Vom richtigen Leben im Falschen

In der deutschen Medienlandschaft stößt man in letzter Zeit immer wieder auf WissenschaftlerInnen und Intellektuelle, die unter dem Label „Kulturkritik“ Analysen vorlegen, nach denen man erstmal eine Folge South Park braucht, um wieder entspannt lachen zu können. Die bekanntesten Namen unter diesen Pessimisten sind wohl Hartmut Rosa und Byung-Chul Han, die in verschiedensten Formaten ihre Thesen von einer schlechten Gesellschaft zum Besten geben, die uns Individuen den Weg zum Lebensglück versperrt. Die individuelle Überzeugung und Unzufriedenheit Rosas, Hans und vieler anderer Menschen kann ich kaum kritisieren, ich will hier aber darlegen, warum ich glaube, dass man auch anders an das Problem individueller Unzufriedenheit herangehen kann. Und ich bin der Meinung, dass man damit näher an die Ursache und zumindest mein individuelles Erleben herankommt.

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Ist Freiheit nur ein Euphemismus für eine neoliberale Schreckensherrschaft?

Scheinfreiheit

Als Beispiel möchte ich die Perspektive Byung-Chul Hans wählen. Han zeichnet ein sehr düsteres Bild unserer Gesellschaft: Diese ist von der Ideologie des Neoliberalismus durchdrungen, der die Ursache dafür ist, dass man sich an dieser Welt nicht mehr freuen kann. Die Menschen sind nur noch „Unternehmer ihrer Selbst“ und als solche beuten sie auch ihre Psyche und ihren Körper in kapitalistischer Manier aus, um sich stetig selbst zu optimieren und immer produktiver zu werden. Für Entspannung, Genuss oder gar Glücksempfindungen ist demnach kein Platz mehr, wenn das Fitnessarmband anzeigt, dass man heute noch 1000 Schritte zu tun hat, während der nächste Arbeitsauftrag per Mail auf das Smartphone gesendet wird:

„Das System will immer produktiver werden, und so schaltet es von der Fremdausbeutung auf die Selbstausbeutung, weil dies mehr Effizienz und mehr Produktivität generiert, alles unter dem Deckmantel der Freiheit.“

Dieses Zitat stammt aus einem Interview mit Han und verdeutlicht, dass er die äußere Freiheit als einen Euphemismus für einen Zwang zur Selbstausbeutung sieht, dem man sich nicht entziehen kann, sondern der Teil des Systems (bzw. der Gesellschaft) ist: Er sieht in der heutigen Gesellschaft ein totalitäres kapitalistisches System, dessen psychologische Herrschaftstechnik so ausgefeilt ist, dass sich seine Mitglieder selbst an ihrer Arbeit zugrunde richten und sich jeder Freude berauben. Wir wollen immer produktiver werden. Widerstand ist zwecklos, denn man ist nun beides zugleich – Lehnsherr und Knecht seiner selbst – und hat daher kein Gegenüber mehr, gegen welches man Widerstand leisten könnte. In seinem Essay Müdigkeitsgesellschaft wählt Han gar die drastische Metapher eines „Arbeitslagers“, das jeder moderne Mensch mit sich selbst herumtrage und dessen Insasse und Aufseher er zugleich sei. Der Zusammenbruch dieses Systems ist der einzig verbliebene Hoffnungsschimmer, auch wenn dieser durch den bitteren Beigeschmack der eigenen Bedeutungslosigkeit in diesem Prozess nahezu ungenießbar wird. Ganz offensichtlich ist Han selbst von dieser Perspektive absolut überzeugt, denn er gibt im Interview auch an, dass er sich in dieser Welt nicht mehr freuen könne.

Als sicheren Indikator dafür, dass diese Analyse zutrifft, zitiert Han Phänomene wie Burnout, die steigende Zahl von Depressionen und den Anstieg des individuell wahrgenommenen Stresslevels. Diese seien Ausdruck des goldenen Käfigs, der sich „Leistungsgesellschaft“ nenne und das Individuum solange zur Selbstausbeutung dressiere, bis es schließlich erschöpft und depressiv zusammenbricht.

Eine Betaversion von Freiheit?

Ich habe meine Probleme mit Hans Analyse. Zum einen denke ich, dass sich der nicht-depressive Großteil der Bevölkerung Deutschlands und anderer reicher Staaten kaum in ihr wiederfinden wird. Insofern hat diese Analyse eine beschränkte Reichweite. Hinzu kommt, dass sie eine recht polemische Sprache wählt, denn die These, dass man heutzutage sein privates „Arbeitslager“ mit sich herumtrage, ist nur als Dramatisierung zu rechtfertigen und hat wohl kein angemessenes Pendant in der Wirklichkeit. Schließlich glaube ich – und das ist der wichtigste Punkt – dass Han und andere Kulturkritiker es sich zu leicht machen, wenn sie die Freiheit des Individuums einfach negieren und daraus einen „Zwang“ machen. Diese Betrachtung hat nämlich zwei entscheidende Probleme: Sie zwingt dazu, das Problem individueller Zufriedenheit als rein strukturell bedingt (und daher auch nur strukturell lösbar) zu betrachten und zeichnet gleichzeitig ein viel zu romantisches Bild der Freiheit. Denn gerade in der objektiven Freiheit vermute ich den Grund, warum dann doch viele Menschen (mich nicht ausgenommen) durch selbstgemachten Stress unzufrieden werden: Wir können nicht nein sagen zu den vielen Möglichkeiten, die wir haben.

Betrachtet man die historische Entwicklung, so ging es den Menschen auf dieser Welt materiell noch nie so gut wie heute. Dies gilt insbesondere für die entwickelten Industriestaaten, die man vornehmlich in Nordamerika und Nordeuropa findet. Unter diesen reichsten Ländern der Welt ist Deutschland sicherlich noch eines der positivsten Beispiele. Den Einwohnern und Einwohnerinnen dieses reichsten Teils der Erde geht es im historischen und im globalen Vergleich ungemein gut: Sie leben länger und gesünder, genießen viele politische und individuelle Freiheiten sowie eine sehr gute und günstige Bildung – Dinge, die nicht nur vor 100 Jahren, sondern auch heute in vielen Regionen der Erde Mangelware waren bzw. sind.

In ökonomischer Hinsicht gehört das durchschnittliche europäische Einkommen in die absolute Spitzengruppe (hier selber nachprüfen): Ein Sechstel der Weltbevölkerung lebt nach wie vor von bis zu zwei Dollar am Tag (1,76 €). Die betroffenen Menschen müssen nahezu all ihr Geld für Essen aufbringen, während in Deutschland durchschnittlich nur ca. 14 Prozent des Einkommens für Essen aufgewendet werden (1950 waren es noch ca. 40 Prozent) – rechnet man die durchschnittlichen 35 Prozent heraus, die für Wohnen und Energie aufgewendet werden, dann bleiben noch immer sagenhafte 50 Prozent des Durchschnittseinkommens übrig, die nicht zur Befriedigung grundsätzliche Bedürfnisse aufgewendet werden.

Nimmt man dieses Bild zusammen, dann wird deutlich, dass die materiellen Voraussetzungen dafür, sein individuelles Leben frei von Leid und materieller Not zu führen, in Deutschland und anderen reichen Ländern der Erde historisch und global gesehen kaum besser waren bzw. sein könnten. Denn das hohe Maß an materieller Unabhängigkeit, Bildungsmöglichkeiten und gesundheitlicher und sozialer Versorgung schafft ein großes Maß an Freiheit, um sein ganz individuelles Leben zu führen. Die Tücke dieser Freiheit liegt jedoch darin, dass man erst lernen muss, damit umzugehen. Für Han ist dieser Punkt einfach geklärt: Da wir unterbewusst ideologisch indoktriniert sind, können wir nicht anders, als uns beim Schaufeln des Grabes für unser Wohlbefinden kaputtzuarbeiten.

In meinen Augen ist diese Perspektive geradezu absurd, denn wenn es in den heutigen entwickelten Volkswirtschaften nicht für einen großen Teil der Bevölkerung möglich sein sollte, ein zufriedenes Leben zu führen, dann bin ich mir relativ sicher, dass es nirgendwo und zu keiner Zeit bisher möglich war. Wenn das wiederum stimmen sollte, dann ist die „bessere Welt“, die Hans negative Analyse – zumindest als implizite Kontrastfolie – mitführt, eine reine Utopie. Es ist ein fiktiver Idealzustand, aus dem wir nur deshalb herauskatapultiert wurden, weil wir in den sauren Apfel der Erkenntnis gebissen haben, dass man diese Welt  mit einer pessimistischen Brille analysieren kann. Ähnlich wie in der christlichen Theologie folgt auch bei Han aus der Kontrastierung der Welt mit einem fiktiven Idealzustand eine Falschheit dieser Welt, die so grundsätzlich ist, dass sie nur durch die Apokalypse zu beheben ist. Was das Bild Hans gegenüber dem biblischen noch verschärft, ist dabei die Tatsache, dass wir heute gar nicht mehr „richtig“ handeln können, weil wir Opfer unseres Unterbewusstseins sind – die Bibel verheißt wenigstens den frommen Menschen im Ernstfall noch ein Ticket ins Paradies und definiert, was „fromm“ bedeutet. Insofern ist Hans Analyse eine sehr plausible Anleitung zum Unglücklichsein, die genau deshalb funktioniert, weil er negiert, dass man die Welt auch anders betrachten kann.

Die Analyse Hans beginnt und endet also mit der Negation der Freiheit: Sie baut auf der Annahme auf, dass man die Welt nur pessimistisch betrachten könne und schließt damit, dass die Menschen unfrei sind. Wenn man diese Annahme infrage stellt, dann wird eine sehr viel weniger deterministische Lesart der Welt möglich, die wahrscheinlich näher am individuellen Erleben ist. Denn indem Han die Freiheit, sich einen Fitbit zu kaufen, einfach „Zwang“ nennt, kommt er binnen einer Zeile von den westlichen Konsumgesellschaften in ein „fiktives Arbeitslager“. Die eher mäßigen Amazon-Rezensionen von Fitnessarmbändern legen zwar wirklich nahe, dass diese nicht unmittelbar zufrieden machen, bei einem Interview würden die meisten Menschen aber wohl angeben, dass sie das Armband freiwillig bestellt haben. Wenn man Freiheit und Freiwilligkeit nicht als Begriffe definiert, die nur Intellektuellen in ihrer „wahren“ Natur zugänglich sind, während sich das gemeine Volk mit der massenmedial verbreiteten Betaversion zufrieden gibt, dann stößt Hans Perspektive einer unfreien Gesellschaft also recht schnell an die Grenze ihrer empirischen Reichweite.

Freiheit als Zumutung

Freiheit, oder zumindest „wahre Freiheit“, ist aber der Kern von Hans positiver Utopie, mit der er unsere heutige „Leistungs-“ bzw. „Aktivgesellschaft“ kontrastiert. Es ist jedoch alles andere als klar, dass Freiheit dazu führt, dass man sich einfach entspannt und zufrieden zurücklehnen und die Dinge ihrem Lauf überlassen kann. Denn Freiheit besteht im wesentlichen darin, zu etwas nein sagen zu können, ohne sich dafür vor jemandem anderes als sich selbst verantworten zu müssen. Und damit bedeutet mehr Freiheit auch immer, sich entscheiden zu müssen, wo man es vorher nicht musste. Man muss sich entscheiden, was man anzieht, was man studiert, wo man arbeitet, was man isst, welches Handy man kauft, was für Musik man hört, … und man erlebt immer wieder, dass einem andere Menschen dieses Verhalten als Entscheidung zurechnen, obwohl man es selbst nicht notwendig als eine solche erlebt hat. Das geschieht dann, wenn man sich over- oder underdressed fühlt, oder wenn man ganz selbstverständlich eine Flasche Wein mitbringt, ohne überhaupt zu wissen, dass dieser vegan oder nicht vegan sein könnte: Man „tut einfach“ und plötzlich kommt jemand und macht einen darauf aufmerksam, dass man auch anders hätte tun können und fordert eine Begründung für diese „Entscheidung“.

Das Internet verschärft diesen Rechtfertigungsdruck noch. Die Selbstdarstellungen von Facebook-Freunden (die manchmal etwas glatter erscheinen als die Realtität) werden einem in der Timeline permanent vor Augen gehalten. So sehe ich die Fotos von Leuten, die an renommierten Universitäten studieren, um die Welt reisen, Langstreckenläufe absolvieren und Abschlussarbeiten abgeben. Und jedes Mal könnte man sich fragen, ob das, was man da sieht, nicht viel erstrebenswerter wäre und einen selbst viel zufriedener machen würde, als das, was man im Moment tut. Und wenn man an einem schlechten Tag mal zu dem Schluss kommt, dass man hier und da wirklich etwas anderes hätte machen können, dann erscheint es umso anstrengender, wenn man das nächste Mal gefragt wird, warum man denn immer noch in einer relativ unspektakulär klingenden Großstadt in Ostwestfalen-Lippe wohnt und nicht zumindest schon das Ticket nach New York gebucht hat.

Das kann unzufrieden machen. Und es macht mich zuweilen auch unzufrieden. Doch ich glaube nicht, dass es in irgendeiner Weise hilft, die Benutzung von Facebook, das Tragen eines Fitbits oder das Buchen einer Interkontinentalreise deswegen als moralische Kategorien aufzufassen. Im Zweifelsfall sitzt am anderen Ende des Glasfasernetzes ein Mensch, der ebenso mit der Freiheit ringt und nun einfach mal ausprobiert, ob man in drei Monaten Indien glücklich wird. Der Soziologe Dirk Baecker hat in einem Interview einmal gesagt, es ginge in der Psychotherapie darum, eine „lose Kopplung zwischen Individuum und Gesellschaft“ zu erreichen: Einen Modus, indem man das, was man in diesem Leben sozial erreichen kann, und das, was man in diesem Leben erreichen will, überein bringt und nicht ständig damit beschäftigt ist, sich an der Utopie eines glücklichen Ichs zu messen, das dreisprachig aufgewachsen ist und nun im Unternehmen XY eine viel besser dotierte Stelle hat als man selbst.

Wenn man also nicht darauf bauen kann, dass wir unfrei sind, dann muss man sich der Freiheit stellen. Han hat insofern Recht, als dass sie eine Zumutung sein kann und dass es für einen selbst, wenn man gerade mit einer kurz- oder langfristigen negativen Verstimmung zu kämpfen hat, kaum angenehm ist, wenn man davon ausgeht, dass es in der eigenen Verantwortung liegt, aus diesem Loch wieder herauszukommen. Es ist aber anerkanntes Prinzip jeder Therapie, dass der betroffene Mensch ein Problem erst als sein eigenes Problem annehmen muss, um es bearbeiten zu können.

Bild: Spoof of the Statue of Liberty von LeoFed. Veröffentlicht als gemeinfrei über Wikimedia Commons.

 

4 Gedanken zu „Vom richtigen Leben im Falschen“

  1. Ohne Herrn Hans Theorie verteidigen zu wollen (bis auf die wenigen Äußerungen in diesem Eintrag habe ich nichts von ihm gelesen) – die im Blogeintrag eingewandte Begründung, dass es allen Grund zur Zufriedenheit gäbe, verläuft reichlich schräg. Das Urteil, dass jetzt mal Zufriedenheit angesagt sei, scheint schon festzustehen, bevor es Argumente dafür gibt. Die Argumente werden vielmehr nachträglich zusammengeschustert. Wie käme man sonst auf die Idee, lauter willkürliche Personengruppen und Vergleichspunkte anzuführen: Da geht es auf einmal „den“ Menschen gut (ganz egal, wer sich darunter alles befinden mag: eine aufstockende Alleinerziehende, ein CEO, unterernährte Kinder, selbstständige Kreative, Erntehelfer … ), schließlich ging es „den“ Menschen in vergangenen Zeiten viel schlechter (ein Besuch in Versailles lässt mich vermuten, dass es auch im 17. Jahrhundert Menschen gab, denen es an nichts fehlte). Ebenso seltsam erscheint der Vergleich zwischen verschiedenen Erdteilen oder Staatenbewohnern. „Uns“ Deutschen geht es also blendend, weil es „den“ Äthiopiern schlechter geht. Vielleicht geht es ja auch meiner Oma, von Grundsicherung lebende Rentnerin (deutsch) schlechter als Susanne Klatten (deutsch). Oder – noch verrückter! – einem Kaffeebohnenplantagenbesitzer in Nicaragua besser als meiner Oma. Diese Vergleicherei, das wollte ich zeigen, ist absurd. Es wird da gar keine Untersuchung irgendeiner konkreten Lebenslage angestellt – wie geht es diesem Menschen materiell, in welcher gesellschaftlichen Position befindet er sich, wie steht die in Relation zu anderen, was sind Ursachen für seine Lage? usw. Nein, es werden lauter Vergleiche angestellt, die dazu taugen sollen, das Vergleichsobjekt als gut zu befinden. Woher kommt eigentlich diese Absicht?

  2. Hallo Sarah, du hast insofern Recht, als auch ich mir während des Schreibens nicht hunderprozentig sicher war, ob die Verengung „die entwickelten Volkswirtschaften“ nicht das Argument schwächt. Mit dieser Verengung wollte ich aber weg von „den Menschen“ und hin eben zu den Menschen in Europa, denen es – natürlich mit einer gewissen Standardabweichung – im globalen und historischen Vergleich objektiv sehr gut geht. Politische Freiheiten, Wohlstand, Bildung, Gesundheitsversorgung, Frieden und Sicherheit waren wohl kaum jemals für so viele Menschen (und das kann man statistisch wahrscheinlich sogar global behaupten) waren wohl kaum jemals in einem solch hohen Maße vorhanden. In diesem Sinn waren die materiellen und sozialen Bedingungen nie besser, um zufrieden zu sein.
    Aber – und hier muss ich mich dir wieder anschließen – das heißt natürlich nicht, dass hier jetzt alle zufrieden sind oder sein müssen. Diese Feststellung ist vielmehr der Ausgangspunkt dafür, aufzuzeigen wie absurd es ist, jetzt davon zu sprechen, dass wir in all dieser Freiheit immernoch in einem Zwangs- oder Unterdrückungsverhältnis leben. Wenn wir heute in diesen Verhältnissen unglücklich werden, dann – so mein Argument – sollten wir an unserer eigenen Weltsicht arbeiten, und nicht so tun, als könnte man „in dieser Welt“ nicht zufrieden sein.

  3. Ich versuche es noch mal anders zu erklären. Du führst Durchschnittswerte und Negativ-Vergleiche an – dieses Verfahren zeugt von einer Ignoranz gegenüber miserablen Lebensumständen, die es zuhauf auch in Europa gibt. Ein Durchschnittswert macht diese wunderbar unkenntlich, darin kommt nämlich nicht vor, ob der Faktor, der ihn nach oben reißt, gerade der Reichtum einiger weniger ist, die auf dem Rücken vieler generiert wird. Ich musste ehrlich gesagt etwas lachen, als mir der How rich am I?-Generator mitgeteilt habe, dass ich zu den glücklichen reichsten 16 % der Erde gehöre. Wenn ich, so der Vorschlag, 10 % davon spenden würde, läge ich zwar deutlich unter dem gesetzlich festgelegten Existenzminimum, aber hey, die Gewissheit, dass es einer Menge Menschen noch schlechter geht, steigert meine Zufriedenheit wirklich ungemein! Ein Vergleich nach unten lässt sich praktischerweise eben immer finden, so kann man selbst unterernährten Kindern in Griechenland noch sagen: Seid doch froh, ihr lebt in Europa, anderswo würden euch vielleicht Bomben auf den Kopf fallen. Warum ihre Familien mittellos dastehen und ob das vielleicht vermeidbar ist, kann man auf diese Weise nicht mehr herausfinden – man legt sich eben eine Weltsicht zu (man könnte auch sagen: Brille), die einem vorgibt, dass alles Betrachtete bitteschön positiv zu sein hat. Als Belege für die Herrlichkeit unserer Gesellschaft führst du außerdem Schlagworte wie „Wohlstand“ und „Bildung“ an. Worin besteht denn dieser ominöse Wohlstand „unseres“ Kontinents? Etwa in der Bilanz eines Kapitalwachstums, für dessen Erwirtschaftung die Mehrzahl der Gesellschaft (ganz egal wo) ihre materiellen Lebensinteressen zurückzustellen und einen Großteil ihrer Lebenszeit und Energie zu opfern hat? Welche Vorzüge hat denn diese Bildung, wenn in ihr Wissen systematisch einem Teil der Lernenden verwehrt wird, weil die Wissensaneignung nicht Zweck ist, sondern Mittel für eine arbeitsmarktdienliche Selektion?

  4. Interessanterweise argumentieren Leute wie Han oder Rosa – jedenfalls in dem hier präsentierten Argument – nicht gegen die ökonomische Ungleichheit und die Probleme von Armut. Han und Rosa behaupten, dass gerade die Leute, die im Wohlstand leben und von Bildung, Gesundheit und Sicherheit profitieren, trotzdem nicht wirklich frei und glücklich sind – weil sie eben nach wie vor gewissen Zwängen ausgesetzt sind, nämlich dem Zwang, ihr Leben selbst gestalten zu müssen. Insbesondere gegen dieses Argument richtet sich Adrians Artikel, weil es im Prinzip antifreiheitlich ist.

    Ungleichheit und Armut gibt es selbstverständlich noch auf dieser Welt, auch in reichen Ländern. Aber bei der Kritik an diesen Zuständen wird manchmal ein sehr seltsames, absurdes, wenn nicht makabres Gesellschaftsbild entworfen, nach dem eine winzige Minderheit die Profite einfährt, während der Rest der Welt vor die Hunde geht (die berühmten 1% vs. 99%). Eine solche Darstellung verhöhnt im Prinzip die von extremer Armut Betroffenen, weil sie diese mit jenen in eine Kategorie steckt, die in westlichen Ländern dem Mittelstand angehören.
    Deine Rede vom „ominösen Wohlstand 'unseres' Kontinentes“ erinnert an eine solche Argumentation. Der Wohlstand Europas ist nicht ominös, sondern ein Fakt. Es geht nicht nur dem Durchschnitt der Europäer besser als vielen Menschen in anderen Teilen der Welt, sondern auch dem Median. Die Kritik an relativer und absoluter Armut in Europa soll dadurch nicht delegitimiert, wohl aber differenziert werden.

    Deine letzten beiden rhetorischen Fragen könnte man auch in Behauptungen übersetzen und dann darüber diskutieren. Bspw. wäre die Frage, was denn die „materiellen Lebensinteressen“ der Mehrzahl der Gesellschaft sind? Und es wäre die Frage, ob Bildung tatsächlich nur als Mittel gesehen wird, nicht aber als Zweck. Die Fächer Kunst, Philosophie, Latein, Musik, Geschichte, Politik, Literatur, Religion usw., denen in der Schule durchaus einiges an Platz eingeräumt wird, sprechen beispielsweise dagegen…

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