Der britische Historiker Tony Judt hielt 2006 einen Vortrag an der New York University mit dem Titel Disturbing the Peace: Intellectuals and Universities in an Illiberal Age. Darin reflektierte er über die Rolle des Intellektuellen und seine Stellung in der Gesellschaft. Er differenzierte zwischen verschiedenen Typen von Intellektuellen, wobei sein Fokus auf dem Universitätsprofessor lag. Aufgrund ihrer besonderen gesellschaftlichen Stellung hätten akademische Intellektuelle „a sort of unique side privilege. We are free to speak out. We are free to say unfashionable things, unpopular things, untimely things. And we are much less likely than most other people in our society to be hushed up.” Aus dieser Position ergebe sich eine Pflicht, unbequeme Wahrheiten auszusprechen, ohne Rücksicht auf die eigene Popularität.
Am 14. September 2015 veröffentlichte der Berliner Historiker Jörg Baberowski einen Artikel in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, der zum Auftakt für eine einmonatige Serie von öffentlichen Wortmeldungen zur Flüchtlingsdebatte wurde. Es liegt eine gewisse Ironie darin, dass Baberowskis Beiträge in ihrer Anlage durchaus im Sinne Judts sind, dem linksliberalen Engländer inhaltlich aber vermutlich weniger zugesagt hätten.
Jörg Baberowski ist Inhaber des Lehrstuhls für die Geschichte Osteuropas an der Humboldt-Universität zu Berlin, an der ich selbst auch studiere. Mit seinen Forschungen zum Stalinismus hat er internationales Ansehen erlangt. Ein immer wiederkehrendes Thema in seinen Arbeiten ist die Gewalt, zu deren Verständnis er innovative Konzepte vorgelegt hat. Als Student habe ich ihn als originellen und scharfsinnigen Historiker kennengelernt. Auch im akademischen Bereich beweist er häufig Mut, da er mit seinen Thesen nicht zwanghaft zu gefallen versucht. Das ist manchmal verstörend, aber fast immer interessant.
Umso mehr überraschten mich seine öffentlichen Stellungnahmen zur Flüchtlingsdebatte während der letzten zwei Monate. Dem ersten Beitrag folgten ein Interview in der FAZ, weitere Artikel und Interviews in der Neuen Zürcher Zeitung und dem Tagesanzeiger sowie Fernsehauftritte bei Kulturzeit (3sat) und im Sat1-Früchstücksfernsehen.
Seine Intervention richtet sich in erster Linie gegen die Politik von Angela Merkels Regierung und soll außerdem unbequeme Fragen aufwerfen, die in der deutschen Medienlandschaft angeblich verschwiegen werden. Zweifelsohne ist das globale Flüchtlingsproblem eine historische Herausforderung, die nicht auf den Sommer 2015 beschränkt sein, sondern vermutlich das gesamte 21. Jahrhundert prägen wird. Daher ist es gar nicht meine Intention, Probleme herunterzuspielen oder das Gespräch darüber abzubrechen. Im Gegenteil: Nichts ist wichtiger, als dass wir uns darüber austauschen. Jedoch stellt sich die Frage, ob Baberowski dazu etwas Konstruktives beigetragen hat.
In der FAZ schreibt er:
Der Bundeskanzlerin fällt zu dieser Frage nur eine Wahlkampffloskel ein: „Wir schaffen es“. Und sie fügt hinzu, dass Deutschland sich in den nächsten Jahren bis zur Unkenntlichkeit verändern werde. Als ob es die Aufgabe der Politik wäre, die Krise nur zu verwalten. Und als ob es einerlei wäre, was die Bürger dieses Landes darüber denken. Natürlich kann die jährliche Einwanderung von 500.000 Menschen technisch bewältigt werden. Aber wollen wir sie auch bewältigen? Diese Frage hat niemand gestellt. Hat überhaupt ein Politiker je darüber nachgedacht, was das Gerede von der Willkommenskultur bewirkt? Es hat sich in den Krisenregionen dieser Welt inzwischen herumgesprochen, dass man für die Einreise nach Deutschland keinen Pass benötigt, dass der Wohlfahrtsstaat eine Versorgung gewährt, die in Pakistan oder Albanien nicht einmal für Menschen erreichbar ist, die in Lohn und Brot stehen. Solange der deutsche Sozialstaat der ganzen Welt Angebote macht, dürfen seine Repräsentanten sich nicht darüber beklagen, dass Menschen, die nichts haben, sie annehmen.
Baberowskis Sicht auf die Dynamik des Flüchtlingsproblems wird hier deutlich. Äußerungen und Taten von Politikern bestimmen die Ziel- und Sehnsuchtsregionen für Millionen Flüchtlinge auf der ganzen Welt. Daher ist es überaus bedeutsam, dass keine falschen Signale ausgesendet werden, damit sich ein Land nicht selbst überfordert. Sein Blick auf die Probleme und auf mögliche Lösungen ist zutiefst nationalstaatlich geprägt. In seinen Augen ist die Flüchtlingsmigration von wahrscheinlich einer Millionen Menschen bis Ende des Jahres nach Deutschland zunächst ein hausgemachtes Problem, das mit den richtigen Signalen hätte verhindert werden können. Wenn er sagt, dass es nicht nur die Aufgabe der Politik wäre, das Problem zu verwalten, bedeutet das, dass es eigentlich die Aufgabe der Politik ist, diese Probleme zu vermeiden. Weiterhin soll sie das in Absprache mit den Bürgern machen.
Grenzen der Politik
Der Bürgerkrieg in Syrien tobt seit dem sogenannten ‚Arabischen Frühling‘ im Jahr 2011. In den letzten vier Jahren hat die deutsche Politik genau das getan, was Baberowski fordert. Deutschland hat gnadenlos auf die moralisch unerträgliche Drittstaatenregelung des Dublin-Systems bestanden. Das Flüchtlingsproblem wurde in Europa in erster Linie auf die Ankunftsländer Italien und Griechenland abgewälzt.
Deutschland hat Hilferufe aus diesen Ländern geflissentlich ignoriert. Diese Staaten waren ohnehin durch die Eurokrise gebeutelt und völlig überfordert mit den Massen an Menschen, die den Weg über das Mittelmeer gefunden haben. Abertausende Menschen sind im Mittelmeer ertrunken. Deutschland antwortete nicht etwa damit, die Hilfsaktion Mare Nostrum zu unterstützen oder ernsthafte Anstrengungen zu machen, die vielzitierten Fluchtursachen anzugehen. Deutschland hat weggeschaut und darauf gehofft, dass eine Verstärkung der Grenzschutzorganisation Frontex die Probleme fernhalten könne. Und trotzdem stehen wir jetzt im Jahr 2015 vor dieser Situation. Das lässt nur den Schluss zu, dass es für die Politik praktisch nicht möglich ist, das Flüchtlingsproblem zu vermeiden und von der eigenen Haustüre fernzuhalten, ganz abgesehen von Fragen der Tugend und Moral, die Baberowski als „besonnener Realist“ so lästig findet.
Ein weiteres Argument in Baberowskis Aussage betrifft das Verhältnis der Politik zu den Bürgern. So löblich seine Forderung sein mag, dass Politik mehr Nähe zu den Bürgern braucht, so wenig wird deutlich, wie er sich das im Detail vorstellt. Hätte Angela Merkel am 5. September ein Referendum abhalten sollen, bevor sie die Entscheidung traf, zeitweise Flüchtlinge nach Deutschland zu lassen, die in Ungarn festsaßen? Hat die repräsentative Demokratie jemals so funktioniert, dass politisch dringliche Entscheidungen in engem Austausch zwischen Politikern und Bürgern getroffen wurden? Natürlich gibt es Erfahrungen mit Volksabstimmungen und Referenden. Jedoch verhält es sich bei diesen Verfahren keineswegs so, wie sich das ihre Befürworter häufig vorstellen. Der Politikwissenschaftler Wolfgang Merkel meint dazu: „Nicht ‚das‘ Volk, sondern eine meist numerisch wie sozial ausgedünnte Schrumpfversion des Volkes entscheidet. Volksabstimmungen sind im Kern ein Instrument für die mittleren und oberen Schichten unserer Gesellschaft. Nicht ‚mehr‘, sondern ‚weniger‘ Demokratie würde gewagt werden.“
Deutschland als Einwanderungsland
Baberowski gibt jedoch auch konkretere Ratschläge an die Politik. Er sagt, wir müssten jetzt „Grenzkontrollen für einen begrenzten Zeitraum wieder einführen. So lange, bis auch der Letzte verstanden hat, dass man einen Asylantrag nur stellen und einen Aufenthaltsstatus nur erwerben kann, wenn man nicht illegal einreist. Sobald sich das herumgesprochen hat, wird sich die Lage verbessern.“ Dann würde „sich jeder dreimal überlegen, ob er aus dem Maghreb, aus Afrika oder vom Balkan nach Deutschland aufbrechen möchte.“
Er möchte, dass sich Deutschland, wenn es schon ein Einwanderungsland sein will, auch so verhalten soll. Darunter versteht er nutzenbringende, gesteuerte Zuwanderung, von der auch die Aufnahmegesellschaft profitiert. In einer lesenswerten Replik auf Baberowskis FAZ-Artikel machen die Historiker und Migrationsforscher Jannis Panagiotidis, Patrice Poutrus und Frank Wolff deutlich, dass der „Gegensatz zwischen nutzenbringender und steuerbarer Arbeitswanderung einerseits und ungesteuerter Fluchtzuwanderung andererseits“ in historischer Perspektive nicht aufrechtzuerhalten ist. Dieser Artikel bezieht sich außerdem auf eine weitere Passage. Baberowski schreibt:
Die Politik hat entschieden, dass Deutschland ein Vielvölkerstaat werden soll. Nun gut. Dann soll sie aber auch Vorkehrungen dafür treffen, diesen Staat so zu organisieren, dass alle Menschen in Frieden und Einvernehmen mit ihm leben können. Die Integration von mehreren Millionen Menschen in nur kurzer Zeit unterbricht den Überlieferungszusammenhang, in dem wir stehen und der einer Gesellschaft Halt gibt und Konsistenz verleiht. Wenn uns mit vielen Menschen nichts mehr verbindet, wenn wir einander nichts mehr zu sagen haben, weil wir gar nicht verstehen, aus welcher Welt der andere kommt und worin dessen Sicht auf die Welt wurzelt, dann gibt es auch kein Fundament mehr, das uns zum Einverständnis über das Selbstverständliche ermächtigt. Gemeinsam Erlebtes, Gelesenes und Gesehenes – das war der soziale Kitt, der unsere Gesellschaft einmal zusammengehalten hat.
Mir sind wenige Dinge so fremd wie der Nationalismus. Und das hat nichts damit zu tun, dass ich einen „ausgeprägten Selbsthass“ gegen mich pflege, wie Baberowski den deutschen Eliten unterstellt. Es hat einfach nichts mit meiner Lebenserfahrung zu tun, dass mich irgendein ‚Überlieferungszusammenhang‘ mit manchen Menschen, die Goethe gelesen haben oder deren Großeltern auch das Dritte Reich erlebt haben, mehr verbindet als mit Menschen aus anderen Teilen der Welt. Mir wird regelmäßig schlecht bei all diesen nationalistischen Reflexen, die so viele Menschen scheinbar einfach nicht aus ihrem System verbannen können. Wenn nach Terroranschlägen in Frankreich überall Frankreichfahnen auf Facebook zu sehen sind, denke ich an George Carlin, der im Zusammenhang mit dem Ersten Golfkrieg sagte: „I gotta tell you folks, I don’t get all choked up about yellow ribbons and American flags. I consider them to be symbols and I leave symbols to the symbol-minded.” In einem Artikel hat die Historikerin Marion Detjen aus aktuellem Anlass noch einmal den Glauben an den Nationalstaat dekonstruiert. Sie schreibt:
So wie einige Gläubige sich den lieben Gott mit Rauschebart auf einer Wolke schwebend vorstellen, so waren weite Teile des Staatsrechts bis vor gar nicht langer Zeit dem Glauben an eine ‚Staatspersönlichkeit‘ verpflichtet, die stirbt oder weiterlebt, unabhängig von den Menschen und den Institutionen. Auch heute noch scheint dieser Glaube wirksam: im Entsetzen darüber, dass Angela Merkel angeblich die Souveränität Deutschlands geopfert habe, weil sie den über die Grenze kommenden Flüchtlingen nicht entgegentrat wie einer feindlichen Armee. Weit über die Reihen Pegidas hinaus geht es den ‚Besorgten‘ um die Integrität des Nationalstaats, der nicht als Menschenwerk, sondern wie ein Götze erscheint, zusammengesetzt aus der Dreifaltigkeit Staatsgrenze, Staatsvolk, Staatsgewalt.
Wie nationalstaatliche Konstrukte entstehen können, hat Baberowski selbst am Beispiel der sowjetischen Teilrepubliken wiederholt deutlich gemacht. Neben den Effekten der Integration sind ihm die Mechanismen der Ausgrenzung des Anderen durch die Heraufbeschwörung von Tradition und Nation nur allzu bekannt. Ebenso müsste er wissen, dass die Aussage, Deutschland werde sich „bis zur Unkenntlichkeit“ verändern, eine inhaltsleere Plattitüde ist, weil genau das die Erfahrung in der modernen Welt überhaupt ist. Unsere Lebenswirklichkeiten verändern sich sehr schnell bis zur Unkenntlichkeit, aber das ist ja nicht immer schlecht. Im Gegenteil, wer wäre nicht froh darüber, dass sich Deutschland in den letzten 70 Jahren bis zur Unkenntlichkeit verändert hat? Es scheint aber, als ob Baberowski das gegenwärtige Deutschland einfach so gut findet, dass es ihm beinahe als beste aller möglichen Welten erscheint und Veränderung jetzt höchstwahrscheinlich Verschlechterung bedeuten würde. In diesem Sinne sagt er: „Wir alle wissen, dass der Wohlstand, den wir jetzt haben, dass der nicht für immer da sein muss und dann werden die Probleme größer.“
In the name of…?
Das bringt mich zu einem weiteren Punkt. In einem provokanten Artikel hat Sascha Lobo kürzlich über die allgegenwärtige Opferrhetorik in öffentlichen Debatten nachgedacht. Er glaubt, dass das bestimmende Motiv in den politischen Interventionen von ‚besorgten Bürgern‘ die Selbststilisierung als Opfer ist. Im Sinne von: Wir werden nicht gefragt, wir werden belogen, wir werden angegriffen und wir werden verlieren, wenn wir uns nicht wehren.
Dabei bleibt zu beachten, dass Baberowski an mehreren Stellen deutlich macht, dass er nicht in eigener Sache – zur Verteidigung seiner professoralen Privilegien – gegen die Flüchtlingspolitik interveniert:
Warum, so fragen sich die Nachfahren der türkischen Gastarbeiter, die als Handwerker und Kaufleute in Deutschland leben, soll Einwanderern, die keinen Asylgrund haben, etwas geschenkt werden? Sekretärinnen, Bauarbeiter, Mütter, die im Alter nur noch wenig Geld zur Verfügung haben, Frisörinnen, die keine Wohnung finden, weil ihr Gehalt dafür nicht ausreicht, verstehen nicht, warum das soziale Netz auch für jene da sein soll, die für seine Finanzierung keinen Beitrag geleistet haben.
An anderer Stelle sagt er, er verstehe
sehr gut, dass Menschen, die nichts oder nur sehr wenig haben, Angst bekommen. Sie können sich nicht aussuchen, wo und wie sie leben wollen. Eine junge Friseuse, die sich den schiefen Blicken von bärtigen Männern ausgesetzt sieht und sich in ihrem eigenen Viertel nicht mehr zu Hause fühlt – welche Möglichkeiten hat sie?
Abgesehen von etwas peinlichen Klischees von Friseurinnen und bärtigen Männern wäre es durchaus begrüßenswert, wenn mehr deutsche Professoren Solidarität mit den unterprivilegierten Teilen der Bevölkerung zeigen würden und alte sozialdemokratische Ideale wiederaufleben ließen. Aber der bittere Beigeschmack ist nicht aus dem Mund zu bekommen: Warum wird Baberowski ausgerechnet jetzt zum Fürsprecher der Armen? Wo war seine Intervention, als es um die Hartz-Reformen oder den Mindestlohn ging? Wo bleibt die Forderung nach einer saftigen Kapital- und Vermögenssteuer, mit der etwa Wohnungsbauprogramme finanziert oder Sozialleistungen aufgestockt werden könnten? Das Problem, das Baberowski anspricht, ist ja durchaus real. Natürlich besteht immer die Gefahr, dass Menschen am unteren Ende der sozialen Pyramide gegeneinander ausgespielt werden. Aber der Zeitpunkt und die Form irritieren sehr. Es erinnert an das plötzliche Eintreten der CSU für die Rechte von Frauen und Homosexuellen in der neuen Leitkultur-Debatte.
Der nationale Blick
Außerdem wird an dieser Stelle das nationalstaatliche Container-Denken erneut erkennbar. Warum macht sich Baberowski um die deutschen Bauarbeiter so viel mehr Sorgen als um afghanische, syrische oder – Gott bewahre – nicht einmal vor Bomben fliehende rumänische Bauarbeiter? Die Antwort gab Ulrich Beck bereits 2008 in seinem Essay Die Neuvermessung der Ungleichheit unter den Menschen:
Das Leistungsprinzip legitimiert nationale Ungleichheit, das Nationalstaatsprinzip legitimiert globale Ungleichheit […] Der nationale Blick ‚befreit‘ vom Blick auf das Elend der Welt.
Das Problem dieses nationalen Blicks erklärt er im Folgenden:
Je mehr Gleichheitsnormen sich weltweit ausbreiten, desto mehr wird der globalen Ungleichheit die Legitimationsgrundlage des institutionalisierten Wegsehens entzogen. Die reichen Demokratien tragen die Fahne der Menschenrechte in die letzten Winkel der Erde, ohne zu bemerken, daß auf diese Weise die nationalen Grenzbefestigungen, mit denen sie die Migrantenströme abwehren wollen, ihre Legitimationsgrundlage verlieren. Viele Migranten nehmen die verkündete Gleichheit als Menschenrecht auf Mobilität ernst und treffen auf Länder und Staaten, die – gerade unter dem Eindruck zunehmender Ungleichheiten im Inneren – die Norm der Gleichheit an ihren bewaffneten Grenzen enden lassen wollen.
Dass der Nationalstaat nur ein historisch zufälliger Deutungsrahmen ist und auch überwunden werden kann, sollte bereits deutlich geworden sein. Doch anscheinend hält Baberowski eine Überwindung des Nationalstaats für nicht realistisch und/oder für nicht erstrebenswert. Dass er echten Kosmopolitismus für unrealistisch hält, wird in seinen Äußerungen zu Fragen der nationalen Souveränität und der EU besonders deutlich:
Der supranationale Staatenbund existiert aber nur auf dem Papier. Europa hat sich als unfähig erwiesen, die Krise zu meistern, weil sich jedes Land selbst am nächsten ist. Der Nationalstaat hingegen ist eine Realität und immer noch der eigentliche politische Bezugsrahmen der Menschen.
Und an anderer Stelle:
Über die Solidarität der Europäischen Union sollte man sich keine Illusionen machen. Polen und Ungarn sind ihr überhaupt nur beigetreten, weil sie ihre Souveränität bewahren, nicht, weil sie sie opfern wollten. Europa ist keine Wertegemeinschaft. Es ist inzwischen nicht einmal mehr eine Interessengemeinschaft.
Dies kann man zunächst als reine Feststellung lesen, ohne dass dort eigene politische Präferenzen erkennbar wären. Offenbar gibt es gegenwärtig in der Politik und in der Wissenschaft zwei gegenteilige Meinungen über den Charakter unserer Gegenwart. Die einen betonen die globalen ökonomischen und kulturellen Verflechtungen, die Erosion des Nationalstaats und die Bedeutung eines grenzübergreifenden Denkens. Das kommt etwa in Manuel Castells Theorie der Netzwerkgesellschaft oder Ulrichs Becks Soziologie zum Ausdruck. Auch einige politische Beobachter, wie der kürzlich verstorbene Helmut Schmidt, schätzen die Gegenwart so ein. In seinem letzten Interview mit der Süddeutschen Zeitung sagte er:
Es gibt keine souveränen Staaten mehr. Mit Ausnahme von China und den USA. Die meisten Staaten sind durch internationale Verträge gebunden. Das gilt sogar für die Amerikaner und die Chinesen, etwa durch die Verfassung der Vereinten Nationen. Der Begriff der Souveränität ist überholt.
Auf der anderen Seite gibt es jene, die, wie Baberowski, trotz Globalisierung, Klimawandel und supranationalen Organisationen dem Nationalstaat weiterhin eine hervorragende Bedeutung beimessen. Damit haben sie nicht völlig Unrecht. Es gibt schließlich keine internationalen Organisationen, bei denen man beispielsweise soziale Rechte einklagen könnte. Die supranationalen Organisationen und zwischenstaatlichen Gipfeltreffen leiden auch an notorischer Konsensunfähigkeit, wie die erwartbaren Enttäuschungen in der globalen Klimapolitik zeigen. Aber – und hier wird es politisch – aus dem Sein folgt kein Sollen. Selbst wenn man die faktische Bedeutung der Nationalstaaten betont, bleibt doch die Frage bestehen, ob man diese Bedeutung positiv oder negativ einschätzt. Ich denke, dass Baberowski den Staat für eine äußerst positive Errungenschaft hält. Dieser Eindruck ergibt sich aus seiner wissenschaftlichen Arbeit. Baberowski ist Gewaltforscher. Die großen Gewaltexzesse in der Sowjetunion und der vor allem in Osteuropa ausgeführte Holocaust werden bei Baberowski erst durch die Abwesenheit organisierter Staatlichkeit verständlich. Staatsferne Räume bieten demnach Nährboden für Gewalträume, die eine eigene soziale Dynamik entwickeln. Solche Prozesse erkennt er auch in den Krisenregionen dieser Welt, wie er etwa beim CSU-Fachkongress ‚Migration und Flüchtlinge‘ verlauten ließ:
Wir tun so, als seien Syrien, Irak und Libyen Staaten. Dort gibt es keinen Staat. Das sind öffentliche Gewalträume, in denen Gewaltunternehmer entscheiden, was getan wird. Warlords. Dann nützt es nicht, dort Geld hinzuschicken.
Der Punkt hier ist nicht, dieser Einschätzung zu widersprechen. Vielmehr möchte ich auf die unausgesprochenen Prämissen in Baberowskis Beitrag zu sprechen kommen. Die positive Wertung des Nationalstaatsprinzips ergibt sich aus Baberowskis akademischem Hintergrund. Wenn man den Staat mit seinem Gewaltmonopol in der Tradition von Thomas Hobbes mit der Einhegung von Gewalt identifiziert, leuchtet es auch ein, warum man ihn nicht zu überwinden trachtet. Damit stellt sich Baberowski in die Tradition des machtpolitischen Realismus, der zwei zentrale Vorannahmen fällt. Erstens befindet sich der Mensch im Naturzustand in einem Krieg aller gegen alle. Dieser Zustand wird erst durch die Schaffung von Staaten überwunden, die mit ihrem Gewaltmonopol Sicherheit und damit Frieden stiften. Zweitens besteht der Naturzustand nach der Entstehung der Staaten zwischen den Staaten fort, wodurch, wie Baberowski es ausdrückt, sich „jedes Land selbst am nächsten ist“. Diese beiden Prämissen erklären, warum Baberowski die Gefahr für zukünftige soziale Unruhen so hoch einschätzt und warum er außerdem die Möglichkeit einer europäischen Lösung für so unwahrscheinlich hält.
Einerseits ist es schwer vorstellbar, wie man sich völlig ohne derlei Vorannahmen über die Natur und die Interessen von Menschen und Staaten eine politische Meinung bilden könnte. Andererseits kann aus erkenntnistheoretischer Sicht die Erfahrung der Wirklichkeit diese Vorannahmen niemals als gesicherte Fakten verifizieren. In diesem Sinne ist es eine Frage des Sehepunktes. Damit bezeichnet die hermeneutische Tradition seit dem 18. Jahrhundert diejenigen „Umstände unserer Seele, unseres Leibes und unserer ganzen Person, welche machen oder Ursache sind, daß wir uns eine Sache so und nicht anders vorstellen“. In diesem Sinne obliegt es uns zu entscheiden, welche Brille wir am geeignetsten finden, um die Probleme und Potentiale der Gegenwart zu beurteilen.
Internationale Solidari-WAS?
Wir leben heute in Deutschland in einer globalisierten, pluralistischen Gesellschaft. Schon alleine deswegen sollte es nicht darum gehen, unbequeme Meinungen zu unterdrücken. Viele Menschen werden Baberowski in seiner Sicht auf die Welt zustimmen. Es könnte ihn natürlich schon stutzig machen, dass er besonders eifrige Jubelreaktionen auf Plattformen der Jungen Freiheit, der Sezession oder der Achse des Guten erntet, obwohl er sich selbst als einen Liberalen bezeichnet, der aus sozialer Sorge SPD wählt. Aber es geht hier nicht um irgendein denunziatorisches Labeling. Da bin ich eher bei Baberowski, wenn er sagt: „In Deutschland wird gern nach der Gesinnung dessen gefragt, der einen Vorschlag macht. Man stigmatisiert ihn, und schon ist er für das Gespräch nicht mehr zu gebrauchen. Auf dieses Spiel mit dem Ressentiment lasse ich mich nicht ein. Ich interessiere mich für Argumente.“ Dieser Aufforderung hoffe ich hier zu folgen, indem ich einige seiner Grundannahmen verdeutliche und hinterfrage. Dabei stellen sich viele seiner Aussagen eben nicht als gesichertes Expertenwissen heraus, sondern als Meinungsäußerungen eines Bürgers – und über diese lässt sich bekanntermaßen trefflich streiten. Der überzeugendste Widersacher Jörg Baberowskis ist in meinen Augen ohnehin Jörg Baberowski selbst. Von seinen wissenschaftlichen Arbeiten ausgehend, ist er ein zutiefst nachdenklicher und kritischer Mensch gegenüber allen postulierten Wahrheiten. Von ihm stammen eindringliche Sätze wie:
Jeder weiß, dass die Vergangenheit ebenso wie die Gegenwart unstrukturiert ist, dass die Wirklichkeit ein unbegriffenes Chaos ist. Sobald man über die Realität spricht oder schreibt, bringt man sie auf Begriffe und reduziert damit Komplexität. Man könnte auch sagen, dass Beschreibungen von Realität gut begründete Verfälschungen sind.
Historiker sollten keine Ratschläge erteilen. Anders als Politiker verstehe ich wenig davon, wie man politische Probleme lösen kann. Aber Historiker haben die Aufgabe, verstehen zu helfen, warum andere, deren Meinung man nicht teilen muss, so handeln, wie sie es tun.
Genau dieses Verstehen ist eines der zentralen Herausforderungen der Gegenwart, bei der Intellektuelle uns allen helfen können. Baberowski ist als Historiker durch und durch Hermeneutiker. Für seine Fachkollegen, die in den Quellen überall nach Ursache und Wirkung suchen, hat er kaum mehr als Spott übrig. Ihm geht es immer um den komplizierten Prozess des Verstehens, der nie absolut oder endgültig ist. Daher glaube ich – oder vielmehr hoffe ich –, dass seine Intervention eigentlich gar nicht seine wirkliche Meinung war und er bloß als eine Art Advocatus Diaboli aufgetreten ist, der etwas sagt, weil er provozieren und debattieren möchte und nichts mehr hasst als Rede- und Denkverbote.
Ich persönlich kann auch bei der Flüchtlingsdebatte nicht anders argumentieren als idealistisch. Ich halte universelle Menschenrechte für das erstrebenswerte Ideal, ich wünsche mir grenzübergreifendes politisches Denken und solidarisches Handeln. Der Soziologe Ralf Dahrendorf hat 1988 geschrieben:
Of course, one can and must start at home building a civilized society of citizens. But as long as this is confined to the boundaries of nations it is also coupled with attitudes, policies and rules of exclusion that violate the very principles of civil society. The historic task of creating civil society will be complete only once there are citizenship rights for all human beings. We need a world civil society.
Dass man heutzutage mit solchen Forderungen in der politischen Arena – selbst in den linken Parteien – häufig auf einsamer Flur kämpft, ist sehr bedauerlich. Aber selbst wenn der Nationalstaat, wie Baberowski behauptet, für ‚die Menschen‘ immer noch der eigentliche Bezugsrahmen sein sollte, ist das kein Grund, sich dem zu beugen und geschlossene Grenzen zu fordern, um vermutete – oder gar herbeigeredete – Konflikte zu vermeiden. Wenn man als Intellektueller in den Massenmedien Stellung bezieht, muss man sich seiner möglichen Wirkung bewusst sein. Wenn man sagt, „ich habe den Eindruck, dass im Augenblick die Stimmung umkippt in Deutschland“, muss man sich bewusst sein, dass gerade durch diese Worte in den Köpfen mancher Leser und Zuschauer das Gefühl entsteht, dass die Stimmung kippt. Verallgemeinernde Aussagen dieser Art sind ohne Substanz und schaffen trotzdem Realitäten, wenn sie nur oft genug wiederholt werden.
Es gibt große Herausforderungen für das 21. Jahrhundert, sei es das Flüchtlingsproblem, der Klimawandel oder die soziale Ungleichheit. Eine Gemeinsamkeit dieser Probleme besteht darin, dass sie nur in Form eines internationalen, solidarischen Projekts zu lösen sind. Es gibt Weltbilder, die uns systematisch daran hindern, unser sehr wohl vorhandenes Einfühlungsvermögen anzuwenden – und eines dieser Weltbilder ist der Nationalismus. Vielleicht ist mit dieser Einsicht noch keine der konkreten Fragen der Politik gelöst. Aber sie stellt eine Grundvoraussetzung dafür dar, dass nachhaltige und menschliche Lösungen denkbar werden.
Bilder:
Jörg Baberowski Leipziger Buchmesse 2012 von Lesekreis.Veröffentlicht als gemeinfrei über Wikimedia Commons.
Frontex von Tjebbe van Tijen. Veröffentlicht unter CC BY 2.0 über Flickr.
Deutsch mich nicht voll von Eva Maria. Veröffentlicht als gemeinfrei über notesofberlin.
Grundgesetz auf Stein Tim Reckmann. Veröffentlicht unter CC BY-NC-SA 2.0 über Flickr.
Love Peace Unity von Cormael. Veröffentlicht unter CC BY-NC-ND 3.0 über DeviantArt.