Wer am Anfang steht, sollte sich erst einmal ein paar Fragen beantworten, die niemand gestellt hat: Was tue ich hier eigentlich? Warum tue ich es? Und von welchem Standpunkt aus? Außerdem sollte er, das steht in jedem guten Gruppenblog-Ratgeber, nach Möglichkeit gleich im ersten Post dem gemeinsam verfassten Eingangsstatement widersprechen, um sich bei seinen Mitbloggern beliebt zu machen. Drittens sollte er schon im zweiten Satz das generische Maskulinum benutzen, damit die Hälfte seiner Leserschaft – das „ganze schöne Geschlecht“, wie Kant sagt – sofort aussteigt. Last not least sollte er auch in der sechsten Zeile noch keineswegs zum eigentlichen Thema gekommen sein. Das nämlich hat den großen Vorteil, dass er in der siebten Zeile endlich allein mit sich ist und ungestört Blödsinn schreiben kann.
In unserem ersten Post steht der schöne Satz: „Eine eigene politische Verortung fällt uns gar nicht so leicht“. Das ist, jedenfalls was mich angeht, leider (oder zum Glück?) gelogen. Mir fällt es leicht, mich auf dem schönen Plätzchen Erde zu verorten, das sich Linksliberalismus nennt. Damit ist aber noch nicht viel gewonnen, und hier erhält die Post-Passage dann doch auch für mich ihre Wahrheit: Denn was ist das eigentlich, linksliberal? Was hält ein Linksliberaler für links, und was ist für ihn liberal? (Wie) Passt das überhaupt zusammen? Da es ohnehin kein Leser bis hierhin geschafft haben dürfte, kann ich also nun einfach mal ein paar normative Setzungen riskieren, für die ich mich unter anderen Umständen massakrieren würde. Starten wir [recte: ich] also eine Expedition zum Linksliberalismus.
Wo ist links?
In Jean Amérys Essayband Widersprüche gibt es eine Zwischenüberschrift, die die Frage präzise beantwortet: „Links, wo keine Heimat ist“. Diese Feststellung, bei Améry selbst nicht explizit erläutert, kann man zum Ausgangspunkt einer Erörterung machen, wo – oder was – heute noch links ist, oder besser: sein sollte.
„Links, wo keine Heimat ist“: Das lässt sich zunächst einmal räumlich und damit wörtlich verstehen. Wer links ist, für den ist regionale und nationale Heimat, soweit überhaupt vorhanden, nicht das entscheidende. Die Linke hat immer – und über weite Strecken der Geschichte stand sie damit ziemlich allein – eine starke kosmopolitische Tradition gehabt. Es war die Internationale, die das Menschenrecht erkämpfen sollte, und nicht die Nationalstaaten. Die Linke hatte nie einen Stand in all den dörflich-provinziellen Heimat- und Schützenvereinen, deren Feste wir bis heute ertragen müssen; ihr Ort war und ist die Stadt, in der sich Menschen versammeln, die ihre „Heimat“ verlassen haben. Jenen, denen dieser „wurzellose Kosmopolitismus“ bis heute suspekt ist, kann man abermals mit Jean Améry antworten, der empört zurückfragte: „Muss der Mensch ‚verwurzelt’ sein? Ist er denn ein Baum?“ Er ist kein Baum, er kann und will sich frei bewegen, und Grenzen stehen ihm dabei nur unnötig im Wege.
„Links, wo keine Heimat ist“: Das hat aber, gerade bei Améry, noch einen tieferen Sinn. Linkssein bedeutet auch, keine intellektuelle Heimat zu haben: keinen Glaubenssatz, auf den man sich immer wieder berufen und zurückziehen könnte; kein Gedankengebäude, das für alle Zeiten präpariert wäre; keine feststehende politische Kultur, die sich nicht mit der fortschreitenden Verwandlung der Welt immer wieder selbst verwandeln müsste, um Schritt zu halten und den Anschluss nicht zu verlieren. Das heißt nicht, dass man nicht auch überzeitliche Ziele und Prinzipien bräuchte; es heißt aber, ständig neue Lösungen für neue Fragen und neue Probleme zu finden. Die Linke muss intellektuell wandel- und erneuerbar, Änderungen gegenüber offen und aufgeschlossen bleiben. Améry machte eine „Revision in Permanenz“ zu seinem intellektuellen Projekt, und genau das sollte die Linke auch tun, wenn sie nicht zum Konservatismus verkommen will.
„Links, wo keine Heimat ist“: Das klingt zugleich wehmütig und offensiv, ganz im Sinne eines Liedes von Muff Potter: „Und für den Heimatlosen ist Heimweh der Motor für die Flucht nach vorn.“ Die westliche Linke aber ist heute im Begriff, dem Heimweh nachzugeben, anstatt es als Motor zu nutzen. Sie möchte sich zeitlich und räumlich in eine Heimat zurückzuziehen: in die ethnisch und ökonomisch relativ homogenen, boomenden Nationalstaaten der zweiten Nachkriegszeit, in denen der sich in dieser Zeit erst wirklich etablierende Sozialstaat noch nicht durch Individualisierung, Strukturwandel und Globalisierung bedroht wurde. Dieser Rückzug ist nicht nur eine Abkehr vom oben skizzierten Erbe einer offenen Linken, er ist auch trügerisch und aussichtslos, weil die Entwicklungen, die dieses angeblich goldene Zeitalter an sein Ende gebracht haben, nicht mehr rückgängig zu machen sein werden, schon gar nicht alle gemeinsam.
Die räum- und zeitliche Heimatlosigkeit darf aber keine völlige Entkernung linken Denkens bedeuten. Links war und ist da, wo für Gleichheit und Gerechtigkeit gestritten wird. Soziale Ungleichheit lässt sich im Hinblick auf Gerechtigkeitsansprüche nur in Grenzen, Ungleichheit von Chancen fast gar nicht legitimieren. Vor allem daran muss man/wir/ich festhalten, wenn man das „links-“ in „linksliberal“ nicht verlieren will.
Wer ist liberal?
Michel Foucault hat in seiner Geschichte der Gouvernementalität (die eigentlich eine Geschichte des Liberalismus ist) noch einmal gezeigt, wie sehr der Liberalismus von der menschlichen Natur ausgeht, einer „Natur, die nicht das ist, dem, über und gegen das der Souverän gerechte Gesetze auferlegen und einsetzen darf. Es gibt nicht die Natur und dann, über der Natur, gegen sie, den Souverän und das Gehorsamsverhältnis, das man ihm schuldet. Wir haben eine Bevölkerung, deren Natur so beschaffen ist, daß der Souverän im Inneren dieser Natur, mit Hilfe dieser Natur, wegen dieser Natur durchdachte Regierungsprozeduren aufbieten muß.“ Die Annahme, dass der Mensch erst einmal an seinen eigenen Vorteil denkt, und die Strategie, diese Tatsache anzuerkennen und mit ihr zu rechnen, anstatt sie abzulehnen und nach Möglichkeit zu unterdrücken, ist, das muss sogar Foucault indirekt zugeben, eine der wesentlichen Errungenschaften der liberalen politischen Ökonomie.
Heute – und eigentlich ist das ein schon sehr alter Topos – ist es auch und gerade unter (deutschen) Intellektuellen en vogue, sich über die Ökonomen im Allgemeinen und das Modell des homo oeconomicus im Speziellen lustig zu machen. Das entspringt dem Bedürfnis der Intellektuellen, sich vom reinen Materialismus abzugrenzen, den sie ohnehin eher mit den Unterschichten assoziieren. Wir, so meinen sie, sind nicht so: Das Wichtigste sind uns Kunst und Wissenschaft, all die hehren Dinge, und Altruisten sind wir obendrein, sonst würden wir ja wohl kaum für Kinder in Afrika spenden. Sie identifizieren ohne Umschweife die Ökonomik mit der Ökonomie und machen die Ökonomen für die Ungerechtigkeit, die Fehler und überhaupt die Entstehung des „Kapitalismus“ verantwortlich. Diese Ablehnung der Wirtschaftswissenschaft entspringt oft einem Halb- oder Unwissen über die tatsächlichen Theorien und Techniken der Ökonomen. Der homo oeconomicus ist ein Modell zur Erklärung menschlicher Handlungen (eines übrigens, das in der Tat erstaunlich viele Handlungen zu erklären vermag) – er beschreibt nicht die unumstößliche Wirklichkeit eines Menschen, der nur und ausschließlich an kleine grüne Scheine denkt. Mit dieser Ignoranz geht das Verkennen oder Ignorieren einer zentralen Erkenntnis der liberalen Ökonomie einher, die sich in einem einzigen Satz zusammenfassen lässt: Es gibt Plussummenspiele. Wenn einer etwas gewinnt, verliert es nicht automatisch ein anderer. Man muss freiwillige wirtschaftliche Kooperation ermöglichen, gerade weil sie dazu führt, dass beide Seiten mehr gewinnen, als sie alleine gewinnen könnten.
Es ist dieses Menschenbild, das den Liberalismus auszeichnet: Der Mensch handelt prinzipiell rational; wenn er kooperiert, tut er dies auch und vor allem aus Eigeninteresse. Dieses Eigeninteresse war und bleibt für Linksradikale ein Skandalon. Weil nicht sein kann, was nicht sein darf, wollen sie den Menschen partout ihren Egoismus nicht zugestehen. Der Mensch soll ein grundsätzlich solidarisches Wesen werden, ein „neuer Mensch“, denn mit dem Alten ist der Kommunismus nicht zu machen. (Sehr schön übrigens die Reaktion der bodenständigen Schtetl-Bewohner auf die Verkündung des Kommunismus in dem wunderbaren Film Zug des Lebens: „Er erschafft den neuen Menschen!“ – „Und was macht er dann mit dem alten?“ – „Gibt’s a Altersgrenz’, um neu zu werden?“) Auch deshalb hat der reale Sozialismus immer nur Diktaturen hervorgebracht – dem allzu alten, von seinem Eigeninteresse ausgehenden Menschen wollte er bei der Verwirklichung des Kommunismus nicht vertrauen, er musste beherrscht, kontrolliert und verändert werden. Der Mensch ist für den Kommunisten ein leeres Reißbrett, auf dem er einen neuen entwerfen kann.
Für eine liberale „Regierungskunst“ (Foucault) dagegen ist der Ausgangspunkt der zu einem gegebenen historischen Zeitpunkt wirklich vorhandene Mensch, möge er auch noch so egoistisch sein. Diesen Egoismus nämlich kann man sich zunutze machen, um das Gemeinwohl zu erreichen – indem man ihm die Freiheit lässt, seinen eigenen Vorteil zu verfolgen. Er wird dann beginnen, zu seinem eigenen Vorteil mit anderen zu kooperieren, und die anderen werden wiederum nur dann mit ihm zusammenarbeiten, wenn sie sich selbst einen Vorteil davon versprechen. Aus diesem Zusammenspiel entwickelt die Marktwirtschaft ihre enorme Dynamik, die staatliche Steuerung alleine niemals erreichen kann. Dass dieses System auch Grenzen hat und es töricht ist, dem Markt unkontrolliert alles zu überlassen, ist bekannt; dass der demokratische Sozialstaat Lösungen für viele dieser Probleme bereithält, ebenfalls. Festzuhalten bleibt: Der Liberale ist derjenige, der den Menschen so nimmt, wie er ist (das heißt für den Konstruktivisten: wie er sich ihm zu einem gegebenen historischen Zeitpunkt darstellt), und nicht so, wie er meint, dass er werden soll. Deshalb ist der Liberalismus ein wirklicher Humanismus.
Was ist Linksliberalismus?
Die bisher skizzierten Umrisse – wenn man so will: Offenheit, Gerechtigkeit, Menschlichkeit – geben bereits wichtige Hinweise, wie eine Kombination linker und liberaler Positionen heute zu denken sein könnte. Es gibt noch weitere Punkte, die in beiden Traditionen stark verankert sind, seit Jahrzehnten aber gerade in intellektuellen Debatten ins Abseits geraten. Die Postmoderne (hier verstanden als generelle Denkbewegung der letzten 30, 40 Jahre, nicht nur unter einigen französischen Theoretikern) hat uns Zweifel eingesät an Moderne und Modernisierung und damit auch an deren Ursprung: der Aufklärung. Gegen das liberale Narrativ einer Aufklärung, die den Menschen befreit habe, wird dasjenige einer „dunklen Aufklärung“ stark gemacht, die letztlich auch die Menschheitsverbrechen des 19. und 20. Jahrhunderts mit hervorgebracht habe. Mit der Kritik am angeblich der Aufklärung anzulastenden Kolonialismus geht dabei oft die Zurückweisung der Menschenrechte einher, die doch ganz offensichtlich nur ein neokoloniales Projekt böser weißer Männer seien, die Bewohner der Zweiten und Dritten Welt weiterhin zu knechten.
Gegen diese postkoloniale Kritik könnte man die Frage einwenden, warum die ehemals kolonisierten und unterdrückten Völker eigentlich bis heute weiße, westliche Intellektuelle brauchen, die sie vor den fiesen westlichen Einflüssen beschützen. Können sie sich nicht selbst gegen westliche Einflüsse wehren, und haben sie nicht das Recht, sie auch anzunehmen und sich erfolgreiche Konzepte kulturell anzueignen? Das soll nicht heißen, dass die Postmoderne nicht intellektuell, vor allem erkenntnistheoretisch, überaus fruchtbare Konzepte hervorgebracht und nicht auch politisch und historisch Ambivalenzen aufgedeckt hat, die vorher häufig nicht erkannt wurden. Ambivalenz aber (und diesen schönen Satz habe ich von Tim B. Müller) „ist noch nicht der Weg in die Katastrophe“. Es wäre hier wichtig, die kontingente Struktur historischer Entwicklung auch wirklich ernstzunehmen, anstatt sie einseitig auf Gewalt, Krieg und Völkermord auszurichten. Die Aufklärung hat eben in der Tat eine Befreiung bewirkt, die auf der anderen Seite allerdings auch Kräfte freigesetzt hat, die sie nicht mehr kontrollieren konnte.
Gerade hier setzen die Menschenrechte an, indem sie eine rechtliche Norm gegen Gewalt, Totalitarismus und Unterdrückung setzen, und gerade für sie würde ich die Rede von der Ambivalenz nicht gelten lassen. Wem hätte es denn jemals geschadet, dass es Menschenrechte gibt, außer denjenigen, die anderen ihre Rechte nehmen wollten? Auch die Universalität der Menschenrechte ist nicht ambivalent in dem Sinne, dass sie zu erneuter Unterdrückung führen müsste. Der Kulturrelativismus ist als normatives Projekt sehr viel problematischer, weil sich mit seiner Schützenhilfe Gewalt und Unterdrückung auf der ganzen Welt rechtfertigen lassen. Traditionen, die die schmerzhafte Verstümmelung junger Mädchen oder die Steinigung von Frauen und Homosexuellen vorsehen, sind schlechte Traditionen, mögen sie auch noch so tief in irgendeiner Kultur verankert sein. Sich von diesen Traditionen zu trennen, bedeutet eben nicht, die eigene Kultur aufzugeben. Denn das ist ein weiterer Vorwurf: Wer die Menschenrechte verbreiten will, will eine homogene Welt schaffen, in der alles so aussieht wie bei uns. Dabei zeigt das japanische Beispiel, dass eine Kultur sich keinesfalls auflöst, wenn sie angeblich westliche, de facto aber universale Werte wie die Menschenrechte anerkennt und übernimmt.
Zu guter Letzt möchte ich dafür plädieren, eine linksliberale Tradition wiederzubeleben, die im Rahmen postmoderner Kritik ebenfalls verschütt gegangen ist: den guten alten modernen Fortschrittsoptimismus. Dafür sprechen vor allem zwei taktische Erwägungen. Erstens: Wer optimistisch in die Zukunft blickt, wird auch die positiven Aspekte einer neuen Entwicklung eher erkennen. Er ist daher weniger anfällig für einen larmoyanten Konservatismus, der früher schon immer alles besser fand und weder politisch noch intellektuell viel verspricht. Wer die Gegenwart annimmt, kann sie besser in seinem Sinne gestalten. Zweitens: Diese Haltung verspricht eine bessere Integration junger, nachfolgender Generationen. Wer jung ist, für den sind die Neuerungen, über die der Kulturkritiker lamentiert, bereits eine Selbstverständlichkeit, weil er es gar nicht anders kennt. Es ist daher kein Zufall, dass der Spruch „Früher war alles besser“ häufig dicht gefolgt wird von einem kopfschüttelnden „die Jugend von heute“ – Topoi, die sich intellektuell tatsächlich nicht nennenswert über dem Niveau von „früher war mehr Lametta“ abspielen. Dass wir eine Welt der Freiheit, Gerechtigkeit, Offenheit und der Menschenrechte verwirklichen können (soviel Pathos sei dann doch gestattet), daran müssen wir weiter glauben. Nur dann können wir dafür eintreten.
Literatur
(Sorry, konnte ich mir nicht verkneifen…)
Jean Améry, Widersprüche, Klett-Cotta, Stuttgart 1971
Jean Améry, Regionalismus: Notwendigkeit, Ideologie – oder Ersatzrevolution? Randnotizen zur Publikation „Thema: Regionalismus“ [1977], in: Jean Améry, Werke, Band 7: Aufsätze zur Politik und Zeitgeschichte, herausgegeben von Stephan Steiner, Klett-Cotta, Stuttgart 2005, S. 361–377 (Zitat S. 368)
Michel Foucault, Sicherheit, Territorium, Bevölkerung. Geschichte der Gouvernementalität I, Suhrkamp, Frankfurt am Main 2004 (Zitat S. 114)
Immanuel Kant, Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung?, in: Berlinische Monatsschrift, Band 4, Zwölftes Stück, Dezember 1784, S. 481–494 (auf Wikisource)
Muff Potter, Von wegen (aus Gründen), auf: Von wegen, Universal 2005
mir hat's spätestens bei schleimen über die blöden bauern die du aushalten musst gereicht. links ja, bei liberal eine bauchlandung hingelegt.
Ich kann mich nicht an Bauern im Text erinnern. Ich halt es für eine gelungene und hilfreiche Zusammenführung der beiden Einstellungsmuster und sehe auch nicht, warum der Liberalismus falsch dargestellt worden sein sollte.
Viele aktuelle Fragen, zu denen ein „Linksliberalismus“ auch Position beziehen sollte – wie z.B. Datenspeicherung/Terrorismusbekämpfung, Umweltschutz/“Klimaschutz“ etc. – wurden nicht behandelt, aber das kann ja alles noch kommen 😉
„in all den dörflich-provinziellen Heimat- und Schützenvereinen, deren Feste wir bis heute ertragen müssen“
vulgo: bauern
„Postmoderne“, „Fortschrittsoptimismus“, Jean Améry: ja ist denn das alles noch zeitgemäß, passt das wirklich in „unsere“ Zeit? Sollen wir nicht neue Lösungen für neue Probleme finden, d.h möglicherweise auf Regierungsmodelle des 18. Jahrhunderts verzichten?
Ich weiß ja leider keine Antwort darauf. Aber für die Identifikation von Egoismus mit Rationalität („Der Mensch handelt prinzipiell rational; wenn er kooperiert, tut er dies auch und vor allem aus Eigeninteresse.“) bin ich einerseits zu idealistisch, und für die Ableitung von Menschenrechten aus dem „Menschen wie er wirklich ist“ einfach zu rational. Erwähnt das nicht auch Foucault? All das schöne Denken, das die Aufklärung beflügelte, wurde ja noch im 18. Jahrhundert liquidiert. Ein Postmoderner wie David Hume meint da zum Beispiel es gebe keinen Weg, vom Sein auf das Sollen zu schließen. Der „wirkliche“ Humanismus ist also schon zu dieser Zeit als Machttechnologie erkennbar. Dass diese auch (für viele) positive Folgen zeitigen kann, lässt sich möglicherweise überprüfen. Eine Art Idealismus des Menschen wie er wirklich ist, lässt sich daraus aber nicht ableiten, leider noch nicht einmal die einfachsten Menschenrechte. In der Universität des 18. Jahrhunderts wurde das in der Trennung von Naturrecht und guter Policey klargestellt: Wo ersteres die Fragen angeblich universaler Gerechtigkeit behandelt, geht es in der zweiten nur um Fragen zweckorientierter Steuerung.
Ansonsten: schöner Artikel.
wobei ich da nicht verstehe, was das mit „schleimen über“ zu tun hat. Die Ablehnung dieser Feste halte ich aber auch für eine Art intellektueller Arroganz. Wobei man einen solchen Nebensatz vielleicht auch nicht zu Ernst nehmen sollte.
Vermutlich ein Austriazismus? Ich glaube, die Passage muss man biographisch deuten ;-). Und als solche ist sie auch sehr ernst gemeint.
Generell: Améry und Foucault nutze ich eher als eine Art Stichwortgeber. Bestimmte Sätze oder Passagen haben mich zum Weiterdenken angeregt, dafür möchte ich ihnen dann durch Nennung Credit geben, ohne gleich ihr ganzes Denken einkaufen zu müssen. Améry war letztlich neben vielem anderen auch Marxist und kommt als solcher nicht selten zu ziemlich seltsamen Urteilen; Foucault fabuliert halt so rum, um es mal krass auszudrücken, und man sollte ihn vielleicht nicht immer völlig ernstnehmen, zumal er ja Vieles dann doch wieder überdenkt und über den Haufen wirft. Das gilt gerade für die Geschichte der Gouvernementalität, jedenfalls für den ersten Band, den zweiten kenne ich noch nicht gut genug. Was ich meinte: Foucault leitet die liberale/gouvernementale Herrschaftstechnik unter anderem daraus ab, dass ab einem bestimmten Punkt die „Bevölkerung“ als eine Naturalität wahrgenommen wird. Diese „Naturalität“ wird von Foucault eben nicht dekonstruiert, sondern (unfreiwillig?) eher noch gestützt, wenn es um die Nahrungsmittelknappheit geht, die durch genau diese Konstruktion eben beseitigt werden konnte, während die disziplinarische Herrschaft mit ihrer ständigen Überwachung/Unterdrückung/Policey genau das nicht geschafft hat. Das finde ich einen erstaunlichen Befund. Genau hier beginnt die liberale Wirtschaftstheorie (in Gestalt der Physiokraten) zu funktionieren, und sie tut das in erstaunlichem Ausmaß bis heute. Insofern ist das eben nicht nur ein Regierungsmodell des 18., sondern auch eines des 21. Jahrhunderts. Zu der Frage, wie „natürlich“ oder „wirklich“ dieses Menschenbild letztlich ist, bräuchte es noch einen eigenen Blogpost. Hier habe ich erst einmal versucht, ein paar Standpunkte zu entwickeln, von denen aus man sich dann einzelne Themen ansehen kann, ohne sie im Einzelnen groß argumentativ zu begründen.
Die Menschenrechte habe ich in diesem Post gar nicht herzuleiten versucht, da wäre viel eher Kant zu nennen mit seiner Konstruktion der Menschenwürde, die natürlich letztlich auch einfach eine normative Setzung ist – aber eine, die man braucht, wenn man Grausamkeit verhindern will.
Zur Frage der Machttechnologie. Ich weiß nicht, ob ich deinen Punkt ganz verstanden habe. Generell bin ich da Strukturfunktionalist: Macht ist nicht prinzipiell abzulehnen, sondern funktional notwendig. Der Liberalismus und seine Demokratie sind gerade Systeme, mit denen Macht begrenzt werden kann, wodurch bestimmte Disfunktionalitäten – Despotismus, Vetternwirtschaft – zwar nicht verhindert, aber gemildert werden können. Insofern ist es für mich an sich noch kein Argument, dass etwas eine Machttechnologie ist.
das ist ein insgesamt sehr schöner artikel, sören! ziemlich beachtlich die mühe, die du dir für diesen blog zu geben scheinst – und echt schön zu sehen!
es ist der zweite absatz im abschnitt „wer ist liberal?“, der mich stört.
ich verstehe nicht, weshalb du deiner ablehnung des uninformierten und durchaus herablassenden (nicht so arg intellektuellen) lästerns über den „homo oeconomicus“ eine verteidigung eben dieses defizitären modells folgen lassen musst. es ist eben dieses primat, auf dem das gros wirtschaftlicher theorien (und damit vorhersagen) fußt und das, wie du richtig sagst, durchaus seinen nutzen hat und diesen vorrangig aus seiner sparsamkeit bezieht. es ist aber eben auch dieses primat, das zunehmend eingeholt (und überholt) wird von insbesondere psychologischer forschung zu den grenzen menschlicher rationalität. das hat zunächst mal eher wenig mit einem interesse an „Kunst und Wissenschaft“ und überhaupt nichts mit einer wie auch immer gearteten „Unterschicht“ zu tun, vielmehr damit, dass menschliches verhalten – wo es sich wissenschaftlicher begutachtung denn nahbar zeigt – in vorhersagbarer weise von strikt rationalen modellen abweicht. es ist „predictably irrational“ wie dan ariely das catchy verüberschriftet hat.
nicht zuletzt derlei phänomenen ist die disziplin der behavioural economics gewidmet, der deutschland (auch dies traurigerweise vorhersagbarerweise) eher später als früher seinen teuer geglaubten glauben zu schenken scheinen wird.
ich wüsste weiters nicht, weshalb damit „das Verkennen oder Ignorieren einer zentralen Erkenntnis der liberalen Ökonomie [die der 'Plussummenspiele']“ einhergehen soll.. sind dies doch zwei zwar sehr relevante, dennoch auf verschiedenen blättern stehende punkte – wobei die ablehnung des einen mithin das verkennen des anderen nicht wahnsinnig viel (un-)wahrscheinlicher macht.
ums kurz und klar zu machen: intellektuelle süffisanz bezüglich „homo oeconomischer“ rationalität ist durchaus offen anzufeinden. jedoch nicht auf kosten rationaler kritik vor dem hintergrund der immer plausibler erscheinenden systematischen irrationalität menschlichen verhaltens.
disclaimer: und um auch hier gerechtigkeit walten zu lassen, sei gesagt, dass ich verteidige, was ich studiere – daher sicher eine gute zweidrittelmehrheit meiner motivation..
Der Homo oeconomicus wurde auch von den Ökonomen laufend angepasst. Kahnemann und Tversky haben vor knapp 30 Jahren darauf hingewiesen, dass das Framing für Entscheidungen eine große Rolle spielt und dass das in Berechnungen eingebaut werden muss. Auch Herbert Simon weist auf Grenzen der Rationalität hin und Douglass North hat die instituionelle Einbettung stark gemacht. Und trotzdem dient überall ein selbstinteressierter Akteur als Modell. Dass dieser (nach seinen Möglichkeiten) rational handelt, ist ebenfalls eine hilfreiche Annahme. Der Begriff der Rationalität ist aber sowieso ein schwieriger.
Hi Julius! Im Grunde sind wir einer Meinung. Ich wäre bestimmt der letzte, der eine wissenschaftlich begründete Infragestellung und Einschränkung des Modells homo oeconomicus, das eben wirklich nicht viel mehr als ein Modell ist, ablehnen würde. Das Scheitern des rational-expectations-Konzepts zum Beispiel zeigt ja beredt die Grenzen auf. Über behavioural economics weiß ich leider nicht genug und kann dazu wenig sagen – du bist herzlich eingeladen, dazu etwas zu schreiben, würde mich sehr interessieren. Bei den Plussummenspielen ist der grammatische Bezug etwas unklar – mit „damit“ war die verbreitete Unkenntnis gemeint, was ökonomische Theorien betrifft, nicht die über den homo oeconomicus im Speziellen.
ich weiß ja auch nicht, was sgo will, aber die gute policey ist im 18. jhd. enfach der oberbegriff fur die innenpolitik eines staates, in diesem sinne also vom analytischen begriff der disziplin, den f in surveiller et punir vorschlagt zu unterscheiden, und hat als paradigmatischen zweck eben die sicherheit der bevolkerung zum ziel.es geht da, wie du richtig angerissen hast, um eine okonomie von zweck und mittel, bei der v.a. auch die erwartung naturlicher abweichung und statistik eine große rolle spielt. die differenz von policey und naturrecht sollte dir, m.e., andeuten, dass ein unterschied zwischen einer zweckgerichteten herrschaft und einer gerechten besteht, i.d.s. also das, was du liberalismus nennst, nicht zusammenpasst mit linkheit und menschenrecht, bzw. nicht auseinander hervorgeht. und warum sollte f da etwas dekonstruieren? es geht ja um die politisch-philosophische rekonstruktion des modernen staates, nicht um ein modell idealer herrschaft.
weniger steril als solche fragen sind doch aber konkrete beispiele. wie sieht denn die linksliberale entscheidung aus, z.b. wenn es um einen interessenkonflikt zwischen stadt und land geht? sagen wir bei der energierevolution durch fracking, das länder verwüstet, städten aber energie bereitstellt?
Sehr schöner Artikel – nicht nur, wiel ich ihn zwei Mal lesen musste, um ein paar kontroverse Gedanken dazu zusammenzusuchen. Einen Punkt habe ich dann doch gefunden und den werde ich hier mal stark machen:
Mit dem Pathos vom „wirklicher Humanismus“ beantwortet man in meinen Augen Fragen, die zu stellen sich nicht (mehr) lohnt und fixiert etwas, das auch fließender gedacht werden kann. Wer kann schon das Wesen des Menschn bestimmen? Das stellen dieser Frage produziert Ballast, den man dann mitschleppen muss.
Denn die Gesellschaftlichen Handlungsbereiche gestalten sich wesentlich ambivalenter, als es dieses Modell eingestehen will. Überfordert mit unfassbarer Komplexität ist nutzenmaximierendes Kalkül eine Illusion – und selbst die KönigInnen diser Kunst saßen nachher vor Lehman Brothers auf der Straße: verdutzt und mit einer Kiste voller persönlicher Gegenständen unter dem Arm. Zudem unterteilt sich die Gesellschaft in weitaus mehr Handlungsbereiche und spätestens der/die Kunstinteressierte ist nur noch mit erheblichem Argumentationsaufwand in dieses Modell einzupassen.
Gleichzeitig fallen im Homo Oeconomicus – als zentrale Kategorie liberaler Regierungskunst – Sein und Sollen zusammen: Der Mensch wird zu dem gemacht, was er ist, weil ihm keine andere Möglichkeit bleibt – anderes Verhalten wird sanktioniert. Und seit dieses Modell in die sozialwissenschaftlichen Methoden eingesickert ist, vefolgt es die Menschen in die letzten Ecken und Winkel ihres Lebens und erklärte auch noch die letzten Bastionen des Altruismus zum reinen Egoismus. Am Ende solcher Analysen fragt man sich häufig, was „Egoismus“ eigentlich nocht ist, wenn der „Altruismus“ von ihm besiegt wurde. Und die wachsende Anzahl von Menschen, die sich selbst zu den Verlierern dieses Spiels zählen, könnten ein Indikator dafür sein, dass dieser Zirkelschluss nur in der Theorie einwandfrei funktioniert.
Ich selbst würde dafür plädieren, dem Menschen kein Wesen sui generis zuzuschreiben und glaube, dass man in dem Versuch, „dem Menschen“ das Korsett eines Akteursmodells zu ersparen, ein allumfassendes Freiheitsstreben begründen kann. Und hier bin ich wieder bei dir und beim Pathos: Dieses Projekt brauch FortschrittsoptimistInnen – gerade weil man nicht weiß, ob es gelingt.
Sehr guter Kommentar.
Die Stadt/Land-Differenzierung ist für unsere Zeit(!) und unsere Region nicht mehr entscheidend. Die Leute 'auf dem Land' brauchen die Energie ja ebenso wie die Städte. Es geht da wohl eher um das Gegenüberstellen von Werten, bspw. Umweltschutz – technologischer Fortschritt oder einfach Wirtschaftswachstum. Gerade im Falle von Fracking muss man aber sagen, dass man eben nicht weiß, ob es „länder verwüstet“. Gerade deswegen wäre mindestens ein Ausprobieren in kleinem Maßstab erforderlich und nicht das absolute Verbot, wie es die Grünen fordern. Diese Debatte wird – wie üblich – insbesondere in Deutschland in der Schärfe geführt.
hallo erik, danke für deine antwort! ich hatte mich vielleicht etwas knapp und deshalb mißverstandlich ausgedrückt. als langjahriger landbewohner weiß ich naturlich, dass selbst in entlegenen regionen strom benotigt wird. wir hatten damals sogar computer! meine frage zielte einfach auf einen konflikt, sei es der von werten, sei es der von personen. an dem abend (meines kommentars) hatte ich eine doku uber fracking in den usa gesehen, in der gezeigt wurde, wie diese technik das grundwasser verseucht. fur gewisse, kleinere regionen, scheint mir das also schon ein problem zu sein. die frage ist nun, welche interessen/werte/personen sind wichtiger? die umwelt, die stadt, oder das land? mir ist auch klar, dass hier vieles vereinfacht wird, aber ich denke einfach – das ist der ausgangspunkt meiner kommentare – dass eine politische positionsbestimmung keinen wert in sich besitzt: um nutzlich zu sein, muss sie uns helfen entscheidungen zu treffen, auch schwierige.
soren hatte ja auf die stadt-land-unterscheidung hingewiesen, um die linke position in der stadt zu lokalisieren. die frage ist nun, (wenn wir den umweltschutz einfach beiseite lassen) wie parteiisch (oder sollte man sagen: wie politisch?) ist diese position im konfliktfall? auch dein sicher berechtiger hinweis, erik, scheint mir anzudeuten, dass du moglicherweise glaubst, man konne wissenschaftlich feststellen, ob es gut oder schlecht sei, solche projekte zu verfolgen. ich denke auch, man kann die folgen solcher technik noch besser erforschen. letztendlich muss man aber eine politische entscheidung treffen, bei der auch menschen und werte eine rolle spielen, denke ich, und da kommt da dann die (politische) positionionierung ins spiel. es ist ja auch nur ein beispiel…
schon jedenfalls, dass hier so ausgiebig diskutiert wird!
nochmal anders ausgedruckt: die wissensgesellschaft daniel bells ist doch uberholt, unzeitgemaß, nicht unsere zeit. wissen und wissenschaft hat sich verandert.
(Hab die Stelle jetzt leicht verändert, damit der Bezug klarer wird.)
Ein sehr schöner Artikel, Sören. Er hat mich ins Grübeln gebracht, und besonders denke ich über deinen Begriff des Linksseins nach. Ich stimme mit dir überein wenn du sagst, politisch Linke sind Suchende. Trotzdem glaube ich nicht, dass das bedeutet, sie sind heimatlos.
Was du kritisierst ist ein Heimatbegriff, der absolut sein soll. Du magst die Heimat nicht, die starr ist und sich nicht bewegt, in der es in jeder Situation ein klares Richtig und Falsch gibt und keine Fragen offen bleiben, weil schon alles gesagt wurde.
Ich glaube dagegen, dass der Mensch Heimat braucht, so wie die Linke zu klaren Positionen und Konzepten stehen muss, wie du selbst in einem kleinen Absatz sagst. Sie muss für Menschenrechte einstehen, für Gleichberechtigung und für Chancengleichheit. Aber ebenso wie die Linke ohne Heimat kraft- und wortlos wird, so braucht jeder Mensch eine Heimat, und deine Heimat ist vermutlich jenseits der Schützenvereine und Bierseidel. Selbst Nomaden – die Menschen, die wir oft heimatlos nennen – ziehen mit Sack und Pack durch die Wüste, mit ihren Kindern, Geschwistern, Eltern und Freunden. Ihre Heimat ist die Fortbewegung mitsamt ihrer Familie, ihren Häusern und ihrer Muttersprache. Und selbst die Erasmus-Generation, deren Mitglieder wir moderne Nomaden nennen, und der wir wohl alle angehören, richtet sich im Internet so ein, dass Freunde und Verwandte beinahe jederzeit verfügbar sind, und kehrt in der Regel alle paar Monate zurück.
Ich glaube, bezeichnend für dir Linke ist nicht die Heimatlosigkeit, sondern die Offenheit ihres Heimatbegriffs. Sie sucht nicht nur, sondern findet auch manchmal Dinge, die Heimat werden. Das tut sie, wenn sie sich für Dinge entscheidet, die sie für richtig hält. Das sind Dinge, über die sie sich definiert. Nun liegt es in der Natur der Dinge, dass die Welt sich verändert. Für die Linke heißt das, sie kann und muss sich erneut vor eine Entscheidung stellen und definieren, wie sie zu ihrem alten Begriff von Heimat steht. Sie muss entscheiden, ob das Richtig von früher auch heute noch gilt, oder ob es ein Fehler wäre an alten Konzepten festzuhalten. Sie muss ihre Heimat neu bestimmen. Ich glaube nicht, dass Heimat jemals wahrhaft absolut sein kann, und das kritisiere auch ich an dem Begriff von Heimat, den du nennst. Aber es gibt eine Heimat, die beweglich ist, und trotzdem Substanz, eine Heimat, in der man Dinge sagt und aus guten Gründen zu ihnen steht, und trotzdem Fragen zulässt. Die Heimat kann nie vollkommen sicher sein, dass ihre Aussage richtig ist, weil ein besseres Argument sie vom Gegenteil überzeugen könnte.
Nenn es Wortklauberei, wenn ich in deinem Sinne spreche, denn ich glaube den Gedanken in deinem Text zu finden, doch neben deiner „Heimatlosigkeit der Linken“ kommt er für meinen Geschmack zu kurz.
Es mag am Montagmorgen liegen, und der Tatsache, dass ich mich heute wie intellektuell tief in ein Wattekissen gesteckt fühle. Aber meine Spontanreaktion beim Lesen war „Ööh. Kekse?“
Ein informativer, interessanter, nachdenkenswerter Artikel. Die Überlegungen, die zur Unterstützung des homo oeconomicus und seiner Verwendung in der Ökonomik vorgebracht und dann auch von mehreren Kommentatoren angesprochen und diskutiert wurden, möchte ich möglichst knapp aus der Sicht eines Ökonomen ergänzen. Mein Ziel dabei ist es, Vorurteile – oder sagen wir besser: Missverständnisse – auszuräumen.
Ökonomen wollen seit je die effizienteste Form des Wirtschaftens herausfinden um mitzuhelfen, den Wohlstand ihrer Gesellschaft zu vermehren (Adam Smith, 1776: Der Wohlstand der Nationen). Sie haben dafür die Formel des Wirtschaftlichkeitsprinzips aufgestellt: Entweder bei gegebenen Kosten (Budget, Einkommen, Ressourcenausstattung allgemein) den damit erzielbaren Ertrag maximieren (Nutzenmaximierung) oder ein bestimmtes, gegebenes Nutzenniveau mit den geringstmöglichen Kosten zu erreichen (Kostenminimierung). Sie suchen also nach optimalen, effizienten wirtschaftlichen Gestaltungsmöglichkeiten der Gesellschaft. Dabei haben sie den modelltheoretischen Weg über die Mathematik eingeschlagen und sich gefragt: Über welche Eigenschaften müßte der Einzelne und die Wirtschaft insgesamt verfügen, damit ein Optimum erreicht werden könnte? Dieses Optimum ist philosophisch eine Ausprägung des „summum bonum“, wirtschaftlich, in Orientierung an dem Utilitaristen John Stuart Mill, als „das größte Glück der größten Zahl“ definiert (1874, für Glück wird allgemeiner Nutzen gesetzt). Diese Forschungen haben spätestens in den 1950er Jahren mit der mathematisch ausformulierten Allgemeinen Gleichgewichtstheorie (durch die Nobelpreisträger Kenneth J. Arrow und Frank H. Hahn) zum Nachweis der Möglichkeit eines Allgemeinen Gleichgewichts geführt, das diesem wie o.a. definierten Optimum genügt.
Täterättää! Eine großartige, bewundernswerte Leistung! (Ich spreche, sorry, natürlich pro domo). Also eine Utopie der Freiheit, der Leistungsgerechtigkeit, der Abwesenheit von Macht und daher Ausnutzung, des größten Glücks der größten Zahl! Der Vorteil dieses „Nirgendwo“, dieser idealen Modellwelt, liegt für den wissenschaftlichen Fortschritt darin, dass man mit ihr ein exakt formuliertes Referenzmodell gewonnen hat, das von allen mathematisch notwendigen, aber unrealistischen Annahmen her auf die Forschungsfragen verweist: Warum ist die reale Welt anders, was unterscheidet die reale Welt von der idealen Welt der Ökonomie im Allgemeinen Gleichgewicht?
Der homo oeconomicus ist in der Allgemeinen Gleichgewichtstheorie und der Wohlfahrtsökonomik das zentrale Element, und damit er dem Forschungszweck dienen konnte, mußten ihm drei Eigenschaften annahmegemäß unterstellt werden, zusammengefaßt im (englischen) Kürzel REM:
• Rational
• Evaluating
• Maximizing.
Zur Erinnerung: Es geht hier nicht um das Handeln des Menschen im allgemeinen, sondern um wirtschaftliches Handeln. Dieses wirtschaftlich rationale Handeln meint konsistentes, d.h. widerspruchsfreies Handeln, es meint auch ein Handeln, das sich logisch korrekter Kalkulationen bedient.
Evaluating bedeutet, dass er Vorlieben und Abneigungen hat, Präferenzen einer-, alles, was Kosten bedeutet, andererseits. Er muß beides bewerten können, und zwar exakt, muß also z.B. seine eigenen Präferenzen genau kennen und in eine Rangordnung bringen können.
Maximizing heißt natürlich, er vergleicht bei jedem wirtschaftlich relevanten Verhalten (als Anleger: wo bekomme ich welche Rendite?; als Arbeiter: wo erhalte ich wieviel Lohn und wieviel Freizeit?; als Konsument: welches Produkt ist bei gleicher Qualität billiger?) die Nutzen und Kosten seines Verhaltens und betreibt Nutzenmaximierung bzw. Kostenminimierung, was jedesmal zum Ergebnis des größten Nettonutzens aus dem Verhalten führt.
So ganz unbekannt kommt einem der homo oeconomicus vielleicht doch nicht vor?
(Fortsetzung folgt:)
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Bis hierher war alles normative Ökonomik: Wie müßte (sollte) der Mensch, wie müßte (sollte) die Wirtschaft beschaffen sein, damit ein Allgemeines Gleichgewicht des Optimums erreichbar wäre?
Die nicht-normative, die explikative, Ökonomik versucht nicht die Frage zu beantworten, wie sich die Menschen wirtschaftlich verhalten sollten, sondern: wie verhalten sie sich tatsächlich?
Schon in den 1970er Jahren hat der Nobelpreisträger Herbert A. Simon deutlich gemacht, dass die Menschen nicht über genügend Informationsaufnahme-, Informationsspeicherungs- und Informationsverarbeitungskapazität verfügen, um der Annahme des „maximizing“ homo oeconomicus entsprechen zu können. Er hat als Verhaltensannahme deshalb „satisfycing“-Verhalten, das Erreichen eines „befriedigenden“ Nutzenniveaus, vorgeschlagen. Damit hat er zwei wichtige Entwicklungen ökonomischen Forschens angeregt und begünstigt: Erstens, die mehr und mehr als Verpflichtung verstandene Aufforderung, theoretische Aussagen empirisch zu überprüfen – was die Ökonometrie entscheidend gefördert hat. Zweitens, die „behavioural economics“, die systematisch nach Tatsachen und Gründen für Abweichungen wirtschaftlichen Verhaltens der Menschen vom homo oeconomicus – Modell sucht und inzwischen auf viele Erfolge verweisen kann. (Dies aber, vielleicht, ein andermal.)
Orientiert man sich an den Idealen der Großen Französischen Revolution von „Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit“, dann hat der ökonomische Beitrag besonders die Aspekte der Freiheit (keine Macht, nirgends (Arrow, Hahn: General Competitive Analysis), ausschließlich freiwillige Verträge) und in einem Ausschnitt den der Gleichheit behandelt: Die Menschen sind verschieden in ihrer Ressourcenausstattung und in ihren Präferenzen – in diesem Sinne gibt es keine Gleichheit – aber sie sind gleich vor dem Gesetz, vor dem Vertrag, Befehl und Gehorsam gibt es außerhalb der für alle verbindlichen Gesetze nicht. Zur Brüderlichkeit äußert sich die Allgemeine Gleichgewichtstheorie nicht explizit, weil sie ja das Optimum für die größte Zahl definiert.
Soviel zum Verständnis des homo oeconomicus und seiner wissenschaftlich-normativen Hintergründe. Zur Förderung des Linksliberalismus und der Fortschrittsfreude bieten sich die nicht-normativen Wissenschaftsbemühungen nicht weniger moderner Ökonomen an.
Sorry erstmal für die verspätete Antwort – ich musste nachdenken und prokrastinieren 😉
Die Frage, ob es eine Natur des Menschen gibt oder man zumindest von einem festen Menschenbild ausgehen sollte, ist eine sehr schwierige. Ich bin mir da noch sehr uneins mit mir selbst, glaube aber, dass es sich sehr wohl lohnt, zumindest darüber nachzudenken und zu diskutieren. Ich kann dir nur den bisherigen Stand meiner Überlegungen mitteilen, vielleicht habt ihr ja Ideen, das weiter (oder zurück, je nach dem ;)) zu denken.
Es gibt mehrere Gründe, warum ich skeptisch gegenüber deinem Vorschlag bin, das Menschenbild einfach wegzulassen. Zunächst einmal glaube ich, dass das oben von mir skizzierte Bild des Menschen (das natürlich noch ergänzt werden kann und sollte, gerade um die kantianische Menschenwürde-Begründung, die letztlich Grundlage aller Menschenrechtsforderungen ist) sehr tief im Liberalismus verwurzelt ist, so tief, dass ich mir nicht sicher bin, ob man nicht die liberale Tradition überhaupt aufgeben würde, wenn man dieses Menschenbild ad acta legt. Das ist aber nur ein relativ schwaches Traditionsargument – man könnte den Liberalismus ja umdefinieren, ähnlich, wie ich das linker Politik versucht habe.
Etwas gewichtiger ist da schon ein (wissenschafts-)pragmatisches Argument, das die Wirtschaftswissenschaftler immer stark machen (siehe auch unten bei Wolfgang Brandes): Mit diesem Menschenbild oder -modell lässt sich ganz einfach sehr viel erklären, ökonomisch, soziologisch, historisch. Zum Beispiel wäre da die jedenfalls für mich immer noch krasse Dynamik, die der Westen seit der Geburt des Kapitalismus entfaltet hat, und die die immer noch andauernde ökonomische Sonderstellung des Westens miterklärt. Ähnliches gilt ja, etwas zeitnaher, für die Entwicklungen in Japan oder China. Keine Ahnung, ob das jetzt zu dämlich klingt, aber mir scheint es spontan erstmal relativ einleuchtend, diesen Aufstieg u. a. (!) daraus zu erklären, dass die Marktwirtschaft als Wirtschaftssystem, das auf einem bestimmten (von mir skizzierten) Menschenbild beruht, in bestimmten Hinsichten (Produktivitätssteigerung, Wachstumsdynamik etc.) „besser“ funktioniert als alternative Modelle. In anderen Hinsichten funktioniert es nicht so gut (wirtschaftliche Stabilität ohne Krisen; Reduktion sozialer Ungleichheiten), und da wurden dann andere bzw. ergänzende Lösungen gefunden. Ich behaupte ja auch gar nicht, dieses Menschenbild sei schon „der ganze Mensch“; es ist eben ein Teilaspekt, der vor allem ökonomische Handlungen gut erklären kann. Dazu kommen andere anthropologische und historische Faktoren wie beispielsweise der Mensch als zoon politicon oder homo sociologicus oder auch als ein Wesen, das ein Gerechtigkeitsempfinden hat oder haben könnte. Kann man ja alles diskutieren, stellt aber nicht die Gültigkeit des homo-oeconomicus-Modells an sich und in all seiner Beschränktheit in Frage. (Fortsetzung folgt)
Fortsetzung: Dann gibt es imho noch ein wichtiges politisches Argument, das ich im Post bereits betont habe: Wer den Menschen entnaturalisiert, kulturalisiert und historisiert ihn damit, und das bedeutet immer auch: Er macht ihn veränderbar. Das ist, behaupte ich mal, kein Zufall. Gerade die französische Postmoderne mit ihrem Dekonstruktionsprojekt hatte ja ihre Wurzeln in der „kritischen“, oft marxistischen (unverblümter: linksradikalen) französischen/europäischen Tradition, und insofern ist der postmoderne Kulturalismus und Konstruktivismus auch ein dezidiert politisches Projekt. Der Mensch wird hier als leere Hülle gedacht, die von der Kultur – und in letzter Konsequenz sicher auch: der Politik – aufgefüllt werden kann. Das finde ich gefährlich, und historisch scheint mir ein ebensolches Menschenbild, gerade wenn es in den Köpfen der politisch Verantwortlichen herumspukte, sehr viel problematischere Ergebnisse erzielt zu haben als das „naturalistische“ liberale.
Andererseits kaufe ich ja nun auch, v. a. erkenntnistheoretisch, viele Argumente des Konstruktivismus (gerade in seiner amerikanischen Variante, die mir irgendwie sympathischer ist als die französische, weil sie weniger politisch-normativ ausgerichtet ist), und gerade hier ist dann der Punkt erreicht, an dem ich nicht mehr weiter komme: Wie bringe ich meinen politischen Liberalismus und meinen erkenntnistheoretischen Konstruktivismus zusammen? Ich habe keine Ahnung. Insofern bin ich für Hinweise sehr dankbar, z. B., wie du dir das „allumfassende Freiheitsstreben“ durch einen Verzicht auf ein naturalisiertes Menschenbild konkret vorstellst.
Liebe Lili, entschuldige bitte auch du die verspätete Antwort. Eigentlich kann ich es ganz kurz machen: Vielen Dank für deine Ergänzung, der ich vollumfänglich zustimmen kann. Du hast völlig Recht – der Grund, warum ich die Offenheitsseite im Text so stark gemacht habe, war einfach, dass der Linken aus meiner Sicht momentan von dieser Seite eine größere Gefahr droht. Das wird bestimmt in nicht allzu ferner Zeit nochmal Thema eines eigenen Posts sein. Aber ja: Prinzipien braucht sie, die Linke, und einen davon ausgehenden, offenen Heimatbegriff, ganz so, wie du ihn vorschlägst.
Gerade bei Paul Krugman gefunden, das fasst es nochmal schön zusammen: „For most of the past two centuries, economic thinking has been dominated by the concept of Homo economicus. The hypothetical Economic Man knows what he wants; his preferences can be expressed mathematically in terms of a “utility function.” And his choices are driven by rational calculations about how to maximize that function: whether consumers are deciding between corn flakes or shredded wheat, or investors are deciding between stocks and bonds, those decisions are assumed to be based on comparisons of the “marginal utility,” or the added benefit the buyer would get from acquiring a small amount of the alternatives available.
It’s easy to make fun of this story. Nobody, not even Nobel-winning economists, really makes decisions that way. But most economists—myself included—nonetheless find Economic Man useful, with the understanding that he’s an idealized representation of what we really think is going on. People do have preferences, even if those preferences can’t really be expressed by a precise utility function; they usually make sensible decisions, even if they don’t literally maximize utility. You might ask, why not represent people the way they really are? The answer is that abstraction, strategic simplification, is the only way we can impose some intellectual order on the complexity of economic life. And the assumption of rational behavior has been a particularly fruitful simplification.“ (http://www.nybooks.com/articles/archives/2007/feb/15/who-was-milton-friedman/)
Danke für den Denkanstoß: Mir ist gerade aufgefallen, dass ich gar nicht so sehr ein Problem mit der Modellannahme des homo oeconomicus habe, als mit der Anwendung von Modellen, die auf dieser Annahme basieren. Der homo oeconomicus als Referenzwert für Abweichungen zur realen Welt, um sich die Frage zu stellen, welcher Einfluss den Unterschied zum Modell veranlasst … das hört sich irgendwie sehr vernünftig an. Auch wenn ich Paul Krugman damit unrecht tue, aber seine Aussage ‚the assumption of rational behavior has been a particularly fruitful simplification’ kurz vor dem Ausbrechen der Immobilienkrise 2007 (die sich zuerst zur Finanzkrise und dann zur Staatsrefinanzierungskrise wurde), entbehrt nicht einer gewissen Ironie.
Vielleicht ist es auch einfach nur eine Frage der Perspektive: Geht man weit genug weg, sieht die Küste Cornwalls aus wie eine sanft geschwungene Linie. Werden die Zeitreihen lang genug ausgeweitet, verschwindet der zackige Verlauf einer volkswirtschaftlichen Entwicklung und ein Kondratieff Zyklus wird sichtbar. Verrechnet man die Exzesse auf beiden Seiten, wirken die kumulierten Einzelentscheidungen wie ein homo oeconomicus.
Die Frage ist also wie weit muss man herauszoomen, bis die Annahme wahr wird? Da die Annahme des homo oeconomicus keine Trends und unbekannte Risiken zulässt, müssen wir uns weit auf die Makroebene begeben. Wie die Krisen von 1987 bis heute gezeigt haben, könnte die Effizienz der Annahme besser sein. Zudem kann der homo oeconomicus nur zur qualitativen Messung herangezogen werden. Wir würden zusätzliche Werkzeuge, wie den Gini-Koeffizienten benötigen, um Effektivität zu messen.
Diese Diskussion könnte fachgerecht (Achtung, Wortwitz) sehr nüchtern geführt werden. Wären da nicht die politischen Entscheidungen, die den homo oeconomicus als Grundannahme und Rechtfertigung missbrauchen. Auf diesem Modell basierend, wurden Systeme gestaltet, die sich spätestens mit der Finanzkrise als fehleranfällig herausstellten. Darüber hinaus ist es ein utilitaristischer Ansatz, der keine Verteilungsgerechtigkeit beachtet. Das ist in etwa wie Demokratie ohne Minderheiten Schutz – eine Diktatur der Masse.
Das disqualifiziert es nicht als ökonomisches Instrument, aber es qualifiziert es, mich prima aufzuregen. In meinem neuen Artikel bezeichne ich den homo oeconomicus als Einhorn ordoliberaler Ammenmärchen. Deshalb, weil man mir seit dem ersten Semester des Betriebswirtschaftsstudium erzählt, dass es uns damit besser geht und alle dran glauben – aber keiner es je gesehen hat.
„Wem hätte es denn jemals geschadet, dass es Menschenrechte gibt, außer denjenigen, die anderen ihre Rechte nehmen wollten?“
– Eine treffliche Frage!
Vielleicht ist Jean Améry und seine Absage an Heimat für Linksliberale nicht der günstigste Ausgangspunkt. Ich kann universalistischer Kosmopolit sein und dennoch das Dorf meiner Geburt im Modus der je nachdem schönen oder grausamen Erfahrungen als überwundene wertvolle Erinnerung nahezu romantisch mögen. Warum nicht? George Steiner betonte einmal, Menschen hätten eben keine Wurzeln, sondern Beine. Je mehr Heimaten man habe, um so besser!
Foucault ist vielleicht zu voreingenommen, um dem Linksliberalismus gerecht werden zu können.
Das 20. Jahrhundert bot leider unter den Denkern, die SICH SELBST politisch links verorteten, zwei Sackgassen.
(1.) Die erste war die sogenannte Kritische Theorie bzw. Frankfurter Schule, die unter dem Vorzeichen des Schopenhauerschen Pessimismus Marx las und den im Kapitalismus satt gewordenen Arbeitern die mangelnde Motivation zur Revolution verübelte. Dieser gar unkritische Neomarxismus fragte nicht, was denn am Marxismus falsch gewesen sein müsse, wieso das Gegenteil prognostizierter Verelendung eingetreten war, sondern er fragte, wieso der Akteur der Revolution sich nicht in prognostizierter Weise zu verhalten bereit war. In die aufkommende Konsumismus-Kritik konnten auch die Reaktionäre zufrieden einstimmen. Den bedeutendsten Ökonomen, John Maynard Keynes, ignorierten diese „Linken“ bewusste, denn er wollte den Kapitalismus ja „nur“ für die Mehrheit angenehmer machen und nicht überwinden. Besonders perfide war die „Dialektik der Aufklärung“, ein reaktionäres Denkmuster, das der politisch zu schwacher Aufklärung auch noch ihr historisches Unterliegen als selbstverschuldete innere Notwendigkeit zuzurechnen versuchte.
(2.) Die zweite Sackgasse für Linke bot die Postmoderne mit einem literarisch zwar durchaus humorvollen, aber politisch anspruchs- bis sinnlosen Relativismus-Programm. Mit ohnmächtigem Relativismus kann man stets herumkriteln, aber keinen Gegner mehr ernsthaft angreifen, wieso auch? Die Flucht in den esoterischen Konstruktivismus wurde verständlich, kündigte aber die reale Auseinandersetzung mit Ökonomie und Politik vollkommen auf.
(3.) Beide Sackgassen sind bis heute nicht überwunden, stiften noch immer Verwirrung. Viele Debatten werden bis heute von Argumenten aus beiden Richtungen geschwächt.
(4.) Foucault nimmt eine Sonderstellung ein, steht zwischen beiden und sucht nach immerhin einem klugen Ausweg aus bloßer Ideologiekritik. Macht versteht er mit Nietzsche relational und nicht nur negativ, aber im Kontinuum der Macht bleiben für Foucault alle Veränderungen Nullsummen-Spiele, also letztlich relativ gleichwertig. Wozu also das Engagement, das ihm eigentlich wichtig war?
(5.) Die Allgemeinen Menschenrechte sind eine menschheitliche Errungenschaft und sogar an ihrer Ausformulierung waren nach dem II. Weltkrieg Denkende aus mehreren Kontinenten beteiligt.
Der Linksliberalismus sieht und schätzt – im Gegensatz zu sonstigen Liberalismen – die sozialen und politischen Bedingungen der Möglichkeit der Freiheit des Individuums.
Ich empfehle zur Lektüre den Italiener Flores d`Arcais, kaum ein Philosoph schreibt klarer. Unter den Keynesianern dürfte heute Hartmut Elsenhans der interessanteste Denker sein.