Seit 2011 verzeichnen die statistischen Untersuchungen des Heidelberger Instituts für Internationale Konfliktforschung neue Rekordwerte für die Zeit nach 1945 in den Kategorien ‚Krieg‘ und ‚hochgewaltsame Konflikte‘. Im Februar 2012 wurde der Vorsitzende des amerikanischen Generalstabs, Martin E. Dempsey, vor einem Komitee des Abgeordnetenhauses zu geplanten Kürzungen des Verteidigungsetats befragt. Er sagte: „In my personal military judgment, formed over 38 years, we are living in the most dangerous time in my lifetime right now, and I think sequestration would be completely oblivious to that, and counterproductive”. Hier kann man natürlich einwenden, dass dem armen Mann gar nichts anderes übrig bleibt, als ein Gefühl der ständigen Bedrohung aufrechtzuerhalten, möchte er nicht den Ast absägen, auf dem er sitzt. Aber gebe ich mich vielleicht Illusionen hin, wenn ich mir einrede, der Mann lüge wider besseren Wissens aus bloßem Eigennutz?
Wie passt es überhaupt zusammen, dass ich tagtäglich aufwache und schlafen gehe und dazwischen fast nie mit ernsthafter Gewalt konfrontiert bin, aber in der Welt, die ich über die Medien erfahre, die Apokalypse in vollem Gang zu sein scheint? Vielleicht verhält es sich so wie der Historiker James J. Sheehan 2008 in seinem informativen Essay Where Have All the Soldiers Gone? The Transformation of Modern Europe geschrieben hat: „Zu Beginn des 20. wie zu Beginn des 21. Jahrhunderts lebte ein relativ friedliches Europa in einer gefährlichen Welt voller Gewalt.“
Das gilt in einer globalisierten, kommunikativ vernetzten Welt, die sich uns hauptsächlich durch die Massenmedien erschließt, noch viel mehr als für Gesellschaften, die viel lokaler geprägt waren und noch schwarze Flecken auf ihrer Landkarte besaßen. Heute gibt es für die Menschheit kein Unbekanntes mehr, heute gibt es nur noch Unverständliches. Es gibt weltweit um die 190 Staaten, tausende Sprachen und Kulturkreise und über 7 Milliarden Menschen. Das kann man sich natürlich überhaupt nicht vorstellen. So ist es eigentlich kein Wunder, dass wir uns Geschichten erzählen. Aber ziemlich häufig vergessen wir, dass es nur Geschichten sind und verwechseln sie mit der Wirklichkeit. Haben wir uns besonders schöne, detailfreudige Geschichten angeeignet, vergessen wir gerne mal unsere unendliche Beschränktheit, unsere Scheuklappen, die wir nicht ablegen können.
Wenn ich über den menschlichen Zustand nachdenke, muss ich manchmal an den Ausdruck des ‚In-die-Welt-Geworfenseins‘ von Martin Heidegger denken. Man wird nicht behutsam nach und nach mit dem Leben vertraut gemacht, nachdem man sich für das Sein entschieden hat, sondern man wird ungefragt mit einem Tritt in die Welt geworfen und dann sitzt man da mit seinen aufgerissenen Augen und schaut sich um, hört, tastet und schmeckt. Man kann nicht sprechen oder denken, aber wundern und ängstigen, und das tut man auch. Könnte man eine Frage formulieren so wäre es gewiss: Was um alles in der Welt geht hier vor sich? Im Aufwachsen legen wir diese Verwunderung über die Seltsamkeit der Welt häufig ab, weil wir uns einfach daran gewöhnen. Aber nur weil wir uns gewöhnen, ist die Welt und das Leben nicht weniger seltsam geworden. Es ist schön, wenn Menschen diese Verwunderung über die Welt im Erwachsenenalter wiedergewinnen, wenn die Wirklichkeit ihre Seltsamkeit und Faszination zurückerhält. Am Anfang dieser Entwicklung steht häufig ein Zweifel am eigenen Wissen, an der eigenen Deutung von Welt, an den Geschichten, die man sich bisher erzählt hat. Der Zweifel kann einen davon befreien, die Dinge nur auf eine Art und Weise betrachten zu müssen. Er erlaubt einem, sich kritisch gegen all jene zu Wehr zu setzen, die behaupten, ihre Geschichten seien keine Geschichten, sondern die Wirklichkeit. Deswegen zu resignieren und die Sinnlosigkeit jeder Wahrheitssuche zum Glaubenssatz zu erheben wäre allerdings ein Kurzschluss. Ich liebe die Neugier und ich bin dafür, dass wir alle weiterhin so gut wie möglich daran scheitern, die Frage zu beantworten, in was für einer Welt wir eigentlich leben. Ich bin ein Freund von Geschichten und wir sollten uns über sie unterhalten und uns über ihre Güte streiten. Aber wir sollten den Zweifel wach halten und die eigene Beschränktheit nie vergessen.
Sind die weltweiten Proteste 2003 gegen den Irakkrieg ein Symbol für die zunehmende Illegitmität von Gewalt? (William M. Connolley – CC BY-SA 3.0) |
Hier möchte ich ein wenig über Geschichten nachdenken, die davon handeln, ob wir heute in einer besonders gewalttätigen oder friedlichen Welt leben. Es kursieren viele verschiedene Versionen dieser Geschichte in Wissenschaft, Politik und Medien. Im Folgenden möchte ich vier repräsentative Geschichten vorstellen und einige interessante, diskussionswürdige Aspekte beleuchten, die das Fundament zeitgenössischer Weltdeutung betreffen. Ich denke, es gibt drei näher zu bestimmende Dimensionen, die für die Frage nach der Gewalttätigkeit unserer Gegenwart eine Rolle spielen:
Die erste betrifft die Identität menschlicher Kollektive. Wenn ich frage, ob wir in einer gewalttätigen Welt leben, ist es notwendig, über das ‚wir‘ zu reflektieren: Rede ich von uns – also von dir, dem Leser, und mir, dem Autor? Oder sind ‚wir‘ meine Familie und Freunde? Oder meine ich mit ‚wir‘ die Berliner, die Deutschen, die Europäer, den Westen, das Abendland? Oder sind wir die Menschheit? Zu Anfang habe ich ja bereits gesagt, dass die Untersuchungsgegenstände immer komplexer werden, je weiter man den Blick schweifen lässt. So gesehen wäre die Frage am leichtesten zu beantworten, wenn das ‚wir‘ der königliche Plural wäre und ich eigentlich nur von mir sprechen würde. Die Antwort wäre in zwei Sätzen gegeben: Nein, ich lebe nicht in einer gewalttätigen Welt. Meine Welt, meine Umgebung, mein Leben war und ist bisher glücklicherweise sehr arm an Gewalt. Aber das ist zweifelsohne für ein größeres Publikum nicht von Belang. Ich möchte hier direkt bekennen, dass ich den größten Reiz darin sehe, die Menschheit als Bezugsgröße zu nehmen. Ich verspüre eine gewisse Abneigung gegenüber allen kleinteiligeren Einheiten von Nationen und Kulturen, die immer mit einer Ausgrenzung des Fremden und Anderen einhergehen. Aber in den Geschichten, um die es im Folgenden geht, spielt es eine wichtige Rolle, wie das ‚wir‘ implizit oder explizit gedacht wird. Viele Kontroversen betreffen genau die Frage, wo die Autoren das ‚wir‘ aufhören lassen, wen sie zu ihrer Bezugsgröße dazugehören lassen und wen nicht. Man kann schon erahnen, dass in dieser Frage jede Menge Zündstoff liegt.
Die zweite Dimension betrifft die Zeitlichkeit der Geschichten. Wann lassen die Autoren ihre Geschichten beginnen? Wenn man fragt, ob wir heutzutage in einer friedlichen Welt leben, meint man ja zumeist nicht den genauen Zeitpunkt, an dem die Frage gestellt wird, sondern man redet eigentlich von einem Zeithorizont, der viel unpräziser ist. Die Wahl des Anfangs der Geschichte beeinflusst maßgeblich die Art der Geschichte und die daraus resultierenden Antworten. Im Grunde geht es bei dieser Dimension auch um eine Variante der Identitätsfrage: Welcher Zeitraum ist noch Teil meiner Gegenwart? Und welche Zeiträume gelten meinem persönlichen ‚heutzutage‘ als Kontrastfolie? Das sollte man im Hinterkopf behalten wenn im Folgenden manche Geschichten in der prähistorischen Jäger-und-Sammler-Zeit beginnen und andere im 18. Jahrhundert, wiederum andere nach 1945. Konzepte der Moderne sind dabei genauso wichtig wie Selbstverortungen im Zeitalter der Aufklärung.
Die dritte Dimension ist vermutlich die am schwierigsten zu klärende: Was eigentlich ist Gewalt? Eine einfache und klare Antwort darf man hier nicht erwarten. Bei Soziologen und Historikern gibt es mehrere konkurrierende Theorieangebote, die man grob als enge oder weite Gewaltbegriffe klassifizieren kann. Ein weites Verständnis von Gewalt hat beispielsweise Johan Galtung in den 1970er Jahren mit seinem Begriff der ‚strukturellen Gewalt‘ eingeführt: „Gewalt liegt dann vor, wenn Menschen so beeinflußt werden, daß ihre aktuelle somatische und geistige Verwirklichung geringer ist als ihre potentielle Verwirklichung.“ Diese Beschreibung wurde in der aktuellen Gewaltforschung vermehrt dafür kritisiert, zu schwammig zu sein und zu viele Phänomene unter sich zu subsumieren. Jörg Baberowski behauptet gar, dass das Konzept gar nicht von Gewalt spreche: „Denn wo Gewalt ausgeübt wird, gibt es Täter und Opfer. Die strukturelle Gewalt dagegen ist eine Variante sozialer Ungleichheit, die keinen Täter kennt. Deshalb sollte, wer soziale Ungleichheit beklagt, nicht von Gewalt sprechen. Eine Ungerechtigkeit ist keine Gewalt, wenngleich man sie als schmerzhaft empfinden kann.“ Dem entgegengesetzt hat sich vermehrt in Anlehnung an Heinrich Popitz ein enger Gewaltbegriff in der Forschung etabliert. Er verstand unter Gewalt „eine Machtaktion, die zur absichtlichen körperlichen Verletzung anderer führt“. Manche der Geschichten, die von der Gewalt handeln, folgen diesem engeren Gewaltbegriff, der besonders die Körperlichkeit von Gewalt betont. Dann steht die Verbreitung von Gewalt in alltäglicher Interaktion und in Kriegen im Fokus der Geschichten. Manche Autoren bestehen allerdings darauf, dass Gewalt abstrakter gedacht werden muss als ausschließlich in der Form direkter körperlicher Gewalt. Wenn beispielsweise Staaten entstehen und ihr Gewaltmonopol nach und nach durchsetzen, ist das oft ein gewaltsamer Prozess, der aber nicht in Kategorien von Mord- oder Kriegsopfern gedacht und gemessen werden kann. Im Folgenden wird hoffentlich deutlich werden, welchen Einfluss die Definition von Gewalt auf die Art der Geschichten hat, die erzählt werden.
Zivilisationstheorie
Norbert Elias (Rob Bogaerts – CC BY-SA 3.0 NL) |
Die erste Geschichte stammt von dem Soziologen Norbert Elias. Sein Hauptwerk Über den Prozeß der Zivilisation ist in mehrfacher Hinsicht ein bemerkenswertes Buch. Elias beschäftigt sich im Jahre 1939 als deutscher Jude mit dem Prozess der Zivilisation. Er will also eine Erklärung für die Verhaltensweisen des modernen Menschen finden. Nach der Erfahrung des Ersten Weltkriegs und angesichts des Aufstiegs des Faschismus in Europa von zivilisiertem Verhalten zu sprechen leuchtet intuitiv zunächst nicht ein. Es scheint daher auch verständlich, dass das Buch zunächst praktisch keine Rezeption erfahren hat. Aber als in den 1970er Jahren ein erhöhtes Interesse an Fortschritts- und Modernisierungstheorien aufkam, wurde die Zivilisationstheorie von Elias breit diskutiert. Die zweite Besonderheit des Buches ist, dass es eigentlich gar nicht von der Moderne handelt, sondern das Spätmittelalter und die frühe Neuzeit thematisiert. Elias expliziert nämlich die Gedankenfigur, dass sich in der Zeit vom 12. bis zum 18. Jahrhundert das menschliche Verhalten in den europäischen Gesellschaften zunehmend rationalisiert habe. Damit ist gemeint, dass man das eigene Handeln genauer plante und reflektierte und die eigenen Triebe und Affekte verstärkt zu unterdrücken oder zu kontrollieren suchte, weil die Scham- und Peinlichkeitsschwellen angestiegen seien. Ausgangspunkt von Elias’ Untersuchung sind dabei aristokratische Höfe, wobei die Idee ist, dass sich die Verhaltensweisen der adeligen Schichten über das Bürgertum zuletzt auch in die unteren Schichten ausgebreitet haben. Diesen Prozess untersucht er beispielsweise an der Veränderung der Tischsitten, dem wachsenden Bedürfnis nach Intimität und dem Wandel des gesellschaftlichen Umgangs mit Gewalt. Diesen Entwicklungstrend beschrieb Elias als den Übergang vom „Fremdzwang“ zum „Selbstzwang“. Zur gleichen Zeit wuchs die soziale Funktionsteilung und Differenzierung der Gesellschaften, wobei sich kleinere soziale Einheiten zu größeren zusammenschlossen und die Macht weiter monopolisiert wurde. Dem Staat kommt in Elias’ Zivilisationsmechanismus eine zentrale Bedeutung zu. Als Kontrastfolie für die Zivilisation dient das Mittelalter, welches als besonders gewalttätig und triebgesteuert beschrieben wird. Man kann vereinfacht sagen, dass Elias eine Fortschrittsgeschichte der europäischen Gesellschaften liefert, in der verschiedene Prozesse und historische Konstellationen dazu führen, dass der Mensch in der Moderne sittlicher und friedlicher geworden ist. Dementsprechend sind die Gewaltexzesse des 20. Jahrhunderts in dieser Darstellung nur als ‚Regression zur Barbarei‘ zu beschreiben, als ‚Zivilisationsbruch‘, wie es der Historiker Dan Diner formuliert hat.
Steven Pinker (Rebecca Goldstein – CC BY-SA 3.0 NL) |
Die Geschichte der Gewalt in der Moderne wird auch heute noch im Modus der Zivilisationstheorie geschrieben. Ein sehr radikales Beispiel ist hier das 2011 erschienene Buch The Better Angels of Our Nature. Why Violence Has Declined des amerikanischen Psychologen Steven Pinker. So wie bei Elias werden in diesem Buch die positiven Effekte der westlichen Moderne für die Einhegung von Gewalt betont. Pinkers Untersuchungszeitraum reicht von der Zeit der prähistorischen ‚Jäger und Sammler‘-Gesellschaften bis ins 21. Jahrhundert. In dem Buch wird die Entwicklung von Gewalt in Form von Tabellen, Grafiken und statistischen Analysen erläutert. Pinkers Ergebnissen zufolge leben wir heute vermutlich „in der friedlichsten Epoche […], seit unsere Spezies existiert.“ Dabei bezieht sich das Buch in der Untersuchung von Gewalt hauptsächlich auf Tötungsakte – vom Mord bis zum Genozid. Das gesamte Buch ist darauf ausgelegt, vermeintlich irrige Ansichten über die Menschheit und die Verfassung der Gegenwart zu revidieren. Pinker hält es etwa für ein Klischee, dass das 20. Jahrhundert das blutigste der Menschheitsgeschichte gewesen sei. Grundlegend für die Argumentation des Buches ist, dass die Quantität von Gewaltakten über die Jahrhunderte vergleichbar gemacht wird, indem sie in Relation zur Gesamtbevölkerung gesetzt wird. Demnach sei es nicht die absolute, sondern die relative Zahl an Tötungsdelikten, die zeigt, wie gewalttätig eine Gesellschaft ist. Pinkers Kontrastfolie für die Moderne ist hier nicht nur das Mittelalter wie bei Elias, sondern allgemeiner vorstaatliche Gesellschaften. Er arbeitet dafür mit archäologischen und ethnographisch-anthropologischen Datenreihen. Viele dieser Daten stammen aus der Arbeit von Lawrence H. Keeley, der 1996 in seinem Buch War Before Civilization: the Myth of the Peaceful Savage den Mythos des ‚friedlichen Wilden‘ zu widerlegen suchte. Vorstaatliche Gesellschaften müsse man sich nicht als friedliebend und genügsam vorstellen, sondern die erstaunlich hohe Zahl an Todesopfern durch Gewaltakte in diesen Gruppen anerkennen.
Bis hierher sollten zwei Aspekte deutlich geworden sein. Zum einen wird bei Elias und Pinker ein relativ positives Bild der eigenen Zivilisation im Sinne einer Fortschrittsgeschichte geschrieben. Diese eigene Zivilisation ist dabei das, was in der Alltagssprache ‚der Westen‘ oder veraltet ‚das Abendland‘ genannt wird. Zum anderen benötigen beide Geschichten Gegenpole zu ihrer Darstellung der Zivilisation. Elias’ Fokus liegt auf der eigenen Vormoderne ‚des Westens‘, dem Mittelalter. Bei Pinker können es auch Jäger-und-Sammler-Gesellschaften aus prähistorischer Zeit oder zeitgenössische Völker aus den Regenwäldern Perus oder Papua-Neuguineas sein. Um die oben beschriebenen drei Dimensionen der Gewaltfrage wieder ins Spiel zu bringen, gilt es festzuhalten, dass diese Geschichten das ‚Wir‘ räumlich und zeitlich bei Gesellschaften enden lassen, die nicht zum ‚Westen‘ gehören. Der Begriff ist durchaus problematisch, aber meistens wird bei seinem Gebrauch auf die politischen, ökonomischen und kulturellen Veränderungen europäischer Gesellschaften seit Mitte des 18. Jahrhunderts Bezug genommen: Schlagworte sind der moderne Staat, die industrielle Revolution oder die Werte der Aufklärung. Als nächstes möchte ich Geschichten anderer Autoren vorstellen, die ein anderes Narrativ als das der Zivilisationstheorie entworfen haben.
Die Ambivalenz der Moderne
Zygmunt Bauman (Mariusz Kubik – CC BY-SA 3.0) |
Zygmunt Baumans einflussreiche Arbeiten Moderne und Ambivalenz und Dialektik der Ordnung. Die Moderne und der Holocaust können als Gegenentwurf zur Zivilisationstheorie gelesen werden. Für ihn zeichnet sich das Projekt der Moderne durch den (unmöglichen) Versuch aus, Ordnung zu schaffen: „Die typisch moderne Praxis, die Substanz moderner Politik, des modernen Intellekts, des modernen Lebens, ist die Anstrengung, Ambivalenz auszulöschen […]. Intoleranz ist deshalb die natürliche Neigung der modernen Praxis.“ Durch den Versuch, Eindeutigkeit in die natürliche und die soziale Welt zu bringen, schaffte die Moderne immer wieder neue Ambivalenzen, die sie dann wiederrum – auch gewaltsam – zu bekämpfen suchte. Eine entscheidende Rolle nimmt auch hier der moderne Staat ein, den Bauman jedoch nicht als zivilisierende Institution, sondern mit der Metapher des Gärtners charakterisiert, der die nützlichen Pflanzen hegt und pflegt und das Unkraut herausreißt und vernichtet. Eine seiner zentralen Thesen ist, dass der Holocaust als ein modernes Ereignis zu verstehen ist und Versuche, das Massenmorden als ‚Zivilisationsbruch‘ oder ‚Rückfall in die Barbarei‘ zu charakterisieren, verfehlt seien: „Der Holocaust wurde inmitten der modernen, rationalen Gesellschaft konzipiert und durchgeführt, in einer hochentwickelten Zivilisation und im Umfeld außergewöhnlicher kultureller Leistungen; er muß daher als Problem dieser Gesellschaft, Zivilisation und Kultur betrachtet werden.“
Eine weitere Gegenposition zu den zivilisationstheoretischen Thesen nimmt Bauman ein, wenn es darum geht ob man überhaupt von mehr oder weniger Gewalt im Verlauf der Geschichte reden kann. Denn die Frage, was unter den Begriff der Gewalt subsumiert wird, sei selbst umstritten und entscheide sich im Kampf um die „Definition legitimer Praxis“. Diese Differenzierung, die zwischen legitimer und illegitimer Gewalt unterscheidet, verändert das Bild einer in Zahlenreihen ausdrückbaren Menge von Gewalt. Auch die gewaltsame Durchsetzung des Gewaltmonopols müsste demnach in eine quantifizierbare Größe gebracht werden, damit man das Gesamtvolumen von Gewalt objektiv messen könne. Da dies nicht möglich sei, könne man nicht in sinnvoller Weise von der modernen Geschichte als einer Geschichte zunehmender oder abnehmender Gewalt sprechen. Der Unterschied zwischen legitimer und illegitimer Gewalt bestünde demnach nur darin, dass „die eine Zwangskategorie […] nun ‚Durchsetzung von Recht und Ordnung‘ genannt [wird], während das häßliche Wort ‚Gewalt‘ allein der zweiten Kategorie reserviert bleibt.“ Im Grunde geht es Bauman darum, eine ähnliche Geschichte zu erzählen wie Theodor Adorno und Max Horkheimer in ihrer Dialektik der Aufklärung: Das, was gemeinhin als Errungenschaften des Westens, der Aufklärung oder der Zivilisation gelten, sind bei näherer Betrachtung keineswegs gewaltlose Prozesse gewesen. Die Moderne sei selbst fundamental gewaltförmig und in keinem Falle unschuldig in der Gewaltgeschichte der letzten Jahrhunderte. Damit seien alle Versuche, die Gewalt als etwas der Moderne Fremdes zu beschreiben, das sporadisch wie von außen in ihre Gesellschaften einfällt, verfehlt.
Pankaj Mishra (On Being, Flickr – CC BY-NC-SA 2.0) |
Auch zu diesem Narrativ sei eine zweite Variante genannt. In seinem 2014 im Guardian veröffentlichten Essay The western model is broken will der indische Schriftsteller Pankaj Mishra das Verhältnis des Westens zum Rest der Welt erläutern. Dabei ist seine Ausgangsfrage: „The west has lost the power to shape the world in its own image – as recent events, from Ukraine to Iraq, make all too clear. So why does it still preach the pernicious myth that every society must evolve along western lines?” Der Autor fragt sich, warum der Westen denke, dass andere Nationen mit eigener Geschichte unter völlig anderen Bedingungen die gleiche Entwicklung durchlaufen sollten wie die europäischen Staaten des 19. Jahrhunderts, wenn ihnen allen bekannt ist, was dann im 20. Jahrhundert darauf folgte. Außerdem glaube der Westen, dass das 20. Jahrhundert durch den Konflikt zwischen liberalen Demokratien und totalitären Ideologien wie Faschismus und Kommunismus geprägt gewesen sei: „Their obsession with a largely intra-western dispute obscured the fact that the most significant event of the 20th century was decolonisation, and the emergence of new nation-states across Asia and Africa. They barely registered the fact that liberal democracies were experienced as ruthlessly imperialist by their colonial subjects.” Bei Mishra ist die Geschichte des Westens ebenfalls eine der Ambivalenz, in der Gewalt nach außen und nach innen eine wichtige Rolle spielt: „…obscuring the monstrous costs of the west’s own ‘progess’ destroys any possibility of explaining the proliferation of large-scale violence in the world today, let along finding a way to contain it.” Hier erscheint die Gewalt in Form von Kolonisierung, Entwurzelung und Krieg als eine Art Kostenfaktor für die Entwicklung von modernen Gesellschaften, die einer Fortschrittgeschichte im Sinne der Zivilisationstheorie entgegensteht. Alle Geschichten, die in diese Richtung weisen, hält der Autor für fundamental falsch: „As late as 2008, Fareed Zakaria declared in his much-cited book, The Post-American World, that ‘the rise of the rest is a consequence of American ideas and actions’ and that ‘the world is going America’s way’, with countries ‘becoming more open, market-friendly and democratic’. […] One event after another in recent months has cruelly exposed such facile narratives. China, though market-friendly, looks further from democracy than before. The experiment with free-market capitalism in Russia has entrenched a kleptocratic regime with a messianic belief in Russian supremacism. Authoritarian leaders, anti-democratic backlashes and rightwing extremism define the politics of even such ostensibly democratic countries as India, Israel, Sri Lanka, Thailand and Turkey.”
Auch hier ist der Blick auf die drei erwähnten Dimensionen der Gewaltfrage aufschlussreich. Zygmunt Baumans untersuchte Kollektiveinheit ist – wie bei Elias und Pinker – die moderne, westliche Gesellschaft. Sein zeitlicher Fokus liegt jedoch auf dem 20. Jahrhundert. Sein Begriff von Gewalt ist weniger klar definiert als derjenige von Pinker und bemüht sich eher um die Beschreibung qualitativer Veränderungen von Gewalt im geschichtlichen Verlauf. Bei Pankraj kommt hinsichtlich der Bezugsgrößen eine neue Perspektive ins Spiel. Er spricht scheinbar von einer Außenperspektive aus über ‚den Westen‘, wobei nicht ganz klar ist, ob oder welches ‚wir‘ er repräsentiert, das sich offenbar nur dadurch definiert, nicht ‚der Westen‘ zu sein. Sein zeitlicher Fokus ist viel stärker auf gegenwärtige Weltpolitik gerichtet, wobei er jedoch auch durchweg historisch argumentiert. Sein Begriff von Gewalt und seine Einschätzung, ob es heute mehr oder weniger Gewalt gibt als früher, bleiben ungewiss, aber Zwischenüberschriften wie ‚A world in flames‘ legen nahe, dass er von einer friedlichen Welt nicht sprechen würde.
Hoffnung auf Versöhnung?
Das Ziel dieses Essays ist nicht eine erschöpfende Diskussion und Würdigung der vier oben erwähnten Autoren. Ich wollte vielmehr zwei Erzählstrukturen verdeutlichen, die sehr verbreitet sind und als Pole zeitgenössischer Weltdeutung gesehen werden können. Auf der einen Seite standen Norbert Elias und Steven Pinker mit der Zivilisationstheorie, die einen Fortschritt in der westlichen Moderne erkennen. Auf der anderen Seite standen Zygmunt Bauman und Pankaj Mishra mit ihrer Kritik der westlichen Moderne.
Wie unterscheiden sich mögliche Antworten auf die Frage, ob unsere Zeit besonders gewalttätig ist? Elias und Pinkers Antwort könnte sein: Wir leben vielleicht nicht im Paradies, aber im quantitativen und qualitativen Vergleich wäre es verfehlt zu sagen, dass wir in besonders gewalttätigen Zeiten leben. In seinem Buch betont Pinker: „The forces of modernity – reason, science, humanism, individual rights – have not, of course, pushed steadily in one direction; nor will they ever bring about a utopia or end the frictions and hurts that come with being human. But on top of all the benefits that modernity has brought us in health, experience, and knowledge, we can add its role in the reduction of violence.“
Bauman wiederum hält die Frage überhaupt nicht für sinnvoll. Ihn interessieren die Transformationen der Gewalt in der Moderne und für ihn ist die Gegenwart primär durch Flüchtigkeit und Unsicherheit geprägt: „Der Begriff ‚Fortschritt‘, einst die extremste Ausdrucksform eines radikalen Optimismus und das Versprechen universell geteilten, dauerhaften Glücks, ist mittlerweile am dystopischen, fatalistischen Gegenpol unseres Erwartungshorizonts angekommen. Jetzt steht er für die Bedrohung durch unablässige, unausweichliche Veränderung, die statt Ruhe und Frieden nichts als Dauerkrisen und Anspannung verheißt und uns keine Pause gönnt.“
Pankaj Mishra setzt gleichsam implizit voraus, dass die Welt durch die Allgegenwärtigkeit von Krisen, Gewalt und Konflikt geprägt ist. Dabei wendet er sich besonders gegen die Vorstellung, dass alle Nationen einfach den Weg des Westens beschreiten müssten, um zu Wohlstand und Frieden zu gelangen. Er sieht zahlreiche rassistische und politische Konflikte weltweit gerade durch den Glauben an die Machbarkeit von gewaltfreier Modernität begründet: „If they [western Elites] had indeed risked engaging with complexity and contradiction, they would have found that the urge to be a wealthy and powerful nation-state along western lines initially ordered and then disordered first Russia, Germany and Japan, and then, in our own time, plunged a vast swath of the postcolonial world into bloody conflict.” Der Westen ist bei Mishra erstaunlicherweise in erster Linie durch amerikanische Intellektuelle repräsentiert, die man gemeinhin als Neocons bezeichnet, während die Kritiker des Westens im Westen seltsamerweise nicht zum Westen gehören.
Die Vorwürfe, die sich Vertreter beider Positionen typischerweise an den Kopf werfen, lauten häufig ähnlich: Autoren, die im Modus der Zivilisationstheorie schreiben, werfen ihren Kontrahenten zwanghaften Pessimismus vor. Besonders in der westlichen Linken sei eine Realitätsverzerrung zu bemerken, die sich darin äußere, dass der Westen für alle Übel der Welt verantwortlich sei und ohnehin alles auf kurz oder lang den Bach runterginge. Alle positiven Entwicklungen in der Weltgeschichte würden ausgeblendet. Oft werden dann noch Vermutungen angestellt, dass diese Verzerrungen das Ergebnis eines übertriebenen Schuldempfindens seien, das aus der kolonialen Vergangenheit rührt und zu der Behauptung führe, dass auch heute die dritte Welt noch durch den Westen in Armut und Gewalt gehalten werde.
Die modernekritischen Autoren wiederum werfen den Zivilisationstheoretikern eine Blindheit für die eigene gewaltvolle Vergangenheit vor. In ihrem ethnozentrischen Weltbild sei es ihnen nicht möglich, sich in die Lage der nicht-westlichen Länder hineinzuversetzen und daher würden sie nicht verstehen, warum nicht überall und am besten vorgestern stabile Staaten, liberale Demokratien und freie Märkte aus dem Boden sprießten. Der Glaube an den Fortschritt und die Ausbreitung der westlichen Werte habe außerdem einen teleologischen und bedrohlichen Charakter, weil mit ihm der Wille zur Missionierung einhergehe. Das würde man an den imperialen Kriegen der USA oder den neoliberalen Machenschaften von IWF und Weltbank sehen.
Ich möchte hier keine der Geschichten als richtig oder falsch darstellen. Ich denke, alle genannten Autoren haben valide und interessante Punkte, die es Wert sind, näher betrachtet zu werden. Mein Problem besteht eher in der Terminologie und dem Modus ihrer Geschichten. Meines Erachtens ist die Rede vom ‚Westen‘ in der Gegenwart obsolet geworden. Das Weltbild viel zu vieler Menschen ist noch durch die Unterscheidung von ‚the West and the Rest‘ geprägt.
Hans Rosling (Gates Foundation, Flickr – CC BY-NC-ND 2.0) |
Es ist symptomatisch, dass Mishra dieses Zitat anführt und gleichzeitig den Westen als Feindbild konstruiert. Hätte er Geertz beherzigt, wäre die Unterscheidung von Ost und West überflüssig geworden. Auf die Frage, ob wir uns jetzt also nur noch häppchenweise mit Detailfragen beschäftigen sollten und auf jede Synthese verzichten müssen, antwortet Geertz so: „Some general notions, new or reconditioned, must be constructed if we are to penetrate the dazzle of the new heterogeneity and say something useful about its forms and its future.” Es ist demnach an uns, andere Kategorien und Konzepte zu entwickeln, um uns mit zeitgemäßen Geschichten die Welt anschaulich zu machen.
Die Frage, ob wir in einer besonders gewalttätigen oder friedlichen Welt leben, ist hier leider auch nicht beantwortet worden. Vielleicht ist sie auch gar nicht eindeutig zu beantworten. Aber manche Geschichten, die heutzutage über unsere Welt kursieren, bedürfen einer gründlichen inhaltlichen und begrifflichen Revision, damit eine globale Verständigung darüber möglich wird, in was für einer Welt wir leben und besonders, in was für einer Welt wir leben wollen.
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