Die kritische Auseinandersetzung mit Populisten verführt dazu, es ihnen gleichzutun und auf Eskalation zu setzen. Gezielt gestreuten Provokationen folgt zuverlässig die Empörung, auf verbale Entgleisungen der moralische Aufschrei. Wenn Ethnopluralisten Kleinstaaterei und Kulturchauvinismus frönen, wird von ihren Gegnern unweigerlich das Pathos der universellen Menschenrechte bemüht. Zitieren sich Rechtskonservative schneidig durch die Œuvres von Ernst Jünger oder Oswald Spengler, parieren Linksprogressive umso leidenschaftlicher mit Michel Foucault oder Chantal Mouffe. Angesichts irritierender Vermischungen im rechten wie im linken Lager – neoliberale oder dieselfahrende Grüne, sozialdemokratische Putinversteher, Hipster-Identitäre, rhetorisch versierte Neonazis, etc. –, wirken die überkommenen, komfortablen Kampfbegriffe immer öfter hilflos. „Nazi!“ schleudern die einen dem Nationalkonservativen ins Gesicht; „Linksfaschistin!“ brüllen die anderen der Linksliberalen hinterher.
Wenn es Populisten gelingt, ihre Kritiker in eine Arena mit aufgepeitschter Stimmung zu locken, haben sie schon gewonnen. Was dann gesagt, wie dann argumentiert wird, spielt eine untergeordnete Rolle. Das Medium ist die Botschaft und der Ton macht die Musik, in diesem Fall: den Marsch.
Von der SVP gelernt: Die populistische Logik
In ihrem Buch Ist die AfD zu stoppen? Die Schweiz als Vorbild der neuen Rechten geht Charlotte Theile dieser populistischen Logik nicht auf den Leim. Keine Hysterie, keine Apokalyptik, keine dramatischen Apelle, kein hymnisch-epischer Ton. Die Schweiz-Korrespondentin der Süddeutschen Zeitung präsentiert vielmehr eine nüchterne, unaufgeregte Analyse der Gründe, warum die Alternative für Deutschland (AfD) sich so auffällig oft an der schweizerischen politischen Kultur im Allgemeinen und der rechtsnationalen Schweizerischen Volkspartei (SVP) im Speziellen orientiert. Dabei scheut Theile den Direktkontakt nicht, was zum erfreulich niedrigen Abstraktionsgrad ihrer Ausführungen beigetragen haben dürfte. Die Kapitel handeln nicht nur von den Neuen Rechten, sie basieren auch auf Begegnungen und Gesprächen mit deren VertreterInnen, darunter Alexander Gauland, Marc Jongen, Alexander Segert und Christoph Blocher.
Theile zeichnet nach, wie die AfD Aspekte der schweizerischen Politik für den angestrebten Umbau Deutschlands selektiv aufgreift. Getreu der populistischen Logik, die auf der Verabsolutierung von Teilaspekten der Realität beruht, lobt die AfD vor allem die direkte Demokratie der Schweiz. In den Communiqués und Strategiepapieren der AfD wird diese Facette schweizerischer Lebensrealität sodann metonymisch für „die Schweiz“ als solche gesetzt. Der Grund dafür liegt auf der Hand. Mit kräftiger Unterstützung finanzstarker Rechtskonservativer haben die Instrumente der direkten Demokratie in der Schweiz seit den 1990er Jahren einen Rechtsruck begünstigt, ohne die (Fassade der) bürgerliche(n) Ordnung zu zerstören. Die AfD wünscht sich genau dieses Szenario für Deutschland: Die Verschiebung der bürgerlichen Mitte weit nach rechts, ohne diese Verschiebung so „radikal“ oder „extrem“ wirken zu lassen, wie es etwa bei der NPD der Fall wäre. Deshalb das kontinuierliche Spiel auf der Klaviatur der Tabus und das darauffolgende rituelle Zurückrudern und Beschwichtigen: Empörung, Aufschrei und Gegenwind sind nicht das eigentliche Ziel der Partei, sondern schleichende Gewöhnung und Abstumpfung. Irreführende Begriffe wie „kriminelle Ausländer“, die in der Schweiz mittlerweile fast selbstverständlich verwendet werden, sollen auch in der Bundesrepublik zum Alltag gehören.„Weniger Tabus!“, ist die Losung. Da verwundert es nicht, dass Alice Weidel, Mitglied im AfD-Bundesvorstand, einen Zweitwohnsitz im schweizerischen Biel hat.
Die SVP und ihr weltanschauliches Organ, die von Roger Köppel geleitete Weltwoche, beherrscht diese in speziellen Medienschulungen erlernte Kunst schon seit langem. Tragikomisch ist es, dass eine dezidiert nationalistische, gar mit dem Völkischen liebäugelnde Partei wie die AfD ausgerechnet des Vorbilds einer anderen Nation bedarf. Genauer gesagt: des Zerrbilds. Denn während die AfD die plebiszitären Elemente der Schweiz oder deren Steuerpolitik in höchsten Tönen preist, spielt etwa die liberale Drogenpolitik mancher Kantone (Zürich) oder der tolerante Umgang mit Hausbesetzern (Bern) keine Rolle – von schweizerischen Tugenden wie Kompromiss und Konkordanz ganz zu schweigen. Auch fürchtet die AfD den Verlust des Deutschen als alleiniger Amtssprache, während die Schweiz gleich vier offizielle Amtssprachen kennt.
Spätestens hier wird klar, dass die AfD nicht die Schweiz als solche, sondern ein nach ihrem Gusto gestaltetes Bild der Schweiz vor Augen hat: die Schweiz jener 30 Prozent, die die SVP wählen; nicht die Schweiz jener 70 Prozent, die sie nicht wählen. Was die Mehrsprachigkeit betrifft, besteht nicht einmal eine Übereinstimmung mit der SVP. Dieser Punkt hätte im Buch klarer herausgearbeitet werden können – eine Lücke, die allerdings durch erhellende Recherchen zu (möglichen und tatsächlichen) Verbindungen zwischen AfD und SVP auf personeller und Vereins-Ebene gefüllt wird.
Internationaler Nationalismus
So belegt Theile, dass es ungeachtet der Beteuerungen des SVP-Übervaters und Milliardärs Christoph Blocher, seine Partei sei gänzlich autonom – gleichsam die politische Verkörperung des Sonderfalls Schweiz – durchaus Verbindungen zwischen SVP und AfD gibt. In Interlaken fand 2016 beispielsweise eine Veranstaltung der der SVP nahestehenden und personell mit ihr eng verflochtenen „Aktion für eine Unabhängige und Neutrale Schweiz“ (AUNS) statt, an der auch die AfD-Politikerin Frauke Petry teilnahm – und wo sie ein Loblied auf die Schweiz anstimmte. Am Beispiel des rechtskonservativen Aktivisten David Bendels beleuchtet Theile weitere Verbindungen zwischen SVP und AfD. Bendels‘ „Verein zur Erhaltung der Rechtsstaatlichkeit und bürgerlichen Freiheiten“ betreibt zum einen Wahlwerbung für die AfD und verfügt zum anderen, so Theile im Rückgriff auf Recherchen des Spiegel von 2016, über eine „undurchsichtig[e] Verbindung in die Schweiz.“ Bendels halte sich auffällig häufig in Zürich auf, „meistens hat er so viele Termine, dass er dann doch keine Zeit für ein Treffen hat. Zu Hause in Franken, wo er als Bezirksgeschäftsführer Oberfranken bei einem Verband namens „Deutscher Arbeitgeber Verband“ angestellt ist – auch dieser Verein eine AfD-nahe Neugründung, deren offizieller Name über die tatsächliche Aufgabe hinwegtäuschen kann –, hat Bendels mehr Zeit. Was er in Zürich macht? Zum einen, sagt Bendels, führe er Hintergrundgespräche mit NZZ und Weltwoche, zum anderen schaue er bei [dem Ex-Sozialisten, heutigen Rechtsnationalen und SVP-Werber] Alexander Segert vorbei. Aber dafür so oft nach Zürich reisen? Kann Segert ihm die Entwürfe [für Werbung] nicht per E-Mail zusenden?“
Theile stellt die Möglichkeit in den Raum, dass „nicht nur zahlreiche Spender aus Deutschland, sondern auch Schweizer … über [den Verein] einen eleganten Umweg zur AfD nehmen [können]. Sie unterstützen die deutsche Rechte, ohne dass sie als Parteispender öffentlich genannt werden müssen. […] Wer auf keinen Fall als Spender auftauchen möchte, hat einen Anreiz, auf den Verein zurückzukommen – sei das als mittelständischer Unternehmer aus der deutschen Provinz oder als Schweizer Politiker, der öffentlich immer betont hat, keinerlei Verbindungen zur AfD zu haben.“ Bendels‘ Verein könnte im Verbund mit Segert das für die AfD werden – oder ist es schon –, was die AUNS seit langer Zeit für die SVP ist.
Theiles in bestem Wolf-Schneider-Journalistendeutsch verfasster, mithin unprätentiös-sachlicher und zugleich lebendig-anschaulicher Text leistet das, was man sich von seriösem wie auch engagiertem Journalismus erhofft: Einerseits sind da fundierte Recherchen, in denen Vermutungen als Vermutungen und Tatsachen als Tatsachen ausgewiesen werden. So erläutert Theile, wie Segert nicht nur die teils unverhohlen rassistischen Kampagnen der SVP gestaltet, sondern damit eine weltanschauliche Mission verbindet. Laut eigenem Bekunden will er „der Angst eine Stimme“ geben und die politische Verfasstheit Europas nachhaltig verändern, weshalb er auch für die rechtspopulistische österreichische Partei FPÖ wirbt. Was die Finanzströme betrifft, die mutmaßlich aus der oder über die Schweiz an die AfD gelangen, diskutiert Theile mögliche Szenarien, sieht jedoch davon ab, Vermutungen den Anschein der Gewissheit zu geben. In dieser Hinsicht liegt noch viel Arbeit vor investigativen Journalisten. Andererseits positioniert sich die Autorin durchaus unmissverständlich: Dass sie der AfD und dem internationalen Rechtsruck ablehnend gegenübersteht, wird auch ohne wortgewaltige Bekenntnisse klar. Gerade vor dem Hintergrund all der brummkreiselnden Meinungsmacher auf rechter wie linker Seite (Augstein vs. Fleischhauer, Weltwoche vs. Wochenzeitung, etc.) ist das verdienstvoll.
Qualitätsjournalismus als Antwort
Theile beweist, dass die Auseinandersetzung mit dem Rechtspopulismus nicht mit den gleichen unsauberen Mitteln, ideologischen Scheuklappen und schrillen Tönen, die AfD und SVP zu Recht angelastet werden, geführt werden muss. Sie mischt sich ‚unters Volk‘, sie betreibt Feldforschung, sie beobachtet, sie fragt nach und nimmt ihre Gegenüber grundsätzlich ernst. Die Welt sieht sie, trotz ihrer persönlichen Positionierung, nicht durch die Brille eines geschlossenen „Denkstils“ (Ludwik Fleck). Ihr Buch kann über den spezifischen Inhalt hinaus und gerade aufgrund seines unspektakulären Charakters exemplarisch für lösungsorientierte Ansätze im Umgang mit Rechtspopulisten verstanden werden. Nicht der viel beschworene Wettstreit möglichst starker „Meinungen“, sondern auf Intersubjektivität (vulgo: breite Bevölkerungsschichten) abzielende, durch empirische Recherchen gestützte journalistische Tugenden, die denen der Wissenschaft in vielerlei Hinsicht ähnlich sind (vgl. bspw. Wolfgang Welschs Konzept der „transversalen Vernunft“, die im „Prozessmodus“ auf „Übergang, Vergleich und Abwägung“ fokussiert), werden künftig wichtiger denn je sein.
Wenn mehrere unterkomplexe Meinungen, etwa in Talkshows, aufeinanderprallen wie einst die kugelförmigen, harten Kulturen in der Vorstellung Johann Gottfried Herders, ist noch nichts gewonnen. Im Gegenteil: Idiotien unterschiedlicher Provenienzen verstärken sich im Wettstreit häufig wechselseitig. Meinungsfreiheit ist eine notwendige, aber keine hinreichende Bedingung für die Entstehung und den Bestand demokratisch-freiheitlicher Gesellschaften. Deshalb müssen seriöse Grundlagen für Meinungsbildung und Urteilsfindung wieder an Bedeutung gewinnen– hier sind Journalismus und Wissenschaft gleichermaßen gefragt, bieten sie im besten Fall doch nicht nur leicht zu habende Orientierung, sondern auch kritische Desorientierung, welche die blinden Flecken und Widersprüche von geschlossenen Meinungssystemen aufzeigt. Die hiermit verbundene sorgfältige, langfristig orientierte Basisarbeit und die Abkehr von narzisstischer Symbolpolitik sind zwar weniger adrenalinselig als romantischer (Klassen-)Kampf, revolutionärer Aufbruch oderideologische Zuspitzung– aber dafür nachhaltiger und nicht so leicht korrumpierbar. Gewiefte, undogmatische, kritisch-pragmatische und zielorientierte Graswurzelbewegungen, wie sie Theile am Beispiel der schweizerischen Operation Libero gegen Ende des Buches präsentiert, stellen im Bereich der Zivilgesellschaft vielversprechende Alternativen zur Alternative dar.
Im Kern vertraut Theile also auf die Argumente und die Lebensstilangebote der offenen und freiheitlichen Gesellschaft – die Frage danach, ob diese tatsächlich stark genug sind, um auch in Zeiten ökonomischer Krisen oder politischen Chaos‘ zu bestehen, bleibt in ihrem lesenswerten Buch allerdings unbeantwortet.
Ein Gedanke zu „Wider die Eskalation“