Wider die Matinalnormativität!

„Morgenstund hat Gold im Mund.“
„Der frühe Vogel fängt den Wurm.“
„Am Abend wird der Faule fleißig.“
Jede_r hat mindestens einen dieser Sätze schon mal hören müssen. Den Wenigsten wird allerdings bewusst, dass dabei ein Ordnungssystem unserer Gesellschaft sichtbar und gleichzeitig reproduziert wird: die Matinalnormativität. Denn Frühaufstehen gilt als Tugend und Matinalisten als leistungsfähig, lang oder zeitversetzt Schlafende dagegen als faul und nutzlos. Diese Norm strukturiert die gesamte Gesellschaft, ohne dass dies hinterfragt oder überhaupt als Missstand wahrgenommen wird.

Die Matinalnormativität der Gesellschaft

Es fängt bereits bei den Kleinsten an. Der Unterricht an den Schulen beginnt in der Regel um acht Uhr. „Zeitig“ nennen das manche ganz unverfroren euphemistisch, obwohl doch zehn Uhr ebenso eine Zeit wäre. Studien zeigen, dass Kinder um acht Uhr morgens in etwa so konzentriert sind wie um 12 Uhr abends. Den Matinalisten ist egal, dass dadurch viel Potenzial auf der Strecke bleiben muss, solange nur weiterhin dem Wecker gehuldigt wird. Das bedeutet im Endeffekt, dass die Kinder aufstehen müssen, wenn die Sonne noch nicht einmal an’s Aufgehen denkt. So wird ihnen schon im jungen Alter eingebläut, dass die Nacht nur dann etwas wert ist, wenn sie zum Morgen umgedeutet wird.

Das gleiche gilt für Krankenhäuser. Dort gibt es das Frühstück mitten in der Nacht (unchristlich ist für eine solche Tageszeit gar kein Ausdruck) und das Abendessen dafür am späten Nachmittag. Unter diesen Umständen ist es wenig überraschend, dass sich vor allem ältere Menschen unter den Krankenhausnutzern finden. Diese kommen aus biologischen Gründen mit weniger Schlaf aus und können schon um sechs Uhr nachts den Fernseher anschalten, um jüngere Mitpatienten zu quälen.

Wie weit die Matinalisten in ihrem Wahn gehen, zeigt eine Imagekampagne aus Ostdeutschland. Die Politik Sachsen-Anhalts findet es nicht etwa skandalös, dass dessen Einwohner bundesweit am frühsten aufstehen (seinen Ursprung hat das in weiten Pendelstrecken), sondern deutet dies zur Tugend um und bewirbt sein Bundesland als „Land der Frühaufsteher“. Immerhin: Die matinalistische Werbekampagne, die zehn Jahre lang mit EU-Geldern finanziert wurde, endet im April.

Weiterhin und wieder einmal ertragen müssen wir hingegen die Sommerzeit und die damit verbundene unsägliche Zeitumstellung. Ökonomisch und verkehrstechnisch ist diese Maßnahme schon lange umstritten. Dass Studien zeigen, dass vor allem Langschläfer darunter leiden, wird dagegen gerne verdrängt. Es trifft ja nur die vermeintlich Arbeitsscheuen.

In der Folge machen die zahlreichen Ämter des Landes nun noch früher auf – und folglich früher zu. Den ohnehin benachteiligten Langschläfern wird damit nicht nur der Zugang zu staatlichen Leistungen erschwert, sondern auch eine erfolgreiche Beamtenkarriere. Wie so oft könnte der Staat hier von der Privatwirtschaft lernen: Tankstellen und Kioske bieten ihren Service auch noch dann an, wenn der zeitversetzt Schlafende seinen Tag beginnt.

Sie waren zuerst da

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Widerstand beginnt bei jedem Einzelnen
Nun könnte man resigniert sagen: „Die Welt ist nun einmal von den Frühaufstehern geprägt worden. Das ist auch erklärlich, denn sie waren halt zuerst da“ (Wolf Richter). Doch damit wollen wir uns nicht zufrieden geben. Es ist an der Zeit, den Matinalisten entgegenzutreten! Zum Glück gibt es Vereine wie Delta t, die sich für zeitversetzt und langschlafende Menschen einsetzen. Auf deren Homepage heißt es:

„Ausschlafen ist ein Luxus, den sich vor allem die abhängig beschäftigten DELTA t’ler nur gegen ihre Natur mit verfrühtem zu Bett gehen erkaufen können. Ständiges zu spät kommen, unnötig schlechte Leistungen und ein permanenter Gewissensdruck sind die Folgen. Das kreative Potential bleibt ungefördert, denn wer zuerst kommt malt (sic!) eben nur dann, wenn dies seinem Wesen entspricht.“

Lasst uns Delta t in seinem Kampf unterstützen und zur sich nächst bietenden Gelegenheit kräftig ausschlafen. Wenn wir es richtig anstellen, holen wir die Frühaufsteher alle zwei Tage ein. Auf dass Studenten in Zukunft nur deswegen um sieben Uhr aufstehen müssen, weil um acht der Edeka zumacht.

6 Gedanken zu „Wider die Matinalnormativität!“

  1. Aprilscherz hin oder her, selbst das Fünkchen Wahrheit, das bekanntlich auch in einem guten Witz steckt, ist hier schlichtweg Unsinn.

    Da schreibt wohl nämlich ein Student, der keine Ahnung vom Arbeitsleben hat. Der gesellschaftliche Druck geht nämlich nicht von den Frühaufstehen aus, sondern von den Spätaufstehern, die Abends entsprechend am längsten im Büro bleiben.

    Währen morgends um 7 normalerweise keiner aus dem oberen Management da ist, wird man dann schief angeschaut, wenn man „schon um 17 Uhr“ nach hause geht.

    In vielen Unternehmen führt dieses „race to the bottom“ dazu, dass durch den sozialen Druck beträchtliche Überstunden aufgebaut werden. Der Großteil der Überstunden entsteht am Tagesende.

  2. Das Fünkchen Wahrheit, das in dem Artikel steckt, richtet sich hauptsächlich gegen die Zeitumstellung, gegen teure und fragwürdige Imagekampagnen, gegen die tatsächlich sehr altmodische Zeitregelung in den meisten Krankenhäusern und gegen zu frühen Unterricht (auch wenn ich das als Schüler selber nicht so schlimm fand).

    Ich glaube für das Arbeitsleben gibt es dennoch beide Effekte: Die Frühaufsteher üben Druck auf die Langschläfer aus, die Langbleiber Druck auf die Frühgeher.

  3. Klasse-Artikel, für den es im wahrsten Sinne des Wortes Zeit wurde! Die Frühaufsteher-Idolatrie dürfte aus unserer Vergangenheit als Agrargesellschaft herrühren, als das Tageslicht zur Arbeit genutzt werden mußte. Mein Volksliederbuch gibt da jedenfalls eindeutige Hinweise. Von Ernst Bloch stammt übrigens die Feststellung, die Erfindung der Elektrobirne habe dem Geister- und Aberglauben der Bevölkerung stärker entgegengewirkt als die gesamte Aufklärungsliteratur und damit beginnende Bildungsaktivitäten für das Volk. War ja immer dunkel. Von daher kann man dieser Matinalnormativität allenfalls ein Restverständnis entgegenbringen – allerdings nicht für heute, sondern für die Welt vor zweihundert Jahren. Heute hat man ja zumindest diese 3 Gruppen: die normalen Frühaufsteher und Ignoranten der tatsächlichen Wertevielfalt; die bürokratiegläubigen Hierarchiker, d.h. alle, die sich in den Krankenhäusern nach den Bedürfnissen der Chefärzte richten, die mittags den Job hinter sich haben wollen weil sie zum Golf müssen, drittens die Sadisten, z.B.Militär. –
    Was ich nicht verstanden habe: was hat eine erfolgreiche Beamtenkarriere mit Wachsein zu tun, wann auch immer?

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