Es war auf der letzten Weihnachtsfeier meiner Universität, als ich recht unverhofft als verkappter Kommunist bezeichnet wurde. Zugegebenermaßen hatte ich mal wieder leidenschaftlich meine Vorstellungen über eine bessere Verteilung der Ressourcen in unserer Gesellschaft zum Besten gegeben. Die Reaktion erstaunte mich dennoch. Ich grübelte stirnrunzelnd, ob das wohl stimmen könnte. Unser Universitätspräsident hatte die Diskussion nüchtern verfolgt, konnte sich aber mit dem Vorschlag anfreunden, Gregor Gysi zu diesem Thema einzuladen. „Wenn der kommt, dann brenn ich die Uni nieder“, entgegnete daraufhin die Kommilitonin, die mich zuvor in McCarthy-Manier als Kommunist bezeichnet hatte. Wir hatten wohl einfach zu viel getrunken.
Zwei Tage später erinnerte ich mich an das recht dünne rote Buch in meinem Regal, das ich mir nach dem Abitur mehr zu Zierde denn aus ernsthaftem Interesse gekauft hatte. Den Tag nach der Feier hatte ich erwartungsgemäß mit weniger anspruchsvollen Tätigkeiten verbracht, aber jetzt las ich das Kommunistische Manifest, um Hinweise auf meine politische Gesinnung zu entdecken. Leider wurde ich nicht fündig. Auch die Bibel der Gegenseite – Adam Smiths Wohlstand der Nationen – konnte mich mit ihrer martialischen wenn-es-zu-wenig-Arbeit-gibt-sterben-halt-ein-paar-Arbeiter-dann-hat-sich-das-schon-wieder-Logik nicht wirklich überzeugen.
Zwei Kategorien, die nicht passen
Und irgendwie wurde es auch nicht besser, je mehr ich mich mit den Inhalten beschäftigte. Die Verfilmung von Ayn Rands Klassiker Atlas Shrugged (dem Standardwerk libertärer Vertreter) war nicht nur kineastisch eine Vollkatastrophe, sondern versetzte mich in eine völlig surreale Welt, die mir wie eine Mischung von Max Payne II und einem Kinderbuch von Jules Verne vorkam. Der homo oeconomicus, also die Grundannahme, dass Menschen immer rational und egoistisch handeln, schaffte es einfach nicht, meinen Alltag zu erklären und auch auf makroökonomischem Level erschien er, zumindest während der Finanzkrise, als falsche Modellannahme. Ich habe mich seitdem immer mal wieder gewundert, ob es nicht einfach wäre, den homo randomius heranzuziehen und ein paar Ausnahmen zu definieren. Diese Diskussion haben wir jedoch bereits geführt.
‚Three strikes and you are out‘, heißt es im Baseball – und historisch gesehen säße der Kommunismus schon längst wieder auf der Bank. Vielleicht lassen sich in anderen Bereichen sogar viele positive Aspekte finden, aber auf der ökonomischen Seite bleibt festzuhalten, dass bei kommunaler Verwaltung die Produktionsressourcen nicht da ankommen, wo sie sollten. Das Leben passt sich der Mangelwirtschaft an und nicht andersherum. Zudem führt die Nihilierung ökonomischer Macht nicht zwangsläufig zu einem gerechteren System. Selbst überzeugte Kapitalismuskritiker wie Slavoj Žižek müssen zugeben, dass es vielleicht an der Zeit ist, nochmal gründlich über das Konzept nachzudenken.
Im Kapitalismus wird der Mensch der Wirtschaft nicht gerecht und im Kommunismus die Wirtschaft dem Menschen nicht.
Dumm wie ein Affe
Beiden Reinformen liegen Annahmen über das menschliche Verhalten zugrunde, die so einfach nicht stimmen und es regelmäßig schaffen, mich in Alltagssituationen zur Weißglut zu bringen.
Zum einen ist da die Grundannahme, dass alle zu jeder Zeit egoistisch handeln oder handeln sollten. Diese Annahme liegt libertären Strömungen zugrunde, die, radikal gedacht, zu sozialdarwinistischen oder anarchokapitalistischen Theorien ausufern. In genau so einem System fand ich mich in meinem Erststudium wieder.
Gemeinsam mit 30 Kommilitonen sollte ich drei Jahre damit verbringen, Kapitalmärkte näher zu verstehen und die theoretischen Pfeiler des Bankwesens kennen zu lernen. Und während just in diesem Jahr mit der Finanzkrise das Fundament eben jener Zunft auseinanderbröselte, wurde uns im immer gleichen Vorlesungsraum vorgelesen.
Wir hätten uns das Leben sehr einfach machen können, aber stattdessen hielten meine Kommilitonen Altklausuren zurück oder teilten Informationen über wichtige Inhalte, hilfreiche Lehrbücher oder stattfindende Lerngruppen nicht, obwohl es zu keinem individuellen Nachteil geführt hätte. Ganz im Gegenteil: Wir hätten einfach länger zusammen feiern gehen können, oder was auch immer uns von diesen sinnfreien Veranstaltungen abgehalten hätte. Je mehr Semester verstrichen, desto mehr kam aber der ganze Austausch zum Erliegen und wich strengen Austauschbeziehungen. Nur wenn direkt ein positiver Nutzen zu erwarten war, kooperierte und teilte man.
Evolutionsbiologisch ist es jedoch sehr wahrscheinlich, dass genau diese Eigenschaft des Menschen, kooperativ und altruistisch zu handeln, uns zu dem gemacht hat, was wir heute sind. Wir geben Wissen, Fertigkeiten und Informationen weiter – an andere und die nächste Generation – und erlauben damit unserer Umgebung zu wachsen. Das hat offensichtlich auch große Vorteile für uns selber und ist tief in uns verankert. Mir diente diese Erkenntnis aber erst mal als Legitimation, manche meiner Kommilitonen heimlich als dumme Affen zu bezeichnen. Nachher lernte ich, dass indirekte reziproke Austauschbeziehungen selbst unter Affen geläufig sind. Dumme nicht-reziprok-handelnde Säugetiere klingt aber nicht so cool.
Aus der Spieltheorie kennen wir Situationen, bei denen eben nicht egoistisches Handeln zum besten Ergebnis führt, sondern Kooperation. Robert Axelrod zeigte in einem vielbeachteten Experiment, dass die Tit-for-Tat-Strategie (wie-du-mir-so-ich-dir) allen anderen überlegen ist. Tit-for-Tat ist eine grundsätzlich kooperierende Strategie, deren Eigenschaften Klarheit, Nachsichtigkeit, Nettigkeit und Provozierbarkeit sind. Dafür bezog er lediglich die erwarteten Nutzwerte in verschiedenen spieltheoretischen Settings mit ein. Keine Gefühlsduselei, sondern harte Fakten.
Charles Darwin selber wäre wohl kein Sozialdarwinist gewesen. Die These seines Klassikers Über die Entstehung der Arten bezog er auch auf den Menschen, jedoch erkannte er an, dass dessen evolutionäre Überlegenheit einem anderen Prinzip geschuldet war: der Kooperationsbereitschaft, die tiefer verankert ist als eigennützige Tendenzen.
Unfähig wie die Unidruckerei
Zum anderen ist da die Grundannahme der indirekten Reziprozität, also ein Verhalten, das einen Dritten begünstigt, von dem jedoch kein direkter Nutzen zu erwarten ist. Der Kommunismus legt mit der Vergemeinschaftung von Gütern und Ressourcen, die dann zentral und rational eingesetzt werden sollten, genau dies zugrunde.
Früher gab es pro Dorf eine Weidfläche, die für alle zugänglich war. Diese Allmende sah natürlich ziemlich bald aus wie Sau, und wäre die Theorie erst in den letzten Jahren entstanden, hieße sie wohl ‚die Tragik der 5er-WG-Küche‘.
Ein anderes Beispiel erzählte mir bei meinem letzten Berlin-Besuch eine gute Freundin: Sie arbeitet an der altehrwürdigen Humboldt-Universität zu Berlin am Institut für deutsche Literatur. Für die Vorbereitung eines Workshops hatte sie einen Reader vorbereitet, der von der universitären Druckerei nun gebunden werden sollte. Geduldig und gewissenhaft wie sie ist, hatte sie es bereits drei Tage im Voraus eingeschickt. Als sie es zurückbekam, hatte sie Umschläge in ‚kotzgrün‘ (wie sie nicht müde wurde zu betonen) und die Bindung an der falschen Seite. Es sei nicht anders möglich gewesen, deshalb habe man trotz Notiz die andere Seite genommen. Sie beschwerte sich, wurde aber darauf hingewiesen, dass die Dienstleistung ja kostenlos sei und sie dankbar sein solle. Sie ging daraufhin zu einem von diesen Druckshop-Ketten in der Umgebung und bekam das gewünschte Format in zwanzig Minuten.
Ehrlich gesagt musste ich ein bisschen über ihre Erbostheit schmunzeln – es war schließlich nur ein Reader. Aber später wurde mir klar, dass es mich auch so sehr geärgert hätte – und da ging es eben nur um eine Präsentation.
Die Sharing-Ökonomie
Und was jetzt? Einfach weitermachen wie bisher? Revolution, Agitation, Marsch durch die Institutionen? Das hatten wir schon. Was wir noch nicht hatten ist ein gesellschaftliches Experiment, das sich wolkig hinter dem Begriff ‚Sharing-Ökonomie‘ verbirgt.
Im Herzen dieser Entwicklung stehen Menschen, Organisationen und Unternehmen, die sich gar nicht aktiv einem Konzept verschrieben haben und zum Teil nicht zuordnen würden. Hier sind keine Visionäre am Werk, sondern Menschen, die sich zum Teil schon vor Jahrzenten einfach mal auf den Weg gemacht haben, ihre Welt ein bisschen besser zu gestalten. Was dieses lose Sammelsurium verbindet, ist Technikaffinität und alternative Konzepte für die kollektive Verwaltung von Gütern und Ressourcen.
Darunter fallen zum Beispiel bis spät in die Nacht arbeitende Linux-Programmierer, das millionenfinanzierte Startup AirBnB, Crowdfinanzierungsplattformen und 3D-druckbegeisterte Bastler. Sie alle machen die Ökonomie ein wenig sozialer, organisieren das Zusammenspiel bei nicht-monetären Austauschbeziehungen und experimentieren mit Eigentumsverhältnissen und Ressourcenallokation, ohne gleich eine neue Gesellschaftsform einführen zu wollen. Das Ergebnis ist ein Sammelbecken verschiedener Konzepte und Ansätze.
Die Grundgesamtheit besteht aus dem Teilen von Ressourcen und Gütern und stellt meist clevere Anreizmechanismen bereit. Das fängt bei der kostenlosen Bereitstellung von Wissen an, wie das beispielsweise beim Linux-Betriebssystem, aber auch durch die Wikipedia passiert. Kostenlos heißt jedoch bei weitem nicht umsonst: Ein stark meritokratisch organisiertes System und ein bunter Motivationsstrauß sorgen dafür, dass die Mitglieder auf ihre Kosten kommen.
Bei anderen Konzepten ist da das Anreizmodell schon klarer. Man teilt sein Auto für ein paar Stunden, seine Wohnung für ein paar Tage oder gleich das ganze Office für Geld. Voraussetzung dafür ist, dass die Transaktionskosten gering sind und die Vertrauensbasis hoch. Diese mehr oder weniger reibungslosen Transaktionen anbieten zu dürfen, darum prügelt sich gerade die halbe Startupszene unter Pseudonymen wie Airbnb, Wimdu, 9Flats – um nur ein paar Anbieter auf dem Wohnungsmarkt zu nennen.
Gewöhn dich dran
Klare transaktionale Austauschprozesse sind einfach in uns drin. Eine Person, oder, besser noch, ein bekanntes Unternehmen besitzt etwas und verkauft oder vermietet es uns. Punkt. Wenn wir es nicht mehr wollen, schmeißen wir es weg. Wer mal was wagt, kauft etwas vom Flohmarkt oder dem örtlichen Gebrauchtwagenhändler.
Kein Wunder, dass diese neuen Konzepte so revolutionär wirken – sie sind es ja auch. Sie sind unvertraut, sie bergen Risiko, sie verändern Machtverhältnisse – und sie passen besser zu uns Menschen. Wie viel Gewöhnung noch nötig sein wird, zeigt die Reaktion meiner Kommilitonin, oder dieses putzige Video einer Dreijährigen, die sich sicher ist, dass ihr Papa ein Car2Go geklaut hat:
Ein paar Anmerkungen zu deinem Artikel:
1. „Evolutionsbiologisch ist es jedoch sehr wahrscheinlich, dass genau diese Eigenschaft des Menschen, kooperativ und altruistisch zu handeln, uns zu dem gemacht hat, was wir heute sind.“ Diese Annahme ist im wissenschaftlichen Kontext so nicht haltbar. Zum einen wenden sich die Naturwissenschaften immer mehr von dem Autoritätsargument der „Evolutionsbiologie“ ab, zum anderen konnte im experimentellen Setting nachgewiesen werden, dass Konzepte wie das „Stress-Relief-Model“ den Platz des Altruismus einnehmen. Empirisch ist es also nicht haltbar, dass wir aufgrund unserer „altruistischen Gene“ (wie es uns die evolutionsbiologische Sicht verkaufen möchte) handeln. Grundlage der Sozialpsychologie ist es, dass Menschen nur miteinander agieren um einen Nutzen zu erlangen. Dies ist – wie bereits erwähnt – mehrfach repliziert worden und man erlangt stets dieselben Ergebnisse. Und wenn die Spende an eine wohltätige Gemeinschaft überwiesen wird, dann ist es nicht der moralische oder altruistische Verstand, sondern der „Stress Relief“, jetzt nun doch etwas getan zu haben, anderen geholfen zu haben und sich somit seines schlechten Gewissens zu entledigen.
2. „Darunter fallen zum Beispiel bis spät in die Nacht arbeitende Linux-Programmierer, das millionenfinanzierte Startup AirBnB, Crowdfinanzierungsplattformen und 3D-druckbegeisterte Bastler. Sie alle machen die Ökonomie ein wenig sozialer, organisieren das Zusammenspiel bei nicht-monetären Austauschbeziehungen und experimentieren mit Eigentumsverhältnissen und Ressourcenallokation, ohne gleich eine neue Gesellschaftsform einführen zu wollen.“
Der Versuch ein System zu untergraben, während man sich in den Grenzen des Systems bewegt ist ein Paradox. Hier entsteht nicht der Versuch – wie du richtig anmerkst – ein neues System einzuführen oder irgendwelche sozialen Ordnungen zu untergraben. All diese Plattformen fungieren im kapitalistischen Rahmen. „(…) die Ökonomie ein wenig sozialer (…)“ – ist eine nicht haltbare Behauptung, da diese Konzepte eben auch im Rahmen des kapitalistischen Marktes fungieren und diesen somit im kybernetischen Sinne wiederum bestärken. Wer von solchen „sozialen“ Plattformen profitiert liegt ebenfalls auf der Hand. Diejenigen, die eh' an der gesellschaftlichen Spitze stehen und sich während eines New York Aufenthaltes ein schickes, privates Loft in Brooklyn mieten können.
Deiner Kommilitonin könntest du mal ein wenig Literatur zukommen lassen; dich einen „Kommunisten“ zu nennen, während du auf der Absolventenfeier einer Eliteuniversität bist, löst in mir noch nicht ein mal Zorn aus, sondern ist einfach nur lächerlich.
Vielen Dank für den Artikel!
Mit reichlich Verspätung ein paar Antwortversuche von mir, vielleicht kommt ja auch noch etwas von Julian:
ad 1: Darwin vermutete, dass der Urmensch weniger ein Gorilla als ein Schimpanse war: Also ein relativ kleines, alleine ziemlich hilfloses Tier, das aber einen großen (evolutionären) Vorteil hatte, nämlich dass es in Gruppen lebte. Daraus ergab sich ein evolutionärer Vorteil für diejenigen Gruppen, die sozialer waren, und mehr ist hier ja auch erstmal nicht ausgesagt: Dass das Menschsein eben auch darauf beruht, dass man sozial handelt. Dass dieses evolutionsbiologische Argument eigentlich noch nicht viel bis gar nichts über die Frage Kapitalismus vs. Kommunismus (oder was auch immer) aussagt, da würde ich allerdings zustimmen.
ad 2: Das allerdings halte ich dann doch für einen ziemlich überholten Manichäismus: Entweder man wirft das „kapitalistische“ System gleich ganz um, oder man ist halt selbst ein Kapitalist. Es gibt ja Leute, die (m. E. zurecht) argumentieren, spätestens seit den 1950er Jahren gäbe es im Westen eigentlich gar keinen „Kapitalismus“ mehr in dem Sinne, wie ihn Marx im 19. Jahrhundert zu analysieren versuchte, sondern einen „Postkapitalismus“ (den die Kritische Theorie „Spätkapitalismus“ nannte), in dem der Staat als überaus wichtiger Akteur auftritt, Marktprozesse beeinflusst und durchaus auch abschwächt. Insofern hat eben auch nicht der Kapitalismus den Wettbewerb der Systeme im Kalten Krieg gewonnen, sondern der demokratische Wohlfahrtsstaat mit marktwirtschaftlichen Elementen. Es gibt einfach keine klar umrissene, strikt abgrenzbare Formation, die „Kapitalismus“ hieße und aus der man nicht heraustreten könnte, ohne gleich das System komplett zu verlassen. Der Markt ist ein Mechanismus zur Organisation ökonomischer Interaktion. Viele der von Julian geschilderten Akteure der „Sharing-Ökonomie“ nutzen diesen Mechanismus – und warum auch nicht? – aber damit ist eben noch nichts über die Folgen dieser neuen Strukturen ausgesagt. Airbnb kommt eben nicht nur der „gesellschaftlichen Spitze“ zugute, sondern auch uns, die wir vielleicht finanziell in die Kategorie des „Prekariats“ fallen, uns damit aber doch einen schönen Urlaub in einer Stadtwohnung leisten können, die andernfalls gar nicht verfügbar wäre. Noch gravierender wird es im Non-Profit-Bereich: Ist Wikipedia kapitalistisch? Ist sie antikapitalistisch? Ich würde doch meinen: weder noch, das ist schlicht eine Frage, die sie sich nicht stellt. Und es ist vielleicht auch eine Frage, die wir uns nicht unablässig stellen sollten, weil sie eigentlich tiefstes 20. Jahrhundert ist.