An den Zeitpunkt, als für mich die Zukunft anfing, erinnere ich mich nicht mehr. Ich hatte vorher bereits gelernt, über die DOS-Kommandozeile mein Lieblingsspiel durch die Eingabe des Dateipfades zu starten, aber an den Zeitpunkt, als ich mich zum ersten Mal ins Internet einwählte, erinnere ich mich nicht. Wohl aber an das Fiepen des Modems – wahrscheinlich, weil es so skurril war, dass es aus einer Science-Fiction-Komödie aus den 70er Jahren hätte stammen können. So tollpatschig und beschränkt feierte es sein Debut, dass ich die Erinnerung einfach überschrieb.
Von den ersten verschickten Emails zu Chaträumen, über die Wikipedia zu Klingeltönen und der ersten eigenen Homepage – das Netz entwickelte sich immer gewaltiger, wurde immer spannender. Plötzlich konnten Dinge verkauft, Flüge gebucht und Freunde gefunden werden. So weitreichend und tiefgehend ist die Entwicklung, dass sie rückblickend überrascht – die kleinen, stetigen Schritte dahin meist weniger. Ähnlich wie die Hand im sich erhitzenden Kochtopf, ist es erst der Vergleich mit dem kalten Wasser (dem fiependem Modem von damals), der den Unterschied zeigt. Manche würden sagen: Wir haben uns bereits verbrannt und merken es nicht.
The Circle
In seinem Buch
The Circle wirft Dave Eggers den Leser in eine kochend-heiße Variante einer googleschen Distopie. ‚
The Circle is
Brave New World for our brave new world. Fast, witty and troubling‘ schreibt die
Washington Post. Im Buch gerät die Protagonistin Mae in die kalifornische Wunderwelt des Technologie-Startups ‚The Circle‘. Mit dem Mantra der totalen Transparenz führt das Unternehmen alle Informationsquellen zusammen und schafft neben einer sicheren und maximal optimierten Welt auch die allumfassende Überwachung. Es fällt nicht schwer zu ahnen, woher Eggers seine Inspiration nimmt: Der Klassiker
Schöne neue Welt von Aldous Huxley, auf den sich die
Washington Post bezieht, und die NSA-Affäre mit ihren freiwilligen
freiwilligen und
unfreiwilligen Helfern aus der Technologiebranche zeigen ihren Einschlag.
‚Das geht zu weit!‘ höre ich mich murmeln, während ich auf dem Weg in die Weihnachtsfeiertage die letzten Seiten lese. ‚Soweit darf es nie kommen, das dürfen wir nicht zulassen‘. Da ist sie, diese Gegenwehr gegen eine Zukunft, die einfach so gekommen ist und um die keiner gebeten hat. Oder gegen die sich zumindest niemand gewehrt hat, denn selbst während der Christmette trudeln still die digitalen Nachrichten herein, herein in die heilige Nacht.
Wer ist es also, der zulässt, dass selbst die
andächtigsten Momente durch die Technologie gestört werden? Wer lässt zu, dass wir uns mit Technologie umgeben, die uns ultimativ unglücklich macht? Diese Frage beschäftigt nicht nur Dave Eggers, sondern auch YouTube-Nutzer wie Charlene deGuzman. Das von ihr produzierte Video zeigt nicht nur eindrücklich die negativen Aspekte von Smartphones, sondern wurde vermutlich auch über eben jenes Medium massenhaft geteilt.
Laut Dave Eggers’ Roman sind Menschen wie Mae schuld und zugleich Opfer und Täter der Technologie. Verführt durch die Annehmlichkeit zusammengeführter Dienstleistungen und geblendet vom Heilsversprechen der neuen Technik wird Maes anfänglicher Traum wahr, bei ‚The Circle‘, einem kalifornischen Startup, erfolgreicher als seine einstigen Konkurrenten Google und Apple, zu arbeiten. Mae wird zum Leuchtturm unter den ‚The Circle‘-Mitarbeitern, indem sie die Mission von totaler Transparenz exemplarisch umsetzt und ihr Leben ununterbrochen filmt. Genauso schnell wie ihr neues Leben gekommen ist, lässt es Eggers im Buch getrieben durch die Technologie wieder auseinanderfallen.
Weite Kreise ziehen
Das Gefühl einer mehr oder weniger subtilen Bedrohung durch Technologien ist gut verständlich. Haben Computer und Laptops noch mehr als eine Dekade gebraucht, um ein Viertel der Menschheit zu erreichen, brauchten Smartphones
nur sieben Jahre. Tablets sind auf dem Weg, diesen Rekord zu knacken und die noch sehr jungen Wearables zeigen Anzeichen einer
noch rasanteren Adaptionsrate. Es ist nicht nur die Geschwindigkeit der Veränderung, die manchen Schwindel und anderen Übelkeit bereitet, es ist auch die Wucht des Eingriffs. Haben Laptops als Komplize des Internets ‚nur‘ unser Kauf- und Datingverhalten verändert, begleiten uns Smartphones ständig in der Hosentasche und Wearables direkt am Körper. Puls, Schlafverhalten, Bewegung: Die tragbaren Geräte messen alles mit und die dazugehörige Software bestimmt daraufhin die
Raumtemperatur, das
Auto, oder potentiell die Höhe der
Krankenkassenbeiträge.
„
Software is eating the world“, sagt
Ben Horowitz, der Übernerd des Technologienucleus Silicon Valley. Seine These ist Konsens und Grundlage der technologisch getriebenen Gründermentalität. Heutzutage formt sie zusammen mit Konnektivität und Hardware eben das Dreamteam, das Eggers in ‚The Circle‘ zum Albtraum werden lässt. Der Einfluss aber ist unbestritten – die Apps sollen Gewohnheiten verändern und tief in die Psychologie des Nutzers eindringen. Möglichst häufig, möglichst lange und am besten mit direkter Reaktion auf das Produkt. Lies! Klick! Kauf! Horowitz’ These trifft damit bei Technologiekritikern auf Konsens: Die Software isst die Welt – wir werden ihr zum Fraß vorgeworfen.
Die Punkte verbinden
Einer dieser Kritiker ist Susan Greenfield. Die Hirnforscherin warnt in ihrem Buch
Mind Change: How digital technologies are leaving their mark on our brains vor dem Einfluss der Technik auf unser Gehirn. Genauer warnt sie vor der Anfälligkeit unserer
neuronalen Plastizität – also der physischen Anpassungsfähigkeit unseres Gehirns an äußere Reize. Diese wird gezielt ausgenutzt, um beispielsweise durch externe Stimuli wie einer Pushnachricht und der dazugehörenden Vibration eine Reaktion zu erzeugen. Diese Reaktion soll Gewohnheit schaffen und ändert damit die Stuktur des Gehirns, so ihre Schlussfolgerung.
Um die gesellschaftlichen Auswirkungen von Technologie zu bemerken, muss man kein Wissenschaftler sein. Tim Urban hat das sehr unterhaltsam auf seinem Blog Wait But Why getan. Seine Analyse Why Generation-Y Yuppies are Unhappy zeigt die verzerrte Wahrnehmung durch soziale Medien und brachte dem etwas eigensinnigen Blog weltweite Aufmerksamkeit. Die starke Abnahme von Einfühlungsvermögen und Zunahme von Selbstbezogenheit unter College-Studenten im letzten Jahrzehnt ist jedoch auch den Akademikern nicht entgangen. Sinkende Aufmerksamkeitsspannen, Zappelkinder – der technologischen Entwicklung werden einige nachteilige Einflüsse vorgeworfen. Der Economist zeigt sich unbeeindruckt und führt an, dass die Brandbriefe vor Neurung so neu sei wie das Schreiben selbst – Platon hatte schon vergeblich vor dem Verlust der Gedächnisleistung durch das Schreiben gewarnt.
Eine hervorragende Möglichkeit also sich ausgiebig zu streiten. Das tun wir aber an anderer Stelle: Denn die Logik des Systems hat einen Fehler – sie zielt nicht auf unser Wohl.
Die Kanten abrunden
Wenn der Papst vor
sozialen Medien warnt, kommt das in etwa so überraschend wie der alljährliche Segensspruch Urbi et Orbi. Natürlich kann der Papst ebenfalls überzeugende Argumente haben, aber als Vertreter einer eher traditionellen Organisation kommt er damit erwartungsgemäß seiner Jobbeschreibung nach. Einer nicht profitorientierten Organisation, die in einer sozial-marktwirtschaftlich organisierten Gesellschaft immer mehr zum Exot zu werden droht. Die sozialen Innovationen des 19. Jahrhunderts – von Genossenschaften über Gewerkschaften zu Parteien – sie alle verlieren Mitglieder und Relevanz, ihre Funktion als Lagerfeuer der Gesellschaft schwindet. Das betrifft das
Kennenlernen, unsere Kommunikation und worüber wir uns selbst
definieren. In direkte Konkurrenz treten profitorientierte Institutionen wie Tinder, Facebook oder World of Warcraft. Sie alle verbinden Menschen und haben als Neulinge unter den Gesellschaft-schaffenden Institutionen ein weiteres klar verständliches Ziel: möglichst viel Profit.
Das klingt ziemlich fies und ist der Grund, warum es ein Kartellamt auf der einen und Verbraucherschutzrecht auf der anderen Seite gibt. Sie stutzen die Auswüchse regelmäßig zurück, damit Eigen- und Gemeinnutzen möglichst homogen sind. Funktioniert dieser Automatismus, sind Kunden frei in ihrer Wahl und unser Staat traut es uns zu, diese Entscheidung zu unserem persönlichen Vorteil zu treffen.
Einen Strich ziehen
Würde das System in sich geschlossen funktionieren, könnten sich also wenigstens die liberalen Zeitgenossen gemütlich zurücklehnen, in der Gewissheit auf die Entscheidungskompetenz ihrer Mitmenschen. Leider kommen aber die meisten Technologien gar nicht aus unserem Rechtsraum, das heißt, wir haben gar keinen Zugriff auf die Regulierung dieser Produkte, die uns so stark beeinflussen. Leider können wir die Entwicklung auch nicht einfach aufhalten, denn auch wenn wir nicht darum bitten, einer wird es entwickeln und ein anderer wird es nutzen. Und im internationalen Rahmen ist die Entwicklung zu schnell geworden, um rechtzeitig handlungsfähig zu sein.
Den Kreis schließen
David Eggers spricht in seinem Buch ominös von der ‚Schließung des Kreises‘, also dem ultimativen Unternehmensziel dieses fiktiven Unternehmens, das nicht zufällig ‚The Circle‘ heißt. Gegen Ende des Buches wird der Vorhang geöffnet und Eggers präsentiert die totale Transparenz als die Vollendung des Kreises. Was bei Brave New World neu und heute erschreckend zutreffend ist, wirkt bei Eggers erschöpft und fahrig. Bezeichnend ist auch das Ende der Protagonisten: Während Brave New World mit der letztmöglichen Selbstbestimmung des Menschen, nämlich dem Freitod endet, deutet Eggers die Kapitulation in die Willenlosigkeit an. Ein wahrlich deprimierendes Leseerlebnis.
Dabei deutet sich eine Entwicklung an, die so abstrakt, so schwer zu fassen ist, dass es schon einen sehr talentierten Blogger und viele Strichmännchen benötigt, um die Thematik zu erklären. Die Rede ist mal wieder von Tim Urban. Sein eindringlicher
Artikel beschäftigt sich mit lernenden Algorithmen und damit, welche Implikationen künstliche Intelligenz für unsere Gesellschaft hat. Er zeigt nicht nur auf, dass bereits teilintelligente Systeme eingesetzt werden, sondern dass der Zeitpunkt der Singularität, also der Überlegenheit künstlicher Intelligenz gegenüber der menschlichen, überraschend früh erreicht werden kann. Die Auswirkung einer solchen intelligenten Maschine übersteigt meine Vorstellungskraft und wirkt wie ein Orkan gegenüber der leichten Seebriese ‚totale Transparenz‘.
Wir werden also eine Lösung finden müssen für eine Technologie, die nicht nur ab und zu in meiner Tasche vibriert oder mir das sorgsam vorselektierte Leben meiner Mitmenschen präsentiert. Wir werden Lösungen finden müssen für eine Technologie, die intelligenter sein wird als wir.
Das führt zu einer simplen Frage: Welches Ziel sollen unsere Institutionen und selbstlernende intelligente Maschinen ultimativ verfolgen? Unsere aktuellen Institutionen bestehen aus Menschen und sind damit relativ fehlerrobust. Sie eignen sich also gut zum Üben. Sollten wir jedoch bis zum Zeitpunkt der Singularität nicht eine verdammt gute Antwort auf diese Frage gefunden haben, werden wir merken, dass das eben noch so angenehm warme Wasser auf einmal brühend heiß ist.