Das Yolo-Dilemma

You only live once. Eine banale, aber folgenreiche Erkenntnis. Wären wir mit mehreren Leben ausgestattet, könnten wir in diesem Astronaut werden, im nächsten Betreiber eines Coffeeshops und im übernächsten Pfandsammler. Oder hätten wir ein irdisches und ein zusätzliches – je nach Laune des Türstehers – über- oder unterirdisches Leben könnten wir im ersten unsere Auserwähltheit unter Beweis stellen und im zweiten dann schauen, was sich ergibt.

Im Kontext der abnehmenden Bedeutung von Religion im öffentlichen Leben aber müssen sich mehr und mehr Menschen damit abfinden, dass ihnen nur dieses eine Leben zur Verfügung steht. Wen diese Einsicht nicht in den Wahnsinn treibt, den führt sie normalerweise zu zwei grundsätzlichen Lebensmaximen:

Mario Kart vs. Max Weber

1. Ich lebe nur einmal. Ich möchte dieses Leben genießen.
2. Ich lebe nur einmal. Ich möchte in diesem Leben etwas erreichen.

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Mario-Kart-Spieler bei der EB Games Expo 2015

Wenn wir nur einmal leben, erscheint es logisch, die schönen Momente in diesem Leben maximieren und die unschönen minimieren zu wollen. Und wie freie Wochenenden und Ferientage uns immer wieder vor Augen führen, ist ein Abend mit guten Freunden auf der Couch einfach angenehmer als ein Morgen in der Uni oder ein Nachmittag im Büro. Selbst mitten im Arbeitsprozess zieht der Browsertab zu Reddit, YouTube oder natürlich unserezeit.eu uns magisch an. Und wenn sich das Leben nur um Anstrengung und Belastungen drehen würde – wofür lebte man dann überhaupt? Wenigstens ein Stückchen Himmelreich auf Erden sollte doch möglich sein.
Kurz gesagt: Eigentlich wollen wir lieber Mario Kart spielen als Max Webers Gesellschaftsbegriff aus seinen Werken herauszuklamüsern.

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Manuskriptseite aus Webers Wirtschaft und Gesellschaft

Andererseits: Wenn wir nur einmal leben, erscheint es logisch, aus diesem Leben auch etwas zu machen. Je nach Interesse könnten wir der nächste Kofi Annan, die nächste Emma Watson, der nächste Elon Musk, der nächste Niklas Luhmann oder die nächste Serena Williams werden. Und ziemlich unabhängig von individuellen Geschmäckern üben Geld, Ansehen und Einfluss auf viele eine ungeheure Anziehungskraft aus. Wäre es nicht schön, am Lebensende auf einem Geldsack im hauseigenen Swimmingpool zu treiben und seine Nobelpreismedaille zwischen den Fingern zu drehen?
Kurz gesagt: Eigentlich wollen wir auf unseren Lebenslauf lieber ein abgeschlossenes Studium eintragen (auch wenn wir dafür Webers Wirtschaft und Gesellschaft lesen müssen) als einen abgeschlossenen Spiegel-Cup.

Das Dilemma

Die beiden Lebensmaximen prallen in der Realität naturgemäß aufeinander. Klar, es mag immer mal wieder Aktivitäten geben, die sowohl Spaß machen als auch die Lebensziele voranbringen – eine erfolgreiche App entwickeln zum Beispiel. In der Regel lässt sich Genuss aber nur schwerlich mit zielgerichteter Arbeit verbinden. Man muss sich also entscheiden, ob man lieber genießen oder seine Karrierechancen voranbringen möchte: Es kommt zum Yolo-Dilemma. Manchmal sucht man als Alternative nach Kompromisslösungen: Gut, ich schaue einen Film, dafür aber einen anspruchsvollen. oder: Ich verschiebe die Hausarbeit, schreibe dafür aber etwas für den Blog. Letztendlich können wir der Entscheidung damit aber nur zeitweise entgehen.

Und das Dilemma wiederholt sich nicht nur jeden Tag, sondern eigentlich in jedem Lebensabschnitt aufs Neue: Im Studium kann man sowohl seine Jugend und Unabhängigkeit genießen als auch die Grundbausteine für Lebensweg und Karriere legen. Als Berufsanfänger_in möchte man sich einerseits beweisen, andererseits aber seine Unbedarftheit und Flexibilität ausspielen. Im höheren Alter mag man entweder die Ruhe auskosten oder jetzt erst recht noch einmal durchstarten. Einzig als Schulkind ist man von dem Druck befreit, jede Auswahl als verantwortbare Entscheidung wahrnehmen zu müssen.

Danach treten stets das schlechte Gewissen auf der einen Seite und auf der anderen Seite das Gefühl, etwas zu verpassen, gegeneinander an. Warum hab‘ ich die letzte Woche nur auf Netflix gehangen, wo ich doch so viel zu tun habe? vs. Warum sitze ich in der Bibliothek, während die anderen heute Abend feiern gehen? Die gewöhnliche Ratgeberliteratur deutet das Problem als eine Entscheidung zwischen kurzfristigem Genuss und langfristigem Erfolg und rät zur Selbstdisziplin – der implizierten Annahme folgend, nur der langfristige Erfolg sei ein wirklich zulässiges Ziel.

Die Lösung

Tatsächlich kann man das Ganze aber auch anders deuten. Grundsätzlich sind nämlich beide Wünsche legitim, sonst gäbe es kein Yolo-Dilemma. Damit ist dem Entscheidungskonflikt allerdings von vornherein ein Entlastungsmechanismus mit eingebaut. Wenn beides legitim ist, lässt sich auch beides rechtfertigen: Wenn ich nur einmal lebe, spiele ich lieber noch eine Runde Mario Kart. Oder ich mache mich wieder an die Hausarbeit, damit ich mein Studium abschließen kann.

Aus der Glücksforschung wissen wir, dass beide Entscheidungen im Prinzip ähnliche Ergebnisse zur Folge haben: Wir erfreuen uns kurzfristig an dem Erlebten (sei es ein ausgelassener Abend mit Freunden, sei es das erfolgreiche Einreichen einer Arbeit), bevor unser Glückslevel anschließend wieder auf das ursprüngliche Niveau zurückpendelt. Auch diese Erkenntnis kann die Belastung, die der Entscheidungszwang hervorruft, dämpfen.

Letztendlich schließt die Universalität des Yolo-Dilemmas auf der einen Seite die Individualität der Lösung auf der anderen Seite mit ein. Jede_r soll selbst entscheiden, wann welche Lebensmaxime bestimmend ist. Und wenn wir mit Eintritt in die Rente nicht als gefragte Intellektuelle Prof. em. der Harvard-Uni an unserem nächsten Bestseller arbeiten, haben wir zumindest mehr Zeit, mit Freunden Mario Kart zu spielen.


Titelbild: CC BY 2.0, Urheber: MIKI Yoshihito, via Wikimedia Commons, 26. Mai 2013.

Bild 1: CC0, Urheber: Philip Terry Graham, via Wikimedia Commons, aufgenommen während der EB Games Expo 2015 bei der Nintendo-Stage, 3. Oktober 2015.

Bild 2: Public Domain, bereitgestellt durch Akademie Aktuell, via Wikimedia Commons, Teil des Manuskripts der Rechtssoziologie (1919), später veröffentlicht in Wirtschaft und Gesellschaft, Januar 2014

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