Kann man dem Populismus den Nährboden entziehen? Ja, mit Demut, Respekt und einem Perspektivwechsel

Wie wir unsere Gesellschaft spalten

Von Martin Schulz ist in diesen Tagen viel die Rede. Das mag daran liegen, dass er ein profilierter Europapolitiker ist und Europa in einer tiefen und anhaltenden Krise steckt. Noch mehr liegt es aber wohl daran, dass er als möglicher Kanzlerkandidat der SPD gilt. Nun sind Personalfragen in der Politik für die Medien spannender als jeder Inhalt und man kann tagelang über das Für und Wider von Personen für bestimmte öffentliche Ämter debattieren, was absolut legitim ist. Was aber in den vergangenen Tagen von zwei prominenten Journalisten über die Personalie Schulz geschrieben wurde, zeigt auf besonders eindringliche und auch erschreckende Art und Weise ein Kernproblem unserer Zeit auf, das mit dem grassierenden Populismus in unmittelbarem Zusammenhang steht. Martin Schulz, der seit 22 Jahren im Europaparlament sitzt, der als Parlamentspräsident diese Institution in nie dagewesener Weise politisch gestärkt hat, der Bürgermeister war, der seit Jahrzehnten eine zentrale Rolle innerhalb der deutschen Sozialdemokratie spielt – diesem erfahrenen und natürlich nicht unumstrittenen Politiker wird die Fähigkeit zur Kanzlerschaft abgesprochen mit der Begründung, er verfüge weder über ein Abitur noch über einen Hochschulabschluss.

Wer es nötig hat, sich aufgrund formaler Bildung zu definieren, der zeigt den Unterschied zwischen Bildung, Intelligenz und Anstand. Foto von Glen Noble auf Unsplash.

Man kann einem Politiker und einem Menschen aus vielerlei Gründen die Befähigung für politische Ämter absprechen, ihn als ungeeignet betrachten oder ihn schlichtweg unsympathisch finden und entsprechend mit ihm und über ihn streiten. Aber als Begründung allen Ernstes den formalen Bildungsabschluss zu nennen, ist eine Arroganz, aufgrund derer man sich in diesen Tagen nicht über das vielzitierte Elitenbashing wundern muss. Wenn sich immer mehr Menschen offen gegen das System, gegen Parteien und Politiker oder gegen unsere Wirtschaftsordnung stellen, dann reicht es nicht, diese Menschen als dumm oder durchweg antidemokratisch und rassistisch zu bezeichnen. Zum einen verstärkt man diese Menschen damit in ihrer Haltung. Zum anderen gilt es die Haltung dieser Menschen zu verstehen, um sie letzten Endes wieder von unserer freiheitlichen, offenen und demokratischen Gesellschaft zu überzeugen. „Kann man dem Populismus den Nährboden entziehen? Ja, mit Demut, Respekt und einem Perspektivwechsel“ weiterlesen

Projektarbeit statt Politikshow – wer den Konflikt um die Ukraine tatsächlich entschärfen könnte

Benedikt Paulowitsch (25) ist Politik- und Verwaltungswissenschaftler und wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für eGovernment in Potsdam. Er ist Mitglied der SPD sowie Sprecher des stipendiatischen Arbeitskreises Osteuropa der Friedrich-Ebert-Stiftung. In den vergangenen Jahren beschäftigte er sich wissenschaftlich mit politischen und administrativen Problemen, aber auch privat mit der Kultur, Geschichte und Lebensweise in Russland und der Ukraine, besuchte dabei mehrmals Kiew und die Krim und forschte 2013 für mehrere Monate im russischen Nizhny Novgorod.

Die Krim ist für die Ukraine verloren. Da können sich die ukrainische Regierung und der Westen noch so sehr auf das Völkerrecht und die ukrainische Verfassung berufen. Russland wird die Halbinsel nicht mehr verlassen.

Inzwischen darf es nur noch darum gehen, dass alle Beteiligten ihr Gesicht wahren können. Vladimir Putin kann und wird sich schon aus innenpolitischen Gründen nicht mehr von der Krim zurückziehen. Die EU muss dagegen zeigen, dass sie sich nachhaltig zur europäischen Perspektive für die Ukraine bekennt und diese auf ihrem Weg zu Rechtsstaatlichkeit und Demokratie begleitet und damit ihr Versagen nach der Orangenen Revolution nicht wiederholt. Und schließlich muss die neue ukrainische Regierung zeigen, dass sie tatsächlich eine Regierung für die gesamte ukrainische Bevölkerung sein kann, die der Ukraine Unabhängigkeit garantiert und nicht von Partikularinteressen und dem Streben nach Macht und Geld gesteuert ist. Hierzu werden alle Seiten ein wenig auf die Pauke hauen, sei es mit Sanktionen oder mit Rhetorik im Stile des Kalten Krieges. Dies darf sich jedoch in den nächsten Wochen nicht weiter hochschaukeln. Ein Krieg mag unrealistisch erscheinen, doch in den USA sind erste hochrangige Stimmen für eine militärische Unterstützung der Ukraine zu vernehmen. Die Eigendynamik einer solchen Entwicklung ist schwer einzuschätzen und höchst gefährlich.

Der Osten ist nicht die Krim

Was folgt in den nächsten Wochen? Die große Gefahr besteht darin, dass Bevölkerungsteile im Osten der Ukraine ebenfalls einen Anschluss an Russland fordern könnten. Anders als auf der Krim wäre dies in Donezk, Kharkiv oder Luhansk um einiges gefährlicher. Denn hier empfindet sich der Großteil der Bevölkerung trotz der Russischsprachigkeit dennoch als Ukrainer. Zwar sind die Menschen hier aufgrund der geographischen Nähe und der gemeinsamen Geschichte stärker an einer kulturellen und wirtschaftlichen Kooperation mit Russland interessiert. Daraus einen Wunsch nach Anschluss oder Übernahme abzuleiten ist jedoch verwegen. Schließlich fühlt sich Bayern wirtschaftlich und kulturell auch enger mit Österreich verbunden als mit den Niederlanden. Ein militärisches Eingreifen Russlands in diesen Landesteilen würde zu Blutvergießen und Bürgerkrieg führen. Die Folgen wären unabsehbar, vor allem dann, wenn sich die NATO im Angesicht von Gewalt und Krieg in der Mitte Europas zu einem eigenen Eingreifen gezwungen sieht.

Anstatt den Konflikt zwischen dem Westen und Russland durch politische Kampfrhetorik und Konfrontation anzuheizen, sollte intensiv über gemeinsame Projekte beraten werden. Ein solches Projekt kann die Zukunftsfähigkeit der Ukraine sein. Was diese braucht, sind vor allem neue staatliche Strukturen. Neben einer Schwächung des mächtigen Präsidenten und einer Stärkung von Parlament und Regierung, die bereits durch die wieder eingeführte Verfassungsänderung angegangen wurde, muss es vor allem um den Aufbau föderaler Strukturen gehen. Es ist müßig den Politikwissenschaftler Arend Lijphart zu zitieren, da es keinen Akademiker braucht um zu erkennen, dass es gerade bei heterogenen Gesellschaften wie der ukrainischen sowie aufgrund der großen geographischen Distanzen unvernünftig ist, eine zentralistische und alleinentscheidende Regierung zu haben, die von gut 50 Prozent der Bevölkerung als illegitim betrachtet wird. Marcel Röthig von der Friedrich-Ebert-Stiftung sowie der ehemalige US-Außenminister Henry Kissinger haben sich zuletzt ausführlich zu den Chancen des Föderalismus in der Ukraine geäußert. Ergänzen kann man folgende Punkte:

  • Das Risiko einer Abspaltung einzelner Landesteile wird reduziert. Eigene Gestaltungsmöglichkeiten der Regionen machen die Abgabe von Macht (z.B. an Russland) uninteressant. Eine zentralistische Regierung treibt dagegen manche Bevölkerungsteile schon aus Angst in die Arme Russlands.
  • Eine föderale Struktur stärkt die Rolle politischer Parteien, indem die Abhängigkeit von der jeweiligen Führungsperson reduziert wird. Die Folge sind tatsächliche politische Programme auf Basis politischer Grundideen, Partizipationsmöglichkeiten für die breite Bevölkerung und Konstanz im politischen Machtgefüge.
  • Die zahlreichen Probleme, vor denen Gesellschaft, Staat und Wirtschaft in der Ukraine stehen, können im Sinne des Subsidiaritätsprinzips vor Ort unter Berücksichtigung regionaler Besonderheiten angegangen werden.
  • Das politische System erhält einen höheren Grad an Legitimation. So wird Akzeptanz gegenüber dem Staat generiert, auch wenn in Kiew eine unbeliebte Regierung an der Macht ist.

Zurück zur Arbeitsebene – der Föderalstaat als gemeinsames Projekt

Um den Konflikt zu entschärfen sowie der Ukraine und den europäisch-russischen Beziehungen mittelfristig wieder eine positive Zukunft zu bescheren, müssen die Akteure vor allem auf die Arbeitsebene zurückkehren. Sicher soll und wird sich auch weiterhin die politische Prominenz öffentlich äußern, um nicht den Eindruck von Gleichgültigkeit zu erwecken. Gleichzeitig darf es nicht erneut zu einer verfahrenen Situation kommen, in der die Beteiligten einen Gesichtsverlust fürchten müssen und sich daher beharrlich zeigen. Eine Verfassungsreform und eine daran gekoppelte Umstrukturierung des ukrainischen Staatswesens kann ein gemeinsames Projekt der Konfliktparteien werden. Insbesondere Deutschland und Russland verfügen über viel Erfahrung bei der Errichtung und Steuerung föderaler Strukturen.

Es wäre entschärfend, wenn am Verhandlungstisch nicht Vladimir Putin und Angela Merkel, sondern zum Beispiel der Staatssekretär des Innenministeriums des Landes Nordrhein-Westfalen, der Minister für internationale Angelegenheiten des Landes Baden-Württemberg, der Europaminister des Freistaates Bayern oder Beamte auf Referats- und Abteilungsleiterebene aus den Ländern mit ähnlichrangigen Vertretern aus den Regionen Rostov, Nizhny Novgorod oder St. Petersburg gemeinsam mit Vertretern der Ukraine über eine föderale Verfassungsänderung und die praktische Umsetzung diskutierten. Durch verschiedene Arbeitsgruppen zu Themen wie Gesundheit, Umwelt oder Bildung können feste Arbeitsstrukturen und gegenseitiges Vertrauen aufgebaut werden. Auf diesen Ebenen bestehen bereits funktionierende Kanäle, Netzwerke, teilweise Vertrauen sowie wirtschaftliche, soziale und kulturelle Kooperationen und Abhängigkeiten. Institutionen wie Stiftungen, Wirtschaftsverbände oder Handelskammern können solche Arbeitskreise beratend ergänzen. Durch die Verlagerung auf niedrigere Hierarchieebenen und damit „unbekanntere Gesichter“ würde die mediale Aufmerksamkeit vermindert und ließe den Akteuren den notwendigen Raum für die Arbeit an der Sache.

Es darf nicht weiterhin ein Gegeneinander der Beteiligten geben. Nur gemeinsames Handeln der Konfliktparteien kann Stabilität, Frieden und Wohlstand für den europäischen Kontinent ermöglichen. Dass in der Ukraine aus Furcht um die Eigenständigkeit Vorbehalte gegen solche Arbeitsgruppen bestehen ist verständlich. Jedoch muss der Ukraine klar gemacht werden, dass eine Transformation zu Rechtsstaatlichkeit und Demokratie ohne Hilfe von außen nicht erfolgreich sein kann. Dafür gab es in den letzten Jahrzehnten hinreichend viele Beispiele – unter anderem die Ukraine selbst nach 2004. Auch der Einbezug Russlands wird insbesondere bei der aktuellen ukrainischen Regierung und vor allem der Maidanbewegung auf Widerstände stoßen. Die letzten Wochen haben jedoch gezeigt, dass eine Lösung ohne Russland nicht möglich ist.

Die USA werden in diesem Artikel übrigens aus gutem Grund nicht erwähnt. Die USA und Russland sind wirtschaftlich kaum voneinander abhängig. Dies verleitet eher zu Kampfrhetorik und birgt letzten Endes die Gefahr einer militärischen Auseinandersetzung. Es gibt keinen größeren Garanten für Frieden als wirtschaftliche Verflechtung. Das bekannteste Beispiel: die Europäische Union.