Dieser Artikel ist der erste in einer Reihe über den Einfluss der ‚Sharing Economy‘ und ‚On-Demand Economy‘ auf Wirtschaft und Gesellschaft. Die Fortsetzung findest du hier.
Wenn Isabelle pünktlich sein möchte, muss sie früh aufstehen. Die Busverbindung von Baracoa, einem Vorort Havanas auf Kuba, bis zur Universität schlängelt sich mitten durch die Stadt. Der Bus benötigt dafür gute vierzig Minuten – eine Fahrzeit, die sie mit Frankfurter Großstadtverweigerern und dem Berliner Durchschnittspendler teilt. In sehr unregulierten Teilen Deutschlands, wie zum Beispiel dem Hauptstadtbezirk Neukölln mit seiner Buslinie M41, kommt es darüber hinaus auch mal zu Verzögerungen und sogar ganzen Ausfällen, die in gruppentherapeutischen Maßnahmen medienwirksam aufgearbeitet werden müssen. Grund zur Beschwerde gibt es dagegen bei Isabelle nicht, denn wo kein Busfahrplan existiert, gibt es auch keinen Anspruch auf Regelmäßigkeit. „Er kütt wenn er kütt“, würde der Kölner sagen.
Ganz so gelassen sehen das jedoch nicht alle Deutschen. Zum Beispiel, wenn es darum geht, Schuhe pünktlich an den Mann oder die Frau zu bringen. Was hier dank deutscher Sekundärtugenden und einer gewachsenen Infrastruktur mehr oder weniger reibungslos über die Straßen geht, ist auf Kuba nicht möglich. Die Infrastruktur gibt es nicht her und politisch ist es (noch) nicht gewünscht. Isabelle muss also noch warten, um, vor Glück schreiend, ihre neuen Zalando-Schuhe entgegennehmen zu dürfen.
Expansion
Die Samwer-Brüder möchten so lange aber nicht warten, und damit sind sie nicht alleine. Sie wollen ihre Waren über das Internet an den jauchzenden Endkunden vertreiben. Dafür benötigen sie eine Versandinfrastruktur und Kunden mit Internetanbindung. Das funktionierte zuerst in den Vereinigten Staaten und kurze Zeit später auch in Europa. Danach wagten sich die ersten Internetunternehmen nach Südamerika, Russland und auch Südostasien. Je mehr die Sättigung in den entwickelten Heimatmärkten voranschreitet, desto attraktiver wird die Ausdehnung in Regionen, in denen die zwei Voraussetzungen nur teilweise oder sogar gar nicht erfüllt sind. In dem Fall ist es günstiger, eine ganze Infrastruktur zu schaffen und dadurch Kunden zu erschließen, als die letzten Onlineverweigerer aus der alten Welt durch noch mehr und noch feingesteuertere Werbung zu überzeugen. Also testet Facebook Wifi-Drohnen, um Afrika das Internet zu bringen, während die Samwer-Brüder mit dem Amazon-Klon Jumia die Versandinfrastruktur schaffen. Das ist sicherlich keine Philantrophie, aber man könnte markig bemerken: „Das Einzige, was schlimmer ist, als vom Kapitalismus ausgebeutet zu werden, ist nicht vom Kapitalismus ausgebeutet zu werden“.
Ist Kuba also schlicht eine präkapitalistische Gesellschaft, die nach rhodesschen Gedanken erst einmal erschlossen werden müsste? Der Brite Cecil Rhodes hatte im Eifer der Kolonialisierung versucht, den afrikanischen Kontinent mithilfe einer Eisenbahn zugänglich zu machen. Mit dem Vorhaben ist er gescheitert, aber seine Karikatur ist in Erinnerung geblieben. Auf Kuba hat diese Kolonialisierung erfolgreich stattgefunden, wurde jedoch mit der Revolution rückabgewickelt. Seitdem muss etwas auf der Insel funktionieren, denn trotz der anhaltenden Anstrengungen der Amerikaner, Kuba zu isolieren, und dem Mangel an Bodenschätzen funktioniert die Grundversorgung, das Bildungssystem und die medizinische Versorgung. Die Kubaner haben gelernt, aus wenig viel zu machen.
Erschließung
Das, was bei uns unter „Sharing Economy“ firmiert, ist kubanischer Alltag: Es wird gepoolt, geshared, upgecycled, gecouchsurfed, gecrowdfunded, co-consumed und micro-services werden angeboten. Der grundlegende Gedanke, nämlich die schonende Nutzung von Ressourcen, ist ähnlich, die Begriffe aber natürlich andere und auf Kuba kein Lifestyle-Ansatz, sondern ökonomische Notwendigkeit. Der Harvard-Professor Steven Strauss geht sogar so weit, die wachsende Einkommensungleichheit als unterliegende Erklärung für den Boom der Sharing Economy in den USA auszumachen. ‚Sharing Economy‘ heißt also auch hier nicht flauschige Sozialromantik, sondern rationaler ökonomischer Vorteil. Die Angebote der Sharing Economy erweitern nur das bestehende Angebot. Nehme ich für den nächsten Städtetrip ein Hotel oder passt ein AirBnB-Apartment besser auf meine Bedürfnisse, benötige ich ein eigenes Auto, oder genügt es mir, ab und an ein DriveNow-Auto zu mieten? Aber erst dieser harte Aspekt, diese kompetitive Aspekt, macht die Sharing Economy gesellschaftlich so relevant. Es ist tatsächlich ein alternatives Modell (freie) Ressourcen zu allozieren, anders als die lokale Bettenbörse, die zwar besser meint, aber einfach keinen relevanten Einfluss erreicht.
Anders als auf Kuba haben wir hier jedoch die Wahl, weil die Angebote der ‚Sharing-Ökonomie‘ von ‚regulären Angeboten‘ begleitet werden. Diese regulären Angebote sind so günstig und so gut geworden, dass die FAZ festhält: „Reichtum war noch nie so nutzlos“. Zum Beispiel lässt sich etwas Besseres als ein iPhone auch mit 5.000 Euro in der Tasche nicht finden. Erst die Massenproduktion und der Verteilungsmechanismus des Kapitalismus machen das möglich und sorgen nicht nur für günstige iPhones für die Massen, sondern auch für Infrastruktur, Transport, Wohnraum und Kleidung. „Armut ist die elementarste Entwürdigung, die einem Menschen angetan werden kann. Wer sich dem klassischen Humanismus verpflichtet fühlt, kann Technologien, die die Produktivität und damit den Reichtum der Gesellschaft um ein Vielfaches zu steigern versprechen, schwer ablehnen“, sagt die Chefin der Linken Sahra Wagenknecht. Die freie Marktwirtschaft hat es historisch gesehen zuverlässig geschafft, eben diese Steigerung herbeizuführen:
Wenn Armut also die Abwesenheit von Produkten (oder Dienstleistungen) ist, ist Reichtum die Anwesenheit zur richtigen Zeit am richtigen Ort, in der richtigen Menge und Qualität. „Viel hilft viel“, würde der Deutsche sagen. Mit dem Mantra werden so viele Autos produziert, dass die ersten Haushalte schon drei haben, bis unten dann auch mal eins ankommt. Aber es kommt an, und darum geht es ja.
Wie viele Autos braucht es also um an die Grenze des Wachstums zu gelangen? Was passiert, wenn es immer schwieriger wird, mit dem Gedanken des expansionistischen Wachstums, des Immermehr noch weitere Autos zu verkaufen? Dann geht es um die Bedarfsschaffung, zum Beispiel durch technische Innovation oder geschicktere Werbung. Die ist teuer und konkurriert in einer globalisierten Welt mit anderen Möglichkeiten. Der Möglichkeit nämlich, den Burger nicht einem gesättigten Markt schmackhaft machen zu müssen, sondern abzuwandern, dorthin wo es noch hungrige Konsumenten gibt. Vielleicht haben die Samwer-Brüder mit ihrem Konzern Rocket Internet also erkannt, dass die Grenzkosten für die Gewinnung von neuen Kunden in Deutschland einfach zu hoch sind, und sind deshalb in Afrika aktiv.
Dieses unglaublich erfolgreiche expansionistische Geschäftsmodell der günstigen Bereitstellung von (hochqualitativen) Gütern konkurriert nach Jahrzehnten der Dominanz jetzt mit einem ebenso erfolgreichen Gegenmodell. Denn das, was in seinen Anfängen als ‚Sharing-Ökonomie‘ bezeichnet wird, ist ein Trend mit ähnlicher Intensität und Veränderungskraft. Es geht nicht mehr um die simple Bereitstellung, sondern um eine effizientere Verteilung.
Es ist der Start der Erschließung nach Jahrzehnten der Expansion. Der fängt mit einer effizienteren Verteilung von Eigentum an: Das Luxusauto einer Privatperson zu vermieten, damit auch andere den Komfort zumindest für einen Tag nutzen können, ist zwar clever, aber eine Lösung für ein wohl eher kleines Problem. Groß wird es, wenn es ganz generell darum geht, Produkte und Dienstleistungen intelligenter zur Verfügung zu stellen. Dem widmet sich die On-Demand-Industrie.
Bisher galt AirBnB als klassischer und erfolgreichster Vertreter der On-Demand-Industrie. Zumindest in Deutschland weitgehend unbemerkt hat sich mit Uber nun ein Unternehmen etabliert, das zuletzt mit über 18 Milliarden USD bewertet wurde, auf dem Weg ist, mehr Umsatz als Facebook zu machen, für Taxifahrer viel zu abgefahren ist, obwohl der Personenbeförderungsmarkt wohl eher ein Zwischenstopp sein wird. Uber stellt mit einem dezentralen Fahrernetzwerk Transportlösungen zur Verfügung und erschließt damit die freien Kapazitäten ungenutzter Autos und die Zeit ihrer Fahrer. Bevor man beim Springer-Verlag ‚Google‘ sagen kann, verliert die Deutsche Post also den ersten Auftrag an ein Netzwerk von Amateuren.
So wie Henry Ford vor vielen Jahren mit dem Model-T eines der ersten Beispiele der industriellen Massenfertigung lieferte, bringt Uber das Beispiel für ein On-Demand-Geschäftsmodell. Dabei wird es aber nicht bleiben, denn die technischen Voraussetzungen für den Makrotrend sind bereits gegeben. Die eine Voraussetzung ist die Vermessung unseres Alltags und unserer Bedürfnisse. Transaktionskosten können verhindert werden, indem Bedarf nicht abgefragt, sondern einfach antizipiert wird. Verhalten kann durch den Vergleich historischer Daten oder der Korrelation zur Masse vorhergesagt werden, das kennen wir bereits durch die Antizipation der Suchvorschläge bei Google. Diese Vermessung übernehmen momentan Smartphones und bald Wearables und embedded technology. Die andere Voraussetzung ist die zeitlich und örtlich unabhängige Bereitstellung von Gütern. Dieses Verteilungsproblem wird bis heute klassisch über ein flächendeckendes Filialnetz gelöst und ist damit ziemlich teuer. Die Distribution radikal verändern könnten Transportdrohnen. In Metagefilde geht es dann mit dem 3D-Druck, der zwar tatsächlich revolutionär sein könnte, das aber auch schon zuverlässig seit 25 Jahren verspricht.
Während du gerade langatmige Texte liest, hat sich Isabelle eine Mitfahrgelegenheit organisiert. Die fährt nicht nur zufällig in dieselbe Richtung, sondern ist dabei auch weniger Chauffeur als lebendiger Gesprächspartner. Isabelle kann also auf Uber verzichten. Auf die neue Verschlusskappe für ihre Nikon-Kamera jedoch nicht. Die lässt sie sich vorsichtshalber lieber aus Deutschland mitbringen.
Dieser Artikel soll zeigen, dass die On-Demand-Industrie einen großen Einfluss haben könnte und die Verteilung von Gütern und Dienstleistungen nachhaltig ändert. Aber nicht alle Veränderungen sind auch wünschenswert. Im Folgeartikel geht es um den Einfluss, den die On-Demand-Industrie auf die Gesellschaft und unseren Umgang miteinander haben könnte.
Als nerviger Historiker-Einwand fiele mir ein: Haben Expansion und Erschließung nicht „schon immer“, jedenfalls im Kapitalismus (d. h. seit ca. 200, meinetwegen, in diesem Fall, 100 oder vielleicht 60, 70 Jahren, d. h. im Massenkonsum) nebeneinander existiert? Bei beidem ist ja ganz einfach Geld zu machen – sowohl über die Erschließung neuer Märkte (= „Expansion“) als auch bei der Verbesserung und Effizienzsteigerung auf schon einigermaßen erschlossenen und relativ (!) „gesättigten“ Märkten. Insofern ließe sich fragen, ob das, was du „Erschließung“ nennst, nicht schon länger existiert. Als beispielsweise das Model-T schon weitgehend verbreitet war, fingen andere Autohersteller an, den Markt mit neuen Modellen aufzufächern (Ford stieg da erst relativ spät ein), sodass es heute verschiedene Autoklassen gibt, vom Twingo zum SUV.
Dass es neben dem Model-T noch einen Twingo und einen Porsche gibt ist Produktdiversifikation. Das könnte schon die Erschließung eines Marktes sein (nämlich die Erschließung der verschiedenen Bedürfnisse des Menschen, die sein Auto erfüllen soll). Aber ob jetzt Diesel oder doch lieber Aral Ultimate 102 interessiert mich hier weniger. Auch vermeintliche Ersatztechnologien und Geschäftsmodelle, wie der Massentransit sind nur scheinbar Ersetzend, denn ihr Grund ist mehr Pendlern das Pendeln zu ermöglichen.
Es gab sie schon die Geschäftsmodelle der On-Demand Industrie, zum Beispiel ist die Volks- und Raifeisenbank eines und der Bausparvertrag im eigentlichen Sinne auch. Flohmärkte, Wohngemeinschaften, schwarze Bretter haben alle die bessere Distribution von existierenden Ressourcen im Sinn, konnten aber nie den inhärenten Wert auch sichern (waren also als Geschäftsmodell wertlos). Durch dramatisch niedrigere Transaktionskosten ist aber genau das jetzt möglich.