Norbert Glante, 61, ist seit 1994 Mitglied der Fraktion der Progressiven Allianz der Sozialisten und Demokraten (S&D) im Europäischen Parlament. Das SPD-Mitglied aus Brandenburg arbeitet dort insbesondere im Ausschuss für Industrie, Forschung und Energie.
Das Telefoninterview führte Erik Brandes am Donnerstagmorgen; Vor- und Nachbereitung übernahmen Erik und Sören Brandes.
Das Telefoninterview führte Erik Brandes am Donnerstagmorgen; Vor- und Nachbereitung übernahmen Erik und Sören Brandes.
Unsere Zeit: Herr Glante, als Europa-Parlamentarier pendeln Sie zwischen Brüssel, Straßburg und Ihrem Wahlkreis Brandenburg. Wie finden Sie Brüssel? Gefällt Ihnen die Stadt oder freuen Sie sich dann doch, wenn Sie wieder in Werder an der Havel sind?
Norbert Glante: Sagen wir so: Ich bin kein Fan von Großstädten, aber es ist schon interessant, sich zeitweise dort aufzuhalten. Die Stadt hat sich wesentlich verbessert, was sozusagen die Schmutzecken betrifft, die waren vor 20 Jahren größer. Brüssel ist heute eine interessante, sehr internationale Stadt. Aber Zuhause ist es natürlich auch schön.
Unsere Zeit: Wie funktioniert die Zusammenarbeit mit anderen Parlamentariern im Europaparlament? Haben Sie hauptsächlich mit Parlamentariern aus Deutschland zu tun, mit Kollegen in den Ausschüssen oder mit Angehörigen Ihrer Fraktion?
Glante: In den Fraktionen und auch in den Ausschüssen sitzen wir alphabetisch, da hockt also nicht der deutsche, der englische oder der französische Block zusammen. In der Fraktion sitzt links neben mir ein polnischer Kollege und rechts neben mir eine ungarische Kollegin. In den Ausschüssen sitzen wir nach Fraktionen getrennt und arbeiten international zusammen. Wer dort jeweils zusammenkommt, hängt vom Thema ab. Da muss man dann je nach Zusammensetzung eine gemeinsame Sprache finden. Das meiste wird ja simultan übersetzt, die Kompromissverhandlungen finden dann auf Englisch statt. Nationalitäten spielen da bei der Suche nach Mehrheiten keine Rolle.
Unsere Zeit: Haben Sie mit Ihren Parlamentskollegen auch außerhalb der Parlamentsarbeit zu tun?
Glante: Eigentlich eher selten. Mein Hauptwohn- und Steuersitz ist Werder. Man fährt dann zu den Sitzungen nach Brüssel oder Straßburg – das sind etwa 42 Wochen im Jahr, die man unterwegs ist, also fast jede Woche, mit ein paar Unterbrechungen. Und man muss sich natürlich auch um den Wahlkreis kümmern, da bleibt nicht viel Zeit für Kontaktmöglichkeiten mit den anderen Kollegen.
Unsere Zeit: Die wahrgenommene Ferne zwischen europäischen Bürgern und dem Europäischen Parlament ist sicher auch ein mediales Problem. Wenn die Leute in den Massenmedien nicht über europäische Politik informiert werden, bekommen sie den Eindruck, dass sie nicht wissen und verstehen, was da in Brüssel vor sich geht. Glauben Sie, dass das Europäische Parlament in den Medien angemessen repräsentiert ist?
Glante: In den letzten zwei, drei Wochen ist Europa wegen der Wahl ja doch etwas in den Fokus gerückt. Sogar bei den öffentlich-rechtlichen, die dann doch ein etwas gestörtes Verhältnis zu Europa und der Europäischen Union haben, verbessert sich einiges. Die Fernsehduelle zum Beispiel tragen viel zur Wahrnehmung bei. Da passiert also schon etwas. Aber die Frage ist auch, ob Menschen, die sich beklagen, dass sie kaum etwas wüssten und dass Europa so weit weg sei, sich nicht auch selbst ein bisschen bemühen müssen. Das Europäische Parlament zum Beispiel ist das transparenteste Parlament der Welt. Sie können im Livestream Ausschuss- und Plenarsitzungen verfolgen – man muss es eben bloß wollen. Ein zweites Problem ist, dass die Menschen das Parlament und teilweise auch die Kommission nicht so stark wahrnehmen wie den Europäischen Rat. Da heißt es dann in der Öffentlichkeit, Brüssel sei schuld, aber wer genau in Brüssel etwas entschieden hat, wird dann nicht mehr hinterfragt, selbst von Journalisten. Da muss man noch dran arbeiten.
Unsere Zeit: Wie und wo informieren Sie sich selbst über europäische Politik?
Glante: Erst einmal natürlich hautnah im Parlament in den Diskussionen mit Kollegen. Wir tauschen uns da aus. Ansonsten besucht man diverse Newsportale, ich denke, ich bin insgesamt recht gut informiert. Zu wirtschaftlichen Themen war bis zu ihrer Einstellung die Financial Times Deutschland ein sehr interessantes Medium, das Handelsblatt ist es noch. Diese beiden und vielleicht noch die Süddeutsche haben eigentlich am objektivsten über Europa berichtet.
Unsere Zeit: Sie haben sich im Europäischen Parlament insbesondere im Energieausschuss engagiert. Momentan ist ja in der Energiepolitik viel in Bewegung, inbesondere in Deutschland, das sich mit der Energiewende ein besonders ambitioniertes Ziel gesetzt hat. Haben Stromversorger ein Recht auf Entschädigung wegen des Atomausstiegs?
Glante: Das ist eine heikle juristische Frage. Momentan ist beim Schiedsgericht eine Klage von Vattenfall anhängig, das ist natürlich eine interessante Geschichte – erstmal grundsätzlich, weil die Lage entschieden wird, und dann rückt dadurch auch das Handelsabkommen mit den USA in den Vordergrund, weil auch dort die Möglichkeit besteht, Schiedsgerichtsverfahren einzuführen. Die Frage, wie Unternehmen sich sozusagen eine Entschädigung erstreiten können, weil die Bundesregierung plötzlich die Laufzeiten verkürzt hat, müssen aber die Richter entscheiden. Da würde ich mich als Politiker nicht zu weit aus dem Fenster lehnen. Die großen Energieversorger stehen ja immer so ein bisschen am Pranger, teilweise zu recht, teilweise auch aus eher, sagen wir, populistischen Gründen. Es gibt sicherlich auch einige Möglichkeiten, sich vielleicht noch außergerichtlich zu einigen; aktuell findet ja eine Debatte statt über einen Stilllegungsfonds unter dem Stichwort „Bad Bank“ für Strom.
Unsere Zeit: Gerade mit Blick auf die geopolitische Bedeutung der Energieversorgung, aber auch auf die momentane finanzielle Schwäche der Energiekonzerne in Deutschland: Wie viel Staat werden wir in Zukunft in der Energiewirtschaft sehen?
Glante: Das ist schwer zu sagen. Die Debatte um europäische Energie geistert ja immer wieder durch Medien und Öffentlichkeit, jetzt zum Beispiel im Zusammenhang mit der Ukraine und dem Gas. Was passiert mit den Stromnetzen und Stromtrassen, die ausgebaut werden müssen? Da gibt es Bedarf. Ob der so hoch ist, wie von einer Seite angedeutet, oder so niedrig, wie manche Umweltverbände meinen – irgendwo dazwischen liegt die richtige Größenordnung. Aber die Netze müssen gebaut werden, und da stellt sich natürlich die Frage, wer das finanziert. Es gab eine Debatte, ob der Staat Netze übernehmen und selbst ausbauen soll. Ich halte das für relativ illusorisch, weil die finanziellen Spielräume der öffentlichen Haushalte kaum ausreichen werden. Deshalb wird man die Netze mit Netzbetreibern weiter ausbauen. Die Energieversorgung selbst zu übernehmen, halte ich auch für einen Rückschritt. Man muss sich darüber unterhalten, wie „Reservekraftwerke“ in Zukunft unterhalten werden – ob man dort eine Art Kapazitätsmarkt schafft oder andere Kapazitätsmechanismen. Das heißt, man könnte den Betreiber eines Kraftwerks dafür vergüten, dass er sein Kraftwerk quasi auf Standbye hält, sodass auch Strom zur Verfügung steht, wenn z. B. die Sonne untergeht oder der Wind nachlässt. Aber dass ein Staat wieder Kraftwerke betreibt, halte ich für relativ unwahrscheinlich.
Unsere Zeit: Kommen wir noch einmal zur Europawahl. Uns scheint, dass die Europawahl – vor allem zwischen den Parteien der Mitte – nicht so stark durch Konfrontation geprägt ist wie viele nationale Wahlen, auch in Deutschland. Die Kandidaten sind sich oft in vielem einig, was sicher auch daran liegt, dass sie als gemeinsame Repräsentanten des Parlaments gegenüber dem Europäischen Rat und der Kommission auftreten. Sehen Sie das ähnlich? Glauben Sie, dass diese Konstellation ein Problem ist?
Glante: Ja, ich denke, das haben Sie schon ganz gut getroffen. Der Vergleich zu nationalen Mechanismen und nationalen Parlamenten scheitert regelmäßig an der Struktur von Europa. Die Europäische Union hat zum Beispiel keine Regierung, deshalb gibt es im Europäischen Parlament auch keine Regierungsfraktion oder -koalition und keine Opposition. Die Mehrheiten im Parlament bilden sich rund um Sachentscheidungen. Natürlich gibt es da politische Differenzen, aber Sie haben auch recht, dass man im Parlament gemeinsame Mehrheiten finden muss, wenn man sich gegenüber den Mitgliedsstaaten im Rat durchsetzen will.
In solchen Fällen stellen dann entweder die beiden großen Fraktionen gemeinsam eine Mehrheit sicher – wenn sich die Parteien denn überhaupt intern einig sind, was ja auch nicht immer der Fall ist. Oder, das gelingt schon eher, eine der großen Fraktionen schmiedet mit kleineren zusammen eine Mehrheit. Die Arbeit ist also insgesamt eher sachorientiert, und insofern entsteht manchmal der Eindruck, die sind sich dort einig im Parlament. Aber es gibt in Detailfragen auch durchaus große Unterschiede, wenn man einzelne Politikfelder betrachtet.
Beispielsweise bei den Eurobonds: Sicherlich müsste man, wenn man nicht gerade im Wahlkampf wäre, mal offiziell darüber reden, ob man mit gemeinsamem Schuldenmanagement nicht besser zurechtkäme, aber da gibt es eben große Diskrepanzen. Aber ansonsten ist die Konfrontation im Europäischen Parlament wesentlich geringer, der – ich sag’ mal in Anführungsstrichen – „Schaukampf“ im Bundestag findet so bei uns nicht statt. Das hat vielleicht auch damit zu tun, dass wir multilingual sind, 24 Sprachen sprechen – die Debatte ist dann natürlich nicht so lebhaft wie im Bundestag, wo es ja z. B. auch Zwischenrufe gibt. Insofern geht es bei uns ein bisschen ruhiger ab. Die Bürger haben aber trotzdem die Wahl zwischen sehr unterschiedlichen Entwürfen – gerade bei diesen Wahlen, wo die Prozenthürden gefallen sind.
Unsere Zeit: Glauben Sie, dass die Europäische Volkspartei, in der derzeit auch Rechtspopulisten und Europaskeptiker wie die Fidesz-Partei von Victor Orbán, Berlusconis Forza Italia oder vielleicht auch die Seehofer-CSU vertreten sind, so bestehen bleiben kann, wie sie derzeit ist? Oder deutet sich eine Neustrukturierung der europäischen Rechten an?
Glante: Mein Eindruck war in den letzten Jahren, dass man bei der Europäischen Volkspartei versucht hat, die Fraktion möglichst groß zu halten, um die Mehrheit zu erreichen, koste es, was es wolle. Da haben sich, wie Sie erwähnt haben, Parteistrukturen herausgebildet, die nicht gerade dem inneren Frieden dienen – die haben heftige Probleme, sich intern zu einigen. Ob das hält nach der Europawahl, muss man sehen. Es wird leider wahrscheinlich einen ziemlich großen rechten Block geben, der sich auch schon im Vorfeld auf eine Zusammenarbeit verständigt hat. Daneben gibt es noch andere rechte Gruppen. Wo die AfD zum Beispiel – wenn sie reinkommt, und sie wird reinkommen – hinwill, weiß man nicht.
Es gibt allerdings auch in anderen Fraktionen intern erhebliche Unterschiede. In unserer Fraktion gab es auch lange Zeit eine Debatte, als die slowakische SMER beitreten wollte. Die hat ja auch eine gewisse Parteikarriere hinter sich. [Sie koalierte seit 2006 in der Slowakei mit einer rechtsextremen Partei, woraufhin sie aus der Parteienfamilie der europäischen Sozialdemokraten ausgeschlossen und erst 2009 wieder aufgenommen wurde]. Sie hat ihre Programmatik dann ein Stück weit geändert, so dass sie aufnahmefähig war. Auch anderswo gibt es Unterschiede, bei den Europäischen Grünen etwa gibt es Mitglieder, die in Deutschland eher bei der FDP unterkommen würden. Die Volkspartei wird wohl ziemlich große interne Probleme bekommen mit verschiedenen fragwürdigen Parteien, die da auf der Matte stehen. Das Vereinigte Königreich ist sowieso ein spezieller Fall – UKIP wird stärker werden, die Tories fallen zurück, Labour wird zulegen.
Unsere Zeit: Einige Beobachter argumentieren, dass das Erstarken der europaskeptischen Parteien dafür sorgt, dass Europapolitik mehr in den Mittelpunkt öffentlicher Diskussionen rückt. Wie sehen Sie das?
Glante: Das ist wohl richtig. Man muss einmal deutlich sagen: Die Europäische Union hat sehr viel geleistet in den letzten Jahren. Die Vorteile, der Zusammenhalt und die gegenseitige Hilfe und Unterstützung, sind wesentlich größer, als manchmal kolportiert wird. Die Schwierigkeiten werden dann natürlich besonders betont, das ist ja überall der Fall. In diesem Zusammenhang wollen die Skeptiker die Entwicklung jetzt zurückdrehen, zum Beispiel, wie die AfD, den Euro oder gar die ganze Union abschaffen.
Ich glaube, das schweißt die Demokraten ein Stück weit zusammen. Wenn die neuesten Umfragen stimmen, ist die Mehrheit z. B. der deutschen Bevölkerung der Meinung, dass Europa, dass die Europäische Union gut ist und uns gut tut. Sicherlich gibt es ein paar Fehlentwicklungen, aber die gibt es auf allen Ebenen, ob auf Bund-, Länder- oder Kommunalebene. Wir müssen gemeinsam sehen, dass diese rechtsradikalen Kräfte nicht Raum greifen. Gerade wir Deutschen haben ein großes Problem, wenn dann demnächst die NPD oder die Republikaner im Parlament sitzen, das kann für Deutschland auch einen Imageschaden bedeuten.
Unsere Zeit: Gibt es in Ihrer Partei Diskussionen darüber, wie man mit Parteien wie der NPD oder anderen Neonazi-Parteien umgehen will? Eher ignorieren oder offensiv bekämpfen?
Glante: Wir haben ja auch bisher im Parlament schon den Front National und andere rechte Vertreter. Sagen wir so: Man straft sie mit relativer Nichtbeachtung. Sie werden nicht unbedingt auf die Tagesordnung gesetzt oder explizit angegriffen, damit wertet man sie nur auf. Denn die populistischen Argumente, die sie vorbringen, das sieht man auf jedem Plakat, das sind plumpe, einfache Antworten. Die drängenden Probleme, die sie ansprechen, sind ja wirklich da, damit beschäftigen sich die Leute, aber mit einer plumpen, kurzen Antwort – „Ausländer raus, dann wird alles gut“ – ist niemandem geholfen. Wir lassen uns also nicht auf Debatten ein, sondern gehen mit den Rechten ganz formell um. Wenn da also eine Fraktion, eine Gruppe oder ein einzelner Abgeordneter einen Antrag einreicht, der durchaus sinnvoll ist, dann wird man ihn nicht einfach per se ablehnen, nur weil er von rechts kam. Aber ansonsten gibt es da keine Zusammenarbeit und man bietet ihnen dadurch auch kein Podium. Le Pen und seine Tochter tauchen sowieso nur in Straßburg auf, um sich zur Geschäftsordnung zu melden und irgendwelchen Stuss abzulassen. Inhaltlich arbeiten die nicht – die kassieren nur die Mittel, die sie bekommen, und setzen sie dann politisch ein.
Unsere Zeit: Haben Sie den Eindruck, dass die aktuelle Wahl, die das erste Mal mit Spitzenkandidaten stattfindet, zur Entstehung einer europäischen Öffentlichkeit beiträgt?
Glante: Ich hoffe, dass es hilft. Das ist ein erster Schritt in die richtige Richtung. Der nächste Schritt wäre, das haben wir im Vorfeld diskutiert, dass man auch Parteilisten mehr internationalisiert. Das wird ein schwieriger Weg, denn es würde bedeuten, dass man zum Beispiel in Bielefeld, wo Sie studieren, polnische Kandidaten plakatiert. Oder wenn man deutsche Kandidaten in Ungarn oder Griechenland plakatiert, was gerade in Griechenland momentan sowieso sehr schwierig wäre.
Ich habe mir das Spitzenkandidatenduell auf Arte angesehen, das leidet natürlich darunter, wenn die Kandidaten alle englisch sprechen. Die können zwar gut brillieren untereinander, aber die Übersetzung ins Deutsche leidet dann darunter, weil die Kandidaten natürlich viel vermitteln wollen und deshalb schnell sprechen. Die Übersetzung fand ich ein bisschen dürftig, um es vorsichtig auszudrücken. Da hatte das Duell zwischen Juncker und Schulz im ZDF, bei dem beide Kandidaten deutsch sprechen konnten, schon eine andere Qualität. Es ist insgesamt schwierig, eine europäische Öffentlichkeit herzustellen, obwohl ja wirklich viele Gemeinsamkeiten bestehen in der europäischen Bevölkerung. Die Sprachbarrieren zu überwinden ist schon eine große Hürde. Aber es ist ein Anfang gemacht mit den europäischen Spitzenkandidaten, da bekommt die Politik ein Gesicht.
Unsere Zeit: Juncker hat im ZDF-TV-Duell mit Schulz gesagt, dass er keine realistische Perspektive sieht, das Wanderzirkusproblem, also den ständigen Umzug des Parlaments von Brüssel nach Straßburg, zu beenden. Sehen Sie das auch so oder haben Sie weiterhin die Hoffnung, dass die Umzüge irgendwann ein Ende haben?
Glante: Die Hoffnung habe ich schon, schon rein praktisch, nicht nur wegen der Hin- und Herfahrerei und der Kosten, die man natürlich auch gern vermeiden würde. Denn die Arbeitsbedingungen in Straßburg sind saumiserabel für die Abgeordneten. Für einen Besucher ist das zwar schön – es gibt einen tollen Besuchertrakt und einen großen, schönen Plenarsaal, ist ja auch in Ordnung –, aber die Büros der Abgeordneten sind sowas von winzig, wenn Sie da zwei Gäste zu Besuch bekommen, muss der eine dem andern auf dem Schoß sitzen.
Allerdings ist das durch völkerrechtlich bindende Verträge festgelegt. Der Lissabon-Vertrag wurde einstimmig verabschiedet und kann nur einstimmig verändert werden – und da steht eben drin: Straßburg ist Sitz des Parlaments, das Parlament hat dort mindestens zwölf Mal im Jahr und vier Tage pro Monat zu tagen. Frankreich weigert sich hartnäckig, daran etwas zu ändern, schon die Reduzierung von fünf auf vier Tage war schwierig genug. Die Woche, in der das Parlament in Straßburg tagt, generiert ein Bruttosozialprodukt, auf das die Franzosen einfach nicht verzichten wollen. Dafür eine Kompensation, also etwas zu finden, das man den Franzosen bieten kann, damit sie dieses Privileg abgeben, ist sehr schwierig. Ohnehin kann darüber nur der Rat entscheiden. Im Endeffekt ist die Debatte darüber vor allem Schaumschlägerei, wenn die Parteien im Wahlkampf populistischerweise fordern, das müssten wir endlich abschaffen, wohlwissend, dass das Parlament dafür ohnehin nicht zuständig ist. Wir Deutschen sollten vielleicht auch erstmal das Bonn-Berlin-Problem lösen, bevor wir da eine große Klappe haben.
Unsere Zeit: Viele nehmen Deutschlands Rolle in der EU als sehr dominant wahr. Bekommen Sie als Deutscher in Europa von dieser Stimmung etwas zu spüren?
Glante: Ja, die Wahrnehmung bekomme ich schon mit. Ich merke das auch in Debatten, dass da eine gewisse Skepsis vorhanden ist. Das hat mit der Finanz-, Haushalts- und Wirtschaftskrise zu tun, die von Frau Merkel und der schwarz-gelben Koalition mit dem Austeritätsprinzip beantwortet wurde. Das färbte selbst auf uns Abgeordnete ab, obwohl die SPD in dieser Zeit ja gar nicht in der Regierungsverantwortung war. Auch in unseren Fraktionsdebatten hieß es dann: „Ja, ihr Deutschen“ – und das musste dann erstmal richtig gestellt werden: Es gibt die deutsche Regierung, die deutsche Bevölkerung und verschiedene deutsche Parteien, und die muss man auseinanderhalten. Andererseits sind wir auch das größte Mitgliedsland mit dem höchsten Beitrag. Dass man da ein bisschen als Motor agiert, hat bisher immer geholfen, man muss bloß aufpassen, dass man es nicht überdehnt. Der deutsch-französische Motor läuft momentan bloß auf einem von beiden Zylindern, die Franzosen haben intern genug Probleme. Da wirkt sich die deutsche Dominanz dann perspektivisch natürlich noch mehr aus.
Unsere Zeit: Ist die Ernennung eines deutschen Spitzenkandidaten in diesem Zusammenhang schwierig zu vermitteln?
Glante: In Griechenland hatte Schulz auch schon vor seiner Ernennung Auftritte, die wesentlich wohlwollender aufgenommen wurden als die von Angela Merkel. Es kann natürlich trotzdem sein, dass der ein oder andere in Griechenland sagt: „So einen Deutschen wähl ich nicht, ganz egal, aus welcher Partei der kommt“. Aber die meisten Griechen haben ja nichts gegen die Deutschen an sich. Wenn man den Spruch von Andreas Scheuer, dem CSU-Generalsekretär, mal wörtlich nimmt: „Die Fassade und die Person stammen aus Deutschland, aber die Stimme und die Inhalte stammen aus den Schuldenländern“, dann hat Scheuer ja gar nicht unrecht: Martin Schulz ist wirklich ein Europäer, nicht nur ein Deutscher.
Unsere Zeit: In welchem Parlament wären Sie lieber Abgeordneter? Im Europäischen oder im Bundes- oder Landtag?
Glante: Die Frage kann ich ganz schnell beantworten: im Europäischen Parlament – never, never, never Bundestag oder Landtag. Ich habe 20 Jahre lang erlebt, was für eine tolle, interessante, spannende Arbeit das ist, mit viel internationaler Zusammenarbeit – und man ist doch sehr, sehr frei als Abgeordneter, viel freier als in so einer Bundestagsfraktion.
Unsere Zeit: Haben Sie den Eindruck, dass der Einfluss eines Parlamentariers auf die Europapolitik groß ist?
Glante: Ja, durchaus, der Einfluss ist gewachsen. Mit jedem Vertrag während meiner Karriere – Maastricht, Amsterdam, Lissabon – haben wir mehr Kompetenzen bekommen. Wir haben (gemeinsam mit dem Rat) die volle Budgethoheit, ohne das Parlament gibt es keinen Haushalt, keine finanzielle Vorausschau, fast gar keine Gesetzgebung mehr, außer in zwei, drei wenigen Bereichen – Außenpolitik, Steuern, wo Europa sowieso nicht sehr viel zu sagen hat. Die Einheit im Parlament herzustellen, eine Mehrheit zu finden, ist nicht ganz einfach, aber ich glaube, wir sind der europäischste Teil der Europäischen Union. Der Rat ist natürlich seinen nationalen Interessen verpflichtet und ist immer janusköpfig mit einem nationalen und einem europäischen Gesicht. Wir haben jedenfalls mehr zu sagen, als allgemein wahrgenommen wird.
Unsere Zeit: Welche Unterstützung für die Arbeit im Europäischen Parlament würden oder hätten sie sich von deutschen Bürgern, von der deutschen Politik und ihrer Partei gewünscht?
Glante: Ich spreche mal nur von meiner eigenen Partei, die ich am besten kenne. Ich habe an der Basis, hier in Brandenburg und auch in anderen Bundesländern, mittlerweile eine richtige Struktur aufgebaut, wo ich vor Ort Unterstützung und Hilfe bekomme. Das funktioniert mittlerweile prima. Aber je höher man kommt, desto schwieriger wird es, für Europa Unterstützung zu bekommen. Da können Sie fragen, wen Sie wollen. Europa ist hintendran, das merkt man immer wieder. Auf der Bundesebene ist es mit Gabriel als Vorsitzendem besser geworden. Ich hoffe bloß, dass diese „europäische Euphorie“ nach der Wahl anhält und nicht wieder abebbt. Und dass nicht wieder deutsche Politiker, auch Sozialdemokraten, wenn sie in der Regierungsverantwortung sind, diesem alten Schema verfallen: Ist was Gutes, klopf’ ich mir auf die Schulter, dann hat es Berlin gut gemacht, und ist es schlecht, dann war es Brüssel, dann hab’ ich damit nichts zu tun. Das nehmen die Bürger dann eben wahr. Und die Medien müssen dann einfach mal nachfragen – was heißt das: Brüssel hat entschieden? Wie hat denn Brüssel genau entschieden? Dann müssen auch deutsche Politiker mal ein bisschen Farbe bekennen. An mangelnder Transparenz bei uns scheitert es nicht. Die Medien versuchen zwar das ein oder andere rüberzubringen, aber bei den Printmedien ist es sehr schwierig – gerade in den regionalen und sehr regionalen Zeitungen tauchen wir kaum auf. Ich glaube schon, dass die Parteien da noch dran arbeiten können. Bei den Grünen läuft es schon ein bisschen besser, bei meinen christdemokratischen Kollegen höre ich aber ähnliches wie bei uns.
Unsere Zeit: Welche Herausforderungen sehen Sie für Europa in den nächsten Jahren?
Glante: Jetzt unmittelbar sehe ich die Herausforderung, mit dem Problem Ukraine umzugehen. Ich meine nicht nur konkret die Ukraine, sondern auch die Problematik, dass es innerhalb von Ländern, die an Europa grenzen, innere Zerreißungen oder Verwerfungen gibt. Separatistische Bewegungen gibt es auch bei den Katalanen oder den Schotten. Und da müssen wir über die Zukunft nachdenken – Europa muss wirklich mal über die Finalität reden, das wird von vielen abgestritten. Ich meine nicht, dass man um Europa eine Mauer zieht, aber die Union kann auch nicht endlos überdehnt werden. Alle, die zu uns wollen, das gesamte geographische Europa aufzunehmen, halte ich nicht für erstrebenswert, weil dann die Strukturen nicht mehr funktionieren. Dann haben Sie ein Parlament, das für vielleicht eine Milliarde Bürger zuständig ist – da geht jeder Kontakt ganz und gar verloren. Man kann mit außereuropäischen Nachbarländern auch ganz gut vertraglich zusammenarbeiten und darüber viele Dinge regeln. Man muss es bloß vernünftig anfangen und vielleicht nicht, wie bei der Ukraine, ganz so massiv darauf drängen, dass sie sich eng an die Union binden, weil das dann den großen Bruder dahinter frustriert hat. Ein bisschen diplomatisches Geschick wäre also schon vonnöten, aber irgendwo müssen wir sagen: Hier ist Schluss mit der Europäischen Union und mit anderen Regionen arbeiten wir gut zusammen. Das wird wahrscheinlich auch eine Perspektive für die Türkei sein. Ich bin durchaus jemand, der sagt, wenn sie sich in den Verhandlungen als beitrittsreif erweisen, kann man sie aufnehmen. Das wird aber schwierig werden. Ich glaube mittlerweile auch gar nicht mehr, dass die Türkei unbedingt in die Union will. Wir haben ein Zollabkommen mit ihnen, wir haben ein Handelsabkommen und man kann noch einige andere Dinge aushandeln, dann gibt es auch eine vernünftige Zusammenarbeit.
Unsere Zeit: Eine Frage zum Schluss: Haben Sie eine Nachricht an die Wähler?
Glante: Ja: Jeder, der nicht zur Wahl geht, selbst, wenn er in NRW oder Brandenburg zur Kommunalwahl geht und die Europawahlen dabei nicht wahrnimmt, verschenkt seine Stimme und verstärkt extremistische Parteien, das ist einfach so. Ich bitte deshalb darum: Sie müssen als Wähler Ihre Stimme abgeben, Sie müssen wählen – und hinterher die Leute, die sie gewählt haben, kontrollieren.