jedoch diese transzendentale Qualität zuspricht, über Zeit und Raum zu stehen und zu walten, will er seine ontologische Rolle in allen Wissensordnungen nachzeichnen. Deswegen also die vorliegende Studie, die Koschorke als eine „elementare Verständigung“ bezeichnet.
„Die Macht der Geschichten. Erzähltheorie reloaded“ weiterlesen