Die Leitkultur-Lüge

Die Stimmung, so meinen manche Beobachter, ist gekippt. Eine Umfrage behauptet, dass mittlerweile die Mehrheit der deutschen Bevölkerung im Umgang mit der Flüchtlingskrise ängstlicher geworden sei und die ihr aus der Zuwanderung vermeintlich entstehenden Nachteile stärker gewichtet als Mitleid und Zuversicht. Medien wie die ARD, die die Umfrage in Auftrag gegeben hat, schaffen sich so eine Legitimation dafür, Sichtweisen zu vertreten, die sie selbst hervorgerufen und verbreitet haben. Denn in der Mediengesellschaft gibt es eine enge Korrelation zwischen den in den Massenmedien kolportierten Meinungen und dem, was als Ergebnis bei derlei Umfragen herauskommt: Wenn die Massenmedien die Chancen der Zuwanderung und berechtigtes Mitleid mit den Flüchtlingen in den Vordergrund stellen, geben Umfragen anschließend diese Narrativierungen wieder; wenn sie stattdessen Schwierigkeiten, Probleme und „Herausforderungen“ betonen, kommt auch das in den Meinungsumfragen an. „Was wir über die Welt wissen“, meinte Niklas Luhmann sehr richtig in Die Realität der Massenmedien, „wissen wir durch die Massenmedien“. Wie sollte unter diesen Umständen eine Meinungsumfrage das wiedergeben, was „die Leute“ „wirklich“ denken, also ohne Beeinflussung durch die Massenmedien? Anders gesagt: Die Stimmung kippt nicht, sie wird gekippt – von Medienmachern und Politikern. Wenn man also verstehen will, ob oder warum „die Stimmung kippt“, muss man nach sich ändernden Erzählungen suchen, die bestimmte Stimmungen begünstigen und andere in den Hintergrund drängen.

Dabei wird man schnell fündig: Nachdem die wichtigsten deutschen Medien eine (im Nachhinein betrachtet ziemlich kurze) Zeitlang die positiven Seiten des Flüchtlingszustroms betont hatten, entsteht nun eine neue Erzählung. Es gibt eine neue Leitkultur-Debatte in Deutschland, auch wenn sie nicht immer mit diesem Begriff operiert. Diese neue Erzählung funktioniert im Kern anhand eines simplen Wir–Sie-Schemas: „Wir“, die Deutschen, die Europäer, die Bewohner des Westens, sind tolerant, liberal und aufgeklärt. Wir respektieren Homosexuelle, wir haben die Gleichberechtigung von Frauen und Männern verwirklicht, wir sind säkular und demokratisch, und mit Antisemitismus haben wir nichts am Hut. Wir stehen auf einer höheren kulturellen, zivilisatorischen Stufe. „Sie“ hingegen, die Flüchtlinge und Migranten, müssen auf dieser Stufe erst noch ankommen. Sie sind unaufgeklärt, rückschrittlich, intolerant, antifeministisch, homophob und antiliberal. „Sie“ müssen in diesem Modell genauso werden wie „wir“, denn „wir“ sind super.

Beweisstück I: Die neue Leitkultur-Kampagne der CSU

Es lohnt sich, das anhand einiger Beispiele näher zu analysieren. Eine wichtige Rolle bei der Entwicklung dieser Erzählung hat, wie es scheint, die CSU gespielt. Nachdem Generalsekretär Andreas Scheuer bereits Ende September gefordert hatte, Flüchtlinge müssten sich zur „deutschen Leitkultur“ bekennen, veröffentlichte die CSU am 30. September auf ihrer Facebook-Seite (die zu den gruseligsten und deprimierendsten Seiten gehört, die man im deutschsprachigen Internet finden kann) ein Video, in dem der extra aus der Versenkung hervorgeholte Edmund Stoiber verkündete:

Ja, ich sage immer: Die deutsche Leitkultur ist äh das Grundgesetz äh der Bundesrepublik Deutschland. Hier sind alle wesentlichen Regeln enthalten, wie unser Volk leben will, das heißt äh ganz besonders natürlich, um mal herauszugreifen: die Gleichberechtigung von Mann und Frau, die Freiheitsrechte, Freiheitsrechte wie Pressefreiheit, Gewissensfreiheit, Glaubensfreiheit, darin liegt natürlich die Toleranz äh, das Toleranzgebot, die Trennung von Staat und Kirche, die auch deutlich macht, dass Glauben äh, eine Privatsache ist, und das sind wesentliche Regeln. […] Das alles muss derjenige akzeptieren, mit übernehmen, der in Deutschland leben will. Und äh wie man das jetzt ich sage das ist sozusagen die Leitkultur die in vielen vielen Jahrhunderten in Deutschland entstanden sind und äh das äh ist nicht veränderbar.

In vielerlei Hinsicht ist hier etwas Bemerkenswertes geschehen. Zunächst einmal ist es erstaunlich, dass der Begriff „Leitkultur“ überhaupt bemüht wird, obwohl er in den letzten Jahren ebenso in der Versenkung verschwunden war wie Edmund Stoiber. Noch erstaunlicher aber ist, in welchem Sinn Stoiber den Begriff nun verwendet, nämlich im Sinne des Verfassungspatriotismus – Stoiber klingt auf einmal wie Jürgen Habermas. Dass „deutsche Leitkultur“ mehr oder weniger dasselbe sei wie das Grundgesetz, ist ein ganz anderer Ansatz, als ihn die ursprüngliche Leitkultur-Debatte um das Jahr 2000 noch verfolgt hatte. Auf dem Politischen Aschermittwoch der CSU in Passau 1999 hatte Stoiber selbst noch erklärt: „Wir wollen, dass die christlich-abendländische Kultur die Leitkultur bleibt und nicht aufgeht in einem Mischmasch.“ Andreas Scheuer hat diese alte Linie gerade wieder aufgegriffen, indem er (wohl auch, unausgesprochen, gegen Stoiber) klarstellte: „Deutsche Leitkultur ist viel mehr als das Grundgesetz: Dazu gehören unsere Traditionen, unsere Lebensweise und unsere gemeinsamen Werte. […] Integration kann nicht bedeuten, dass sich die einheimische Bevölkerung und die Flüchtlinge auf halbem Weg treffen und daraus eine neue Leitkultur entsteht. Es gibt bei der Leitkultur nur eine Richtung: Unsere Werte akzeptieren!“ Damit hat der Begriff denn auch seinen alten Vorteil zurückgewonnen: Von Bratwurst und Gartenzwerg bis zu blonden Haaren und weißer Hautfarbe kann damit so ziemlich alles gemeint sein.

flüchtlinge mazedonien grenzübergang
Eine Bedrohung für das Grundgesetz? Flüchtlinge auf der „Balkan-Route“ an der griechisch-mazedonischen Grenze im August 2015
Bekanntlich ist Unsere Zeit fast immer angestrengt optimistisch und positiv, und deshalb komme ich an dieser Stelle nicht umhin, zuzugeben, dass Stoibers heutige Version der „deutschen Leitkultur“ einen deutlichen Fortschritt gegenüber der älteren, tumben Tümeligkeit markiert, die Leute wie Scheuer noch immer vertreten. Es ist gut, dass sich mittlerweile sogar stramm Konvervative wie Stoiber mit dem deutschen Grundgesetz identifizieren. Es ist aber auch wichtig, darauf hinzuweisen, dass das eine Neuheit ist – und dass Stoibers Gerede damit und überhaupt eine fundamentale Lüge enthält, die die Exklusion des „Anderen“ in Deutschland mit einem neuen Narrativ und dadurch mit ganz neuer Kraft versieht. Denn das Grundgesetz ist zwar geltendes deutsches Recht, es ist aber gerade nicht deutsche „Leitkultur“ in dem Sinne, dass es quasi natürlich und schon immer in Deutschland konfliktfrei gelebt worden wäre. Ganz im Gegenteil musste und muss es seit seinem Inkrafttreten beständig gegen Verfassungsfeinde wie Stoiber und Scheuer verteidigt werden. Oder anders gesagt: Wenn das Grundgesetz, wenn Toleranz, die Gleichberechtigung von Frauen und Männern, Glaubens- und Gewissensfreiheit die „deutsche Leitkultur“ ausmachen, dann war die CSU – und der deutsche Konservatismus generell – schon immer ein Feind Deutschlands. Die Integration der Konservativen in die deutsche Leitkultur ist dann ein – nach dem Gebrabbel der Seehofers, Scheuers und Söders zu schließen – bis heute nicht abgeschlossenes Projekt.

Beweisstück II: Rechte Propaganda in der ARD

Das ist aber nur der erste Teil der Leitkultur-Lüge. Um den zweiten Teil etwas näher zu beleuchten, nehmen wir ein zweites Beweisstück hinzu: Den Bericht aus Berlin der ARD vom 4. Oktober 2015, der bereits für einige Aufregung gesorgt hat. Der Bericht beginnt mit drei Äußerungen von Unionspolitikern, die falscher kaum sein könnten. „An den deutschen Grenzen muss die Zuwanderung von illegalen Ausländern beendet werden. Sie müssen dort zurückgewiesen werden“, meint der stramm rechte CSU-Abgeordnete Hans-Peter Uhl. Leider gibt es aber fast keine legalen Möglichkeiten der Zuwanderung nach Deutschland, auch nicht für Asylberechtigte. Das weiß Uhl auch, und deswegen ist seine Aussage schlicht ein Aufruf zur Abschaffung des grundgesetzlich garantierten Rechts auf Asyl. So viel zur CSU, dem Grundgesetz und der deutschen Leitkultur. Thomas Strobl von der baden-württembergischen CDU erklärt: „Wer keinen Schutz auf Asyl hat und dennoch in Deutschland einen Asylantrag stellt, der muss gehen und er muss rasch gehen in seine Heimat.“ Dass es gute Gründe geben kann, auch abgelehnte Asylbewerber nicht sofort auszuweisen (z. B. Krankheit oder akute Gefährdung in der Heimat), ignoriert Strobl geflissentlich.
Auch die ARD allerdings ignoriert es geflissentlich. Moderator und Chefredakteur Rainald Becker fühlt sich in keiner Weise herausgefordert, die Aussagen der Unionspolitiker auch nur vorsichtig infragezustellen, wie man es von kritischem Journalismus eigentlich erwarten würde. Stattdessen bewegt sich Becker – und mit ihm die ganze Sendung – ganz auf deren Linie. Zunächst ist da die Bildsprache auf der Leinwand hinter Herrn Becker: Man sieht den Reichstag, umzingelt von Minaretten und bewehrt mit Halbmonden – die einem muskulösen, schwarz-rot-gelbem Arm gegenüberstehen. Dieser wird kurz darauf durch ein Bild von Angela Merkel im Tschador ersetzt. Die wirre Botschaft scheint zu sein: Wir, die Deutschen, sind zwar stark – aber können wir wirklich gegen einen Islam ankämpfen, der so übermächtig ist, dass er die deutsche Regierung übernehmen könnte? Ist Merkel noch unsere Kanzlerin, oder ist sie bereits ein Büttel der Muslime? Die Unterschiede dieser Bildsprache zu rechtspopulistischer, rechtsextremer und neurechter Propaganda sind so klein, dass man sie auch mit einem Rasterelektronenmikroskop nicht erkennen würde.

 

In der Sendung folgt dann ein Bericht von Michael Stempfle, dessen Bildsprache und Kommentar tendenziöser kaum sein könnten:

[Bilder von einem (grünen?) Berliner Volksfest:] So ist Deutschland heute: Männer kümmern sich mit um die Kinder, Frauen verwirklichen sich selbst. Jeder darf glauben, was er will, und [ein schwules Pärchen geht händchenhaltend durch die Straße:] lieben, wen er will. [Schnitt zu Bildern einer trostlosen Flüchtlingsunterkunft, vor der auch zwei muslimische Frauen mit Kopftuch stehen:] Und was kommt jetzt? Wie verändert sich unsere Gesellschaft durch hunderttausende Flüchtlinge mit anderen Werten? Der Bundespräsident mahnt: „Hier werden Errungenschaften wie die Gleichberechtigung der Frau oder homosexueller Menschen nicht infragegestellt und die unveräußerlichen Rechte des Individuums nicht durch Kollektivnormen eingeschränkt – nicht der Familie, nicht der Volksgruppe, nicht der Religionsgemeinschaft.“ Frei übersetzt: Das Grundgesetz steht über dem Islam. Erstaunlich, dass Gauck das sagen muss. Deutschland ist verunsichert – diese Szenen haben mit dazu beigetragen: Schlägereien in Erstaufnahmeeinrichtungen und vereinzelt sogar Vergewaltigungen in Heimen. […] Ein überzeugendes Konzept, wie unsere Werte geschützt werden können, bleibt uns die Politik schuldig.

Wir sehen: Stempfle arbeitet mit derselben Unterstellung wie die CSU – dass nämlich bei „uns“ alles in Ordnung sei, dass hier Frauen und Homosexuelle nicht die geringsten Probleme hätten. In diese Idylle platzen die Flüchtlinge mit ihren fremden Sitten und wollen unsere schöne, tolerante Ordnung zerstören.

 

Fangen wir vorne an: Ist „Deutschland“ heute wirklich so? Ist es wirklich ein Paradies, in dem alle Menschen- und Bürgerrechte, in dem die bedingungslose Gleichberechtigung aller Menschen durchgesetzt ist? In dem es keine Vorurteile, keine Diskriminierung und Unterdrückung aufgrund von Geschlecht, Herkunft, sexueller Orientierung mehr gibt? Wer wie ich in einer katholischen Provinzstadt aufgewachsen ist, weiß, dass davon leider nicht die Rede sein kann. Um nur ein Beispiel zu nennen: Gerade unter Schülern sind Outings Homo- oder Bisexueller weiterhin überaus selten; wer sich doch outet, riskiert Mobbing und Gewalt. Ein Problem sind dabei gerade strenge christliche Vorstellungen einiger Eltern, seien sie nun traditionell-katholisch oder evangelikal – auch das gibt es in Deutschland weiterhin. Es ist auch kein Zufall, dass homosexuelle Paare nur in größeren Universitätsstädten und vor allem in Großstädten wie Köln, Hamburg, Berlin – und zwar meist gerade in deren multikulturellsten Bezirken mit hohen Ausländeranteilen – ein einigermaßen selbstverständlicher Teil des Straßenbilds sind. Von der oft katastrophalen Lage Trans- und Intersexueller ist in diesem Zusammenhang erst gar nicht die Rede; so weit reicht die angebliche Aufgeklärtheit dann doch nicht.

 

Der Beitrag ist aber in beide Richtungen verlogen: Nicht nur zeichnet er ein idealisiertes Bild von Deutschland, vor allem präsentiert er auch ein verzerrtes Bild der Flüchtlinge. Denn woher kommt eigentlich die unhinterfragte Selbstverständlichkeit, mit der Flüchtlingen unterstellt wird, dass sie gegen Frauenrechte, Homosexualität und Glaubensfreiheit sind? Könnte es nicht sein oder ist es nicht vielleicht sogar wahrscheinlich, dass viele Flüchtlinge gerade deshalb hierherkommen, weil sie sich genau den „westlichen“ Liberalismus erhoffen, den die Kommentatoren so gerne beschwören? Könnte es nicht sein, dass es – Gott bewahre! – auch unter den Flüchtlingen Homosexuelle gibt? Wieso genau sind sich Leute wie Becker und Stempfle so sicher, dass sie die Neuankömmlinge so vehement über die Vorteile einer offenen Gesellschaft belehren müssen? Bezeichnend ist auch, wie verfälscht die Rede des Bundespräsidenten am 3. Oktober wiedergegeben wird. Gauck hatte dort nämlich vor allem Zuversicht verbreitet, dass die Aufnahme und Integration so vieler Flüchtlinge zwar nicht unbedingt einfach, aber durchaus schaffbar sei. Der in dem Beitrag zitierte Satz ist deshalb mit Absicht so formuliert, dass er nicht nur auf den Islam anwendbar ist und lässt sich mitnichten so „übersetzen“, wie Stempfle es tut, nämlich mit „Das Grundgesetz steht über dem Islam“. Besonders perfide ist dann der Nachsatz: „Erstaunlich, dass Gauck das sagen muss“. Selbstverständlich muss Gauck das nicht sagen, und deshalb tut er es auch nicht. Es wäre auch dumm, weil ja niemand – erst recht keiner der muslimischen Flüchtlinge – das Grundgesetz öffentlich infragegestellt hat. Die ganze Aufregung um die angeblich verfassungsfeindlichen Flüchtlinge, die hier inszeniert wird, ist eine reine Konstruktion von Medien und rechten Politikern, die damit offenbar Ängste schüren wollen, die sie anschließend ausnutzen können. Dem muss man, müssen wir in aller Schärfe entgegentreten.

Die offene Gesellschaft und ihre Feinde

Das bedeutet selbstverständlich nicht, dass es unter den Flüchtlingen nicht einige gibt, die zu Anfang oder auch auf Dauer Probleme haben werden mit den Möglichkeiten und Anforderungen, die eine offene Gesellschaft ihnen bietet und an sie stellt; mit der Gleichberechtigung von Frauen und Männern; mit den Rechten Trans- und Homosexueller; auch mit der Anerkennung Israels und der Akzeptanz jüdischer Mitbürger. Das ist aber noch lange kein Grund, alle Flüchtlinge pauschal unter den Verdacht zu stellen, sie wollten das Grundgesetz untergraben und zerstören. Ob man bereit ist, anderen Menschen grundlegende Rechte zuzugestehen, ist nicht determiniert durch die Herkunft. Ob jemand für Freiheit, Emanzipation und Menschenrechte eintritt, lässt sich nicht an seiner oder ihrer Hautfarbe erkennen.

 

Die Menschen- und Bürgerrechte, die das Grundgesetz garantiert, die Werte, die nun beschworen werden, sind universell gemeint. Sie haben keinen Ort, und deshalb ist es so arrogant und ignorant, sie zur „deutschen Leitkultur“ zu erklären. Das klingt so, als würde jemand die Luft, die wir alle atmen, zu seinem Eigentum erklären, an dem die anderen nur unter ganz bestimmten Bedingungen teilhaben dürfen. Feinde der offenen Gesellschaft, die eine endgültige Durchsetzung von Emanzipation und Bürgerrechten für alle auch in unserem Land zu verhindern suchen, sind überall zu finden. Es gibt durchaus den Salafisten, der, beruflich und sozial gescheitert, sich auf die Religion zurückzieht, der er zufällig angehört, und sie in einer möglichst radikalen Variante seiner Umgebung ins Gesicht schleudert. Es gibt aber auch die evangelikale Christin, die nicht will, dass ihr Sohn mit schwulen Mitschülern in einer Klasse sitzt; die Oma im Heimatdorf, die nicht versteht, was das mit den Türken und Arabern nun wieder soll, was die hier wollen und warum sie nicht in ihre (so glaubt die Oma) Heimatländer zurückgehen; den Linken, den die Selbstverständlichkeit, mit der in seiner Umgebung auf die USA und Israel geschimpft wird, dazu gebracht hat, das mit der jüdischen Weltverschwörung für gar nicht so abwegig zu halten; den pubertierenden Jugendlichen, der sich in seiner Unsicherheit von der ihm auf der Straße begegnenden Transfrau so provoziert fühlt, dass er sie zusammenschlägt.

 

Es ist unser aller Verantwortung, gegen Hass, Intoleranz und Vorurteile in jeder Form einzutreten. Deshalb müssen wir uns auch gegen Erzählungen wehren, die Menschen aus unserer Gesellschaft ausschließen und Entrechtung und Diskriminierung dadurch erst möglich machen. Die Leitkultur-Lüge, nach der Flüchtlinge eine Gefahr für unsere zivilisatorischen Errungenschaften darstellen, ist eine solche Erzählung. Weit davon entfernt, „unsere“ Werte zu schützen, unterhölt sie in Wahrheit genau die Grundlagen einer freien und offenen Gesellschaft, die in der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte und im Grundgesetz festgelegt sind. Wenn wir den Werten, die wir jetzt für uns reklamieren, genügen wollen, müssen wir die Flüchtlinge, die nach Europa kommen, nicht als Teil einer gefährlichen Gruppe betrachten, sondern als Individuen – als Menschen.

 

Bild: CC-by-SA, Urheber: Dragan Tatic, via Wikimedia Commons, aufgenommen während eines Arbeitsbesuchs des österreichischen Bundesministers Sebastian Kurz in Mazedonien. Grenzübergang Gevgelija, 24. August 2015

About Author: WWWWWSören Brandes

Geboren 1989 in Paderborn, hat Geschichte und Literatur in Berlin und Lund studiert. Master in Moderner Europäischer Geschichte. Promoviert derzeit am Graduiertenkolleg „Moral Economies of Modern Societies“ am Berliner Max-Planck-Institut für Bildungsforschung über die Geschichte des Marktpopulismus. Lebt in Berlin-Neukölln und interessiert sich für eigentlich alles, insbesondere für Globalisierungsphänomene, den Einfluss der Massenmedien darauf, wie wir denken und leben, und europäische Politik. Mail: soeren@unserezeit.eu, Twitter: @Soeren_Brandes, Facebook: Sören Brandes View all posts by

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