Zurück oder Zukunft?

Der jüngste EU-Gipfel eignete sich wiedermal nicht, um große Schlagzeilen zu generieren. Neben dem Streit um die Haushaltsmittel und einem Programm gegen die Jugendarbeitslosigkeit, das von vielen Seiten als unzureichend kritisiert wird, ist kaum etwas vorzuweisen. Stattdessen werden nationale Interessen verstärkt in den Vordergrund gestellt und eine aufgeklärte politische Diskussion über Sinn und Struktur einer stärkeren Union bleibt aus. Dabei sind die Probleme drängend und der Nationalstaat alleine scheint ihnen kaum gewachsen. Der EU droht eine ganze Generation verloren zu gehen, die durch Perspektivlosigkeit in die Opposition getrieben wird. Es wird Zeit, dass man ihre Proteste ernst nimmt.

Der fehlende Wille zur Integration

Dabei wäre es nur zu wichtig, dass die immer wieder angestoßene Diskussion über den weiteren Integrationsprozess am Leben gehalten wird: Andere Teilbereiche der Gesellschaft haben die nationalstaatlichen Grenzen längst hinter sich gelassen. Die wirtschaftliche Krise der letzten Jahre hat sich auch deswegen zu einer politischen Krise entwickelt, weil es keinen politischen Rahmen gibt, um die Entwicklungen der globalen und europäischen Wirtschaft zu bearbeiten.

Der Nationalstaat scheint vor diesem Hintergrund immer häufiger als ein zu enges Korsett für eine effiziente Politik. Längst wird ein großer Teil der deutschen Gesetze in Brüssel verabschiedet. Auch die Interventionen des Europäischen Gerichtshofes verdeutlichen, dass der Integrationsprozess die Souveränität der einzelnen Staaten längst beschnitten hat. Am deutlichsten erfahren das sicher die Menschen in den Ländern, die aktuell von der Troika überwachte Strukturreformen durchführen müssen – ob sie wollen oder nicht. Gleichzeitig drängen andere Player auf die Bühne der internationalen Politik, die das Selbstverständnis der europäischen Nationen langsam aber sicher in seine Schranken weisen. Mit dem wachsenden Selbstbewusstsein Chinas und Russlands erscheinen selbst Länder wie Deutschland immer kleiner – wer kann schon sagen, wie eine europäische Krisenpolitik in Zukunft aussehen könnte, wenn China und Indien den IWF dominieren?

Doch anstatt die Krise als einen Motor für weitere Schritte anzusehen, wird der Nationalstaat wieder vermehrt in den Vordergrund gestellt: Eurokritische Parteien gibt es in jedem Staat. Aber auch die aktuelle deutsche Regierung genießt ihre komfortable Position durch ihr politisches und wirtschaftliches Gewicht und sieht keine Notwendigkeit zur Veränderung der Entscheidungsprozesse innerhalb der EU. Gerade das Minimum an notwendiger Abstimmung zwischen den Staaten wird realisiert. Doch am Ende versucht jede Regierung, ihre Schäfchen ins Trockene zu bringen.

Probleme einer rückwärtsgewandten Politik

Ein entscheidender Punkt scheint in diesem Zusammenhang in den inneren Problemen der europäischen Staaten zu bestehen. Das in der Nachkriegszeit etablierte Modell der Parteiendemokratie hat mit sinkender Zustimmung zu kämpfen. Dafür ist nicht zuletzt das Modell der Wählermobilisierung über den Wohlfahrtsstaat verantwortlich. Über Jahrzehnte hinweg wurden den WählerInnen immer neue Leistungen versprochen, um sie für die eigene Partei an die Wahlurne zu rufen. Doch die steigenden Staatsschulden lassen vor dem Hintergrund der weltweiten wirtschaftlichen Verflechtungen und des demografischen Wandels immer mehr Zweifel am Fortbestand dieses Systems – zumindest in seiner jetzigen Form. Andererseits trauen sich ParteipolitikerInnen nicht, Leistungen zurückzunehmen oder eine ernsthafte Reform der Sicherungssysteme zur Diskussion zu stellen. Allein die Familienförderung in Deutschland umfasst 150 verschiedene Leistungen und der Dschungel an Steuergesetzen scheint weitestgehend unbekanntes Gebiet. Die Pflegereform wird immer wieder verschoben und die Lebensleistungsrente stellt für viele junge Menschen keine ausreichende Motivation für einen Urnengang dar.

Die Politik hat sich in eine vertrackte Situation manövriert. Um WählerInnen und Sozialstaat erhalten zu können, ist eine gute Wirtschaftspolitik nötig. Zur gleichen Zeit offenbaren sich genau hier die oben angerissenen Grenzen des nationalstaatlichen Horizonts: Wirtschaft – vor allem die Finanzmärkte – denkt und agiert längst global und selbst bei authentischem Kampfeswillen wird sie sich wohl nicht im nationalen Alleingang „an die Kette legen lassen”. Ein Ausweg wäre die Flucht nach vorn. Auch hier lauern viele Probleme und Risiken, doch es winkt auch ein neues Verständnis von Staatlichkeit mit neuen Freiheiten und Gestaltungsmöglichkeiten. Die andere Option ist der Weg zurück. Ein Großteil der WählerInnen und PolitikerInnen sind anscheinend nicht bereit, die aktuellen Denkmuster zumindest infrage zu stellen. Und so bietet sich auch der Rekurs auf die Nation an, um die Legitimität der eigenen Politiken sicherzustellen. In den Nachrichten begegnen einem daher auch immer häufiger diese Muster, die teilweise schon abgeschrieben wurden. So wird die europäische Integration von vielen Seiten in immer weitere Ferne gerückt, um auf Probleme zu reagieren, die innerhalb der Union womöglich sogar einfacher zu lösen wären.

Die Zukunft steht auf dem Spiel

Diese beiden Möglichkeiten prägen auch die politischen Landschaften Europas und treten dort am klarsten zutage, wo eine Entscheidung unausweichlich wird: In den krisengebeutelten Staaten Südeuropas und den kleineren Staaten, die längst realisiert haben, dass nur die EU ihnen auch zukünftig die Möglichkeit der Mitbestimmung bietet. Doch hier macht sich die mangelnde Identifikation mit der Union bemerkbar. Es ist kaum möglich Programme zur Bekämpfung der Jugendarbeitslosigkeit auf die Beine zu stellen, da PolitikerInnen und SteuerzahlerInnen nicht gewillt sind, Geld abzugeben.

Dabei steht viel auf dem Spiel. Gerade die Jugendarbeitslosigkeit zeigt, dass ein Umdenken erforderlich ist. Und nicht nur in Europa werden die Forderungen nach mehr Gestaltungsmöglichkeiten für die Zukunft und Rücksicht auf die Belange junger Menschen immer häufiger auf die Straßen getragen. Denn hier werden die Weichen für die Zukunft schon gestellt – die jungen Menschen, die keine Perspektiven sehen und die EU immer häufiger als Bösewicht oder Papiertiger erleben, sollen dieses Projekt einmal fortführen und tragen. Ihnen ist das Globale näher als den vorhergegangenen Generationen und sie haben (noch) keine Rentenversicherungen und Eigenheime und somit auch weniger zu verlieren.

Sicherlich ist jetzt keine blinde Reformwut gewünscht und in diesem Sinne muss von beiden Seiten Dialogbereitschaft bestehen. Aber ein entschiedener Schritt nach vorne muss getan werden. Und in diesem Sinne ist auch die Wahl zwischen zurück oder Zukunft keine wirkliche. Denn durch Politik lässt sich die Globalisierung längst nicht mehr aufhalten. So werden die Reformen früher oder später doch notwendig – es stellt sich dann nur die Frage, ob die Politik und ihre Projekte dann noch auf Menschen treffen, die ihnen ihr Vertrauen leihen. Es wäre für PolitikerInnen an der Zeit, dieses Neuland zu betreten – noch haben sie die Möglichkeit, seine Bewohner dabei mitzunehmen.

„Zurück oder Zukunft?“ weiterlesen

Neuland

Willkommen auf dem Blog Unsere Zeit! Wir, vier Studenten in Berlin, Friedrichshafen und Bielefeld, beobachten Zustände und Entwicklungen der Gegenwart und kommentieren diese über Blogeinträge. In einer Zeit, deren zunehmende Komplexität das Einnehmen klarer Standpunkte immer schwieriger macht, wollen wir Positionen und Argumente entwickeln, die uns und euch anregen, euer Denken im Idealfall weiterbringen und euch gerne auch aufregen sollen. Der Blog ist als eine Art Netzwerk gedacht, an dem sich prinzipiell jeder durch Kommentare oder auch eigene Artikel beteiligen kann.

Entstanden ist das Projekt im Mai 2013. Um neben dem wissenschaftlichen Arbeiten im Studium mit Fußnoten, Bibliographien und ständigem Bezug auf schon Gedachtes auch breitere, aktuellere, zugänglichere Gedanken und Texte zu produzieren, verpflichten sich die zunächst vier Autoren, je einen Beitrag pro Monat zu veröffentlichen. Die Themenwahl steht jedem weitgehend frei, obligatorisch ist nur ein Bezug zu unserer Zeit, zur Gegenwart. Der vorläufige Name des Blogs Unsere Zeit geht auf ein gleichnamiges Lied des Lyrikers PeterLicht zurück, soll darüber hinaus aber auch eine bestimmte Perspektive verdeutlichen: Wir schreiben als Angehörige einer jungen Generation. Damit wenden wir uns gegen eingestaubte Denkmodelle vieler älterer Themen- und Tonangeber in öffentlichen Diskursen, die ihre Lösungen für Probleme der Gegenwart am liebsten in der Vergangenheit suchen, gerne auch in ihrer eigenen, angeblich goldenen Jugend. Wir gehen lieber vom Offensichtlichen aus: Die Welt hat sich rasant verändert, und für die Fragen von heute sind Antworten von gestern nicht mehr ausreichend. Wir wollen nach vorne denken statt zurück, und an diesem Anspruch wollen wir auch gemessen werden.

Wir sind nicht die ersten, die den Namen Unsere Zeit verwenden. Der Name ist, warum auch immer, besonders unter langweiligen und/oder totalitaristischen Gruppen beliebt. Er wurde schon verwendet von Kommunisten, schlechten Rockbands, Nazis, Christen und Teenagern – und natürlich von unserem Peter. Ein Gegenmodell unter gleichem Namen ist daher eine ansprechende Perspektive. Eine eigene politische Verortung fällt uns gar nicht so leicht, ohne dass wir uns dabei in Traditionen stellen, mit denen wir im Zweifelsfall doch nicht in Verbindung gebracht werden wollen. Wollte man uns festnageln, so würden wir uns am ehesten der Freiheit in staatlicher Selbstverwaltung verschreiben, in dem Sinne sind wir – für alle, die doch ein Label wollen – linksliberal. Warum das überhaupt voranschicken? Weil es redlich ist, die eigene Position offen zu legen, anstatt den Leser sie mühsam zwischen den Zeilen herausklamüsern zu lassen; weil es wichtig ist zu wissen, von welchen normativen Grundvorstellungen wir ausgehen, um unsere Probleme und Lösungsvorschläge – und sicher auch deren Grenzen – besser zu verstehen.

Andererseits heißt das nicht, dass hier nur linksliberale Positionen zu Wort kommen dürfen. Über die Kommentarfunktion sind Einwände direkt möglich; nach Absprache könnt ihr euren Widerspruch ggf. auch als Artikel veröffentlichen. Dieser Blog soll eine Plattform des Meinungsaustauschs und der Meinungsverschiedenheit sein; ein Ort, um Argumente zu entwickeln und auszuprobieren, Positionen zu beziehen und sie auch wieder zu räumen; Konsens wird nicht angestrebt. Es sollte auch nicht der falsche Eindruck entstehen, dass es hier nur um Politik gehen soll. Wir interessieren uns genauso für ökonomische, intellektuelle, ästhetische und überhaupt alle Entwicklungen, aus denen man etwas über die Gegenwart lernen kann.

Das Bloggen ist für uns alle Neuland. Als journalistische Dilettanten betrachten wir dieses Projekt als Experiment. Worauf der Blog hinaus läuft, welche Themen er behandelt und welche Positionen wir vertreten, das wird sich alles erst zeigen. Kritik, Anregungen und Fragen sind natürlich immer willkommen!

So weit erst mal: Viel Spaß also beim Lesen, Reflektieren und Kommentieren,
Erik, Sören, Adrian und Julian