Parlamentswahlen sollten die Sternstunde der Demokratie sein, Fixpunkt öffentlicher Deliberation und Vollzug politischer Selbstregierung. Bei der (heutigen) Bundestagswahl sind allerdings Zweifel angebracht. Nicht nur, dass den Wählerinnen und Wählern eine falsche Dichotomie zwischen konservativer Alternativlosigkeit und reaktionärer Zeitreise aufgedrängt wird. Nicht nur, dass die rein nationale Mitbestimmung unzureichend ist, um die globalisierten Probleme des 21. Jahrhunderts zu lösen. Nein, der Defekt der deutschen Demokratie (und nicht nur dieser) ist noch fundamentaler: Obwohl über 82 Millionen Menschen in Deutschland leben, verfügen nur 61,5 Millionen über das Wahlrecht. Mehr als 20 Millionen Menschen sind bei dieser weitreichenden Entscheidung über unsere politische Zukunft ausgeschlossen. Das ist ein Skandal, über den endlich gesprochen werden muss.
Grundpfeiler der Demokratie: Autoren- und Adressatengleichheit
Eines der zentralen Prinzipien der Demokratie ist das, was in der politischen Philosophie als Autoren- und Adressatengleichheit bezeichnet wird: Die Idee, dass all diejenigen, die den Gesetzen und der Staatsgewalt unterworfen sind, diese auch mitbestimmen dürfen, nämlich über Abstimmungen und Wahlen. In einer Demokratie sollen die Bürgerinnen und Bürger die Regeln des Zusammenlebens selber festlegen – eine Überlegung, die in ihrer modernen Konzeption insbesondere auf die Philosophen Jean-Jaques Rousseau und Immanuel Kant zurückgeht.
Rousseau und Kant entwickelten ihre Gedanken im 18. Jahrhundert, als die moderne Staatlichkeit noch nicht voll entwickelt war, als die theoretische Reflektion über Demokratie noch in den Kinderschuhen steckte und als die große Mehrheit der Menschen von politischen Entscheidungen noch gänzlich ausgeschlossen war. Und heute? Heute gelten die Nationalstaaten als perfekte Container demokratischer Ordnung, an welcher über die Jahrhunderte hinweg immer mehr Menschen beteiligt wurden: zunächst die bürgerlichen Schichten, später auch die Arbeiterklassen und schließlich Frauen. Das Ideal der Autoren- und Adressatengleichheit ist im allgemeinen und gleichen Wahlrecht, das beispielsweise für die Bundestagswahl gilt, endlich durchgesetzt – könnte man meinen.
Tatsächlich aber ist auch das heutige Wahlrecht ein exklusives Privileg, das nicht allen zuteil wird. Wo das Stimmrecht früher nach Steuerklasse (Zensuswahlrecht), ethnisch-kultureller Gruppenzugehörigkeit (bspw. Einschränkungen gegen Juden) und Geschlecht (Männerwahlrecht) differenzierte, wird heute noch nach Alter, Betreuungsstatus und Staatsbürgerschaft unterschieden. Wer sich ohne eigenes Verschulden auf der falschen Seite dieser Unterscheidungen wiederfindet, ist gesetzlich von der Demokratie ausgeschlossen.
Wer ist ausgeschlossen?
In Deutschland sind es im Wesentlichen drei Gruppen, denen das Wahlrecht verwehrt wird:
- geschätzte 81.000 Menschen mit geistiger Behinderung, denen ihr Wahlrecht genommen wurde, weil sie Betreuung „in allen Angelegenheiten“ erhalten,
- etwa 10 Millionen Ausländer, die als Nichtdeutsche nicht zum „Volke“ gezählt werden, von dem „alle Staatsgewalt“ auszugehen hat,
- über 13 Millionen Menschen, die das 18. Lebensjahr noch nicht vollendet haben.
Zur ersten Gruppe zählen etwa Menschen mit Intelligenzminderungen oder Down-Syndrom, zum Teil auch Menschen mit Sprachstörungen, nicht aber generell Demenzkranke oder Patienten im Wachkoma. Wer von einem Gericht einen Betreuer für alle möglichen Angelegenheiten zur Seite gestellt bekommt, dem wird kein eigenverantwortliches Handeln und in der Schlussfolgerung kein demokratisches Urteil zugetraut.
Die Zahl der Menschen, die wegen ihrer Staatsbürgerschaft von den Wahlen ausgeschlossen sind, hat in den letzten Jahrzehnten stetig zugenommen. Von den heute zehn Millionen Ausländern in Deutschland kommen vier Millionen aus der Türkei, Polen, Syrien, Italien und Rumänien. Knapp zwei Drittel der Ausländer sind seit über vier Jahren in Deutschland, durchschnittlich halten sie sich bereits 15,4 Jahre hier auf.
Die Jugendlichen und Kinder unter 18 Jahren schließlich sind nur temporär von den Wahlen ausgeschlossen. Schließlich werden die meisten von ihnen einmal erwachsen sein und, sofern sie Deutsche sind, das volle Wahlrecht wahrnehmen können. Strukturell bleibt die U18-Generation aber dauerhaft vom demokratischen Prozess ausgeschlossen.
Obwohl diese 20 Millionen Menschen in Deutschland leben und sich unter Strafandrohung an deutsche Gesetze zu halten haben (inklusive Steuerzahlung), haben sie kein Mitbestimmungsrecht. Ihre Perspektiven, ihre Ideale und Interessen bleiben unberücksichtigt. Bildungspolitik wird über die Köpfe der Jugendlichen und Kinder hinweg beschlossen, in Fragen der Inklusion und Gesundheitspolitik bleiben viele geistig Behinderte ungehört und die gesamte Integrations- und Zugangspolitik wird ohne die Stimmen der Betroffenen entschieden.
Warum auch diese Menschen wählen sollten
Das Prinzip der Autoren- und Adressatengleichheit legt nahe, dass all diese Menschen das Wahlrecht erhalten sollten. Trotzdem gibt es nicht wenige, die die derzeitige Gesetzgebung für legitim halten. Ich möchte hier auf die zwei gängigsten Argumente eingehen.
Die Gründe, die gegen die Inklusion von geistig Behinderten und gegen die Inklusion von Kindern und Jugendlichen in den demokratischen Prozess angeführt werden, sind im Prinzip die gleichen: Sie hätten nicht die geistige Reife, nicht die Erfahrung, nicht das Verständnis für ihren Platz in der Welt. Sie ließen sich zu leicht beeinflussen und könnten daher keine angemessene Wahlentscheidung treffen. Das Argument zielt letztlich auf die Inkompetenz der Wählenden ab, deren Ahnungslosigkeit das Gemeinwesen gefährde.
Dieses Kompetenz-Argument zur Einschränkung der allgemeinen und gleichen Wahl ist kein neues. In der Vergangenheit, im deutschsprachigen Raum insbesondere im Übergang vom 19. ins 20. Jahrhundert, wurde eine solche Argumentationslinie vor allem gegen das Frauenwahlrecht angeführt. Einer der prominentesten und wortgewaltigsten Gegner der Frauenemanzipation (und allgemein ein ganz grässlicher Frauenfeind) war der österreichische Philosoph Otto Weininger, der seine Überzeugungen 1903 in seiner Schrift Geschlecht und Charakter darlegte:
Bei der Beurteilung der Rechte und Fähigkeiten von Frauen ist man seit Weininger zum Glück ein gutes Stück vorangekommen. Der Ausschluss von Kindern und „Schwachsinnigen“ gilt hingegen nach wie vor als legitim und ausgemacht. Sie werden schlicht für demokratieunfähig gehalten.
Die Schwäche dieser Argumentation wird offensichtlich, wenn man sie zu Ende denkt: Ginge es wirklich um Kompetenz, müsste man nicht nach Alter oder Betreuungsstatus fragen, sondern nach konkretem Wissen. Denn im Umkehrschluss bedeutet das Kompetenz-Argument: Über 18-jährige ohne geistige Behinderung sind zur vernunftgeleiteten und überlegten politischen Entscheidung in der Lage – was nicht nur angesichts der Trump-Wahl, des Brexit-Entscheids und des anstehenden zweistimmigen Ergebnisses der AfD eine gewagte Annahme ist (zumal in diesen drei Fällen die Beteiligung jüngerer Menschen an den Wahlen einen entscheidenden Unterschied zum Positiven gemacht hätte).
Um das zu veranschaulichen, sollte man sich klarmachen, welche Personen nicht von der Wahl ausgeschlossen sind. Nur einige Beispiele:
- 43 Prozent aller Wahlberechtigten, die glauben, die Erststimme sei für den Ausgang der Bundestagswahl wichtiger als die Zweitstimme,
- über 50 Prozent der Deutschen, die nicht wissen, welche Rolle der Bundesrat im politischen System Deutschlands spielt,
- die große Mehrheit der Deutschen (insbesondere ältere), die bei der Einschätzung der Sicherheitslage in Deutschland oder bei der Schätzung der Anzahl der Muslime in Deutschland, massiv daneben liegen,
- meine Tante, die 2009 trotz Hippie-Lifestyle und notorischem Geldmangel die FDP gewählt hat.
Anders gesagt: Wäre profundes Wissen ein Kriterium für die Gewährung des Wahlrechts, würden am Ende nicht mehr viele Wähler übrig bleiben. Die Einführung von Wissenstests vor Bundestagswahlen, eine Abfrage der Kompetenz zur politischen Entscheidung, die manche für richtig halten, wäre da konsequenter, aber noch offensichtlicher anti-demokratisch. Ein solches Arrangement liefe letztlich auf eine abgewandelte Form der Philosophenherrschaft hinaus: Eine elitäre Minderheit beherrscht die als dumm und unwissend stigmatisierte Mehrheit.
Stattdessen wäre es angebracht, die Ungerechtigkeit der politischen Exklusion junger und behinderter Menschen anzuerkennen. Jeder Mensch wird durch ganz unterschiedliche Gründe zur Wahlentscheidung bewegt; ausgerechnet diesen Gruppen die falschen Motive zu unterstellen, ist eine selbstgerechte Anmaßung – und führt zu einem willkürlichen Eingriff in grundsätzliche Prinzipien der Demokratie. Diese Ungerechtigkeit müssen wir beenden, indem wir die Allgemeingültigkeit und Gleichheit des Wahlrechts durchsetzen.
Bei dem Ausschluss von Ausländern von den Wahlen wird zwar bisweilen ebenfalls mit mangelndem Wissen argumentiert. In der Regel geht die Rechtfertigung hier aber in eine andere Richtung: Es wird ganz grundsätzlich die Loyalität zum Staate, die echte Anteilnahme am Allgemeinwohl in Zweifel gezogen. Im besten Fall wird den mittlerweile 10 Millionen Ausländern Desinteresse an deutscher Politik unterstellt, im schlimmsten Fall die Unterwanderung des Landes als fünfte Kolonne feindlicher Mächte.
Auch diese Begründungsstruktur folgt einem eingeübten Muster, das auch als Teil der Argumentation gegen die Judenemanzipation im 19. Jahrhundert bemüht wurde, um den Ausschluss der Juden von Ämtern und politischer Mitbestimmung zu zementieren. Trotz diverser Unterschiede zwischen den Diskriminierungserfahrungen damaliger Juden und heutiger Ausländer in Deutschland gibt es eine basale Gemeinsamkeit: die Brandmarkung als Fremde, als Unzugehörige. Dies widerspricht den demokratischen Idealen, die der deutsche Staat hochzuhalten vorgibt.
Während es Argumente geben mag, Ausländer mit nur kurzer Aufenthaltsdauer nicht an Wahlen zu beteiligen (schließlich wären sie dann zwar Autoren, nach dem Wegzug aber nicht mehr Adressaten kollektiver Entscheidungen), so gilt dies nur für einen sehr kleinen Teil der Menschen ohne deutsche Staatsbürgerschaft. Die meisten von ihnen sind bereits seit vielen Jahren in Deutschland (durchschnittlich über 15 Jahre!), haben hier also ihren Lebensmittelpunkt, zahlen Steuern, engagieren sich in Nachbarschaft, Vereinen und politischen Initiativen. Sie sind Bürgerinnen und Bürger des politischen Gemeinwesens, werden aber an entscheidender Stelle ausgeschlossen: bei der direkten politischen Teilhabe über Wahlen und Abstimmungen. Damit sind sie zwar Adressaten der politischen Entscheidungen, nicht aber deren Autoren.
Als ich im letzten Jahr nach Berlin zog, habe ich hier unmittelbar mein Wahlrecht erhalten, weil ich ab sofort den Bestimmungen der Stadt und des Landes Berlin unterworfen war. Genauso sollten wir es für die Menschen halten, die von außerhalb nach Deutschland ziehen. Schließlich sehen auch sie sich ab sofort den deutschen Gesetzen unterworfen.
Es geht ums Prinzip
Über die letzten Jahrhunderte hinweg haben überzeugte Demokratinnen und Demokraten dafür gekämpft, den Kreis der Wahlberechtigten immer stärker auszuweiten. Nach und nach konnten sie das Wahlrecht für Männer und schließlich auch für Frauen erkämpfen. Nach und nach wurden Beschränkungen aufgrund von Grundbesitz oder Kapital, aufgrund von Religionszugehörigkeit oder Hautfarbe und aufgrund von Alter abgebaut. Es wurden fantastische Siege errungen und das Ergebnis kann sich sehen lassen – doch der Kampf um die Durchsetzung von Demokratie und Gleichberechtigung ist noch nicht zu Ende.
Derzeit sind mehr als ein Viertel der 82 Millionen Menschen in Deutschland von der politischen Mitbestimmung ausgeschlossen und viel spricht dafür, dass die Zahl der Exkludierten eher größer als kleiner wird. Wenn wir die Bundestagswahlen zu wirklich demokratischen Abstimmungen machen wollen, wenn wir das Prinzip der Autoren- und Adressatengleichheit endlich durchsetzen wollen, müssen wir das Wahlrecht ausweiten. Jeder Mensch mit (dauerhaften) Wohnsitz in Deutschland sollte die vollen politischen Rechte erhalten!
Dabei gibt es viele praktische und rechtliche Fragen zu klären – wichtig ist aber zunächst, die Ungerechtigkeit des Status‘ Quo anzuerkennen. Erst dann können wir an einer Zukunft arbeiten, in der Menschen mit geistigen Behinderungen, junge Menschen und Menschen mit anderer Staatsangehörigkeit mitbestimmen dürfen. Erst dann können wir eine Demokratie durchsetzen, die diesen Namen auch wirklich verdient.
Bild im Header: Andrew Benjamin, History of the United States, Volume V, Charles Scribner’s Sons, New York, 1912, public domain.
Zu den Minderjährigen: Ein Dreijähriger sollte nicht wählen dürfen. Aber das „Familienwahlrecht“ böte eine Lösung.
Zu den Ausländern:
-Von den 10 mio. Ausländern muss man zunächst mal die 1,6 mio. Kinder abziehen (die gehören ja in die obere Kategorie)
-Dann sollte man alle mit Duldung oder schwebenden Verfahren abziehen, denn die einen besitzen keinen legalen Aufenthalt, bei den anderen steht es noch nicht fest.
-Menschen mit einem von Natur aus Kurzfristigen Aufenthalt (Studium ect.) sollte kein Wahlrecht haben.
-Menschen, mit den von ihnen angesprochenem langen Aufenthalt (15+ Jahre), hätten sich längst die Deutsche Staatsbürgerschaft holen können. Das haben sie aber nicht, weil sie sich offenbar nicht zugehörig fühlen, oder die Vorraussetzungen nicht erfüllen (Lebensunerhalt gesichert, keine Vorstrafen…). Ich sehe nicht, warum wir hier das Wahlrecht vergeben sollten.
1. Ja, Familienwahlrecht böte eine Lösung. Man könnte auch sagen: Solange Eltern für ihre Kinder haften (bspw. bis zum 14. Lebensjahr), sollten sie auch deren Wahlrecht ausführen können.
2. Dass sie die Gesetze, die sie zu Illegalen erklären, nicht beeinflussen können, ist aber Teil des Problems.
3. Als ich nach Berlin gezogen bin, habe ich ziemlich unmittelbar das Wahlrecht erhalten (ich glaube, man muss drei Monate vor der Wahl im Bundesland gemeldet sein. Ob man direkt nach der Wahl wegzieht, ist dabei irrelevant). Selbst bei meinem einjährigen Aufenthalt in London durfte ich mich an der Bürgermeisterwahl beteiligen. Ich sehe zwar dein Argument, kann mir aber vorstellen, dass das unnötig viel bürokratischer Aufwand ist.
4. Wie du sagst, gibt es diverse Gründe dafür, nicht die deutsche Staatsbürgerschaft anzunehmen: Es kostet Geld (über 200 Euro), man muss den Lebensunterhalt selbst erbringen, man darf keine Vorstrafen haben. All diese Voraussetzungen gelten aber für Deutsche nicht – sie sollten also auch für Ausländer nicht gelten. Ein weiterer Grund, die deutsche Staatsbürgerschaft nicht annehmen zu wollen, ist der Verlust der alten Staatsbürgerschaft. Auch das macht es für viele unattraktiv. Würde man das Wahlrecht auf in Deutschland ansässige Ausländer ausweiten, hätte man das Problem nicht.