Truth to power? Jörg Baberowskis Beitrag zur Flüchtlingsdebatte

Der britische Historiker Tony Judt hielt 2006 einen Vortrag an der New York University mit dem Titel Disturbing the Peace: Intellectuals and Universities in an Illiberal Age. Darin reflektierte er über die Rolle des Intellektuellen und seine Stellung in der Gesellschaft. Er differenzierte zwischen verschiedenen Typen von Intellektuellen, wobei sein Fokus auf dem Universitätsprofessor lag. Aufgrund ihrer besonderen gesellschaftlichen Stellung hätten akademische Intellektuelle „a sort of unique side privilege. We are free to speak out. We are free to say unfashionable things, unpopular things, untimely things. And we are much less likely than most other people in our society to be hushed up.” Aus dieser Position ergebe sich eine Pflicht, unbequeme Wahrheiten auszusprechen, ohne Rücksicht auf die eigene Popularität.

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Apokalypse oder Weltfrieden? Geschichten der Gewalt im 21. Jahrhundert

Seit 2011 verzeichnen die statistischen Untersuchungen des Heidelberger Instituts für Internationale Konfliktforschung neue Rekordwerte für die Zeit nach 1945 in den Kategorien ‚Krieg‘ und ‚hochgewaltsame Konflikte‘. Im Februar 2012 wurde der Vorsitzende des amerikanischen Generalstabs, Martin E. Dempsey, vor einem Komitee des Abgeordnetenhauses zu geplanten Kürzungen des Verteidigungsetats befragt. Er sagte: „In my personal military judgment, formed over 38 years, we are living in the most dangerous time in my lifetime right now, and I think sequestration would be completely oblivious to that, and counterproductive”. Hier kann man natürlich einwenden, dass dem armen Mann gar nichts anderes übrig bleibt, als ein Gefühl der ständigen Bedrohung aufrechtzuerhalten, möchte er nicht den Ast absägen, auf dem er sitzt. Aber gebe ich mich vielleicht Illusionen hin, wenn ich mir einrede, der Mann lüge wider besseren Wissens aus bloßem Eigennutz?

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Der Feind, liebe Linke, steht rechts

Gut, ich gebe es zu: Ich habe die Linken auf dem Kieker. Das liegt allerdings nur daran, dass ich selbst ein Linker bin. Ich will, dass alle Menschen frei und gleich werden. Ich will, dass die Welt besser und gerechter wird. Ich will, dass Rassismus, Sexismus und Nationalismus aus der Welt verschwinden, lieber gestern als morgen. Ich will, dass alle Menschen in Wohlstand leben können. Ich trage also auch das gute alte linke Bedürfnis mit mir herum, die Welt zu verändern. („Wir alle sind Atlanten und tragen die Welt auf den Schultern“, wie Erik gerade dichtete. Nunja, Ayn Rand nicht.) Wie viele meiner Freunde bestätigen können, bin ich auch mindestens so selbstgerecht wie die meisten Linken und habe außerdem einen ebenfalls typisch linken, nervtötenden Spaß daran, andere mit meinen politischen Ansichten zu belästigen. Eigentlich bin ich wahrlich ein Vollblutlinker.
Nun habe ich aber einige Probleme mit meinem Linkssein: Erstens werde ich nur selten als Linker wahrgenommen und anerkannt. Damit kann ich noch leben – ich behaupte einfach wacker weiter, dass ich dazugehöre. Zweitens aber finde ich zunehmend Ansichten und Aussagen von Linken, denen ich nicht nur nicht zustimmen kann, sondern denen ich ganz vehement widersprechen muss – und zwar gerade, weil ich links bin. Eine Einladung an junge Südeuropäer, in Deutschland eine Lehrstelle zu suchen, sei eine „Ohrfeige“ für die deutschen Jugendlichen, die, selbstverständlich, zuerst gefördert werden müssten, meint etwa Sahra Wagenknecht. Der Schweizer Sozialdemokrat Rudolf Strahm glaubt, Personenfreizügigkeit über nationale Grenzen hinweg sei ein „neoliberales und menschenverachtendes Konzept“. Oder nehmen wir die Forderung nach einer erneuerten nationalen „Grenzziehung gegenüber der sogenannten ‚Globalisierung’“, die der Soziologe Wolfgang Streeck erhebt. Und Paul Murphy von der Sozialistischen Partei Irlands, bis zur letzten Wahl Abgeordneter im Europäischen Parlament, befindet: „Gäbe es mehr europafeindliche Abgeordnete, ob von links oder rechts, würde das Parlament weniger Schaden anrichten.“

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Olli Schulz, Erik Hakopjan und das Ende der Ausländerfeindlichkeit

Der beste Zeitungsartikel, den ich in letzter Zeit lesen durfte, stammt von Barbara Hardinghaus und ist im Spiegel erschienen, Nr. 9 vom 24. Februar 2014. Er ist nur eine Seite lang, heißt „Justus, Leon, Paul. Erik“ und handelt von Olli Schulz – nicht dem Musiker Olli Schulz, sondern dem Fußballtrainer des Duvenstedter SV. Oliver Schulz ist ein leidenschaftlicher Fußballer, für Politik hat er sich eigentlich nie interessiert – und doch sieht man ihn auf dem Bild zum Artikel ziemlich bedröppelt dreinblickend auf einer Demonstration in Bad Segeberg stehen, hinter ihm hält jemand ein Schild hoch, auf dem „Bleiberecht für Fam. Hakopjan“ zu lesen ist. Es ist die erste Demonstration, auf der Schulz jemals war. Was ist da los?

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Konservatismus und Ambivalenz – Eine neue deutsche Möglichkeit

Eine Vorwarnung: Dieser Beitrag ist positiv und optimistisch. Damit der Schock nicht zu groß wird, beginne ich aber mit einer empörenden und traurigen Geschichte, wie gewohnt, nämlich der Geschichte über die Kofferträger von Schwäbisch Gmünd, die vor einigen Wochen durch die Medien ging. Sie geht so: Am Bahnhof von Schwäbisch Gmünd, einem erzkatholischen Städtchen in Baden-Württemberg, wird gebaut. Nun führt nur ein Metallsteg zu den Bahnsteigen, 54 Stufen rauf, 54 Stufen runter, ein großes Problem für Alte, Behinderte, für Leute mit zu schwerem Gepäck. Richard Arnold, CDU, Oberbürgermeister der Stadt, schwul, offen, engagiert, hatte eine Idee. Die Asylbewerber, die dank deutschem Asylrecht in einem Heim zusammengepfercht leben, wo sie kaum etwas zu tun haben, als jahrelang auf ihren Bescheid zu warten, könnten helfen. Das hat in Gmünd schon öfters funktioniert, Arnold kümmert sich schon länger um die Asylbewerber, versucht, sie am Gmünder Leben teilhaben zu lassen, zum Beispiel als Theaterdarsteller. Er bot ihnen deshalb an, am Bahnhof auszuhelfen; eine ganze Reihe der Asylbewerber meldete sich freiwillig. Sie wollten sich einbringen, mithelfen, in Kontakt kommen, sicher auch die Langeweile bekämpfen. Das einzige Problem war die Bezahlung, denn – again – dank deutschem Asylrecht darf den Asylbewerbern nur 1,05 Euro pro Stunde gezahlt werden. Dass das viel zu wenig ist, war allen Beteiligten klar; das Gesetz ändern kann aber nur die Bundespolitik. So blieb Arnold nur, den Reisenden zu empfehlen, beim Trinkgeld nicht knauserig zu sein.
 

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Zurück oder Zukunft?

Der jüngste EU-Gipfel eignete sich wiedermal nicht, um große Schlagzeilen zu generieren. Neben dem Streit um die Haushaltsmittel und einem Programm gegen die Jugendarbeitslosigkeit, das von vielen Seiten als unzureichend kritisiert wird, ist kaum etwas vorzuweisen. Stattdessen werden nationale Interessen verstärkt in den Vordergrund gestellt und eine aufgeklärte politische Diskussion über Sinn und Struktur einer stärkeren Union bleibt aus. Dabei sind die Probleme drängend und der Nationalstaat alleine scheint ihnen kaum gewachsen. Der EU droht eine ganze Generation verloren zu gehen, die durch Perspektivlosigkeit in die Opposition getrieben wird. Es wird Zeit, dass man ihre Proteste ernst nimmt.

Der fehlende Wille zur Integration

Dabei wäre es nur zu wichtig, dass die immer wieder angestoßene Diskussion über den weiteren Integrationsprozess am Leben gehalten wird: Andere Teilbereiche der Gesellschaft haben die nationalstaatlichen Grenzen längst hinter sich gelassen. Die wirtschaftliche Krise der letzten Jahre hat sich auch deswegen zu einer politischen Krise entwickelt, weil es keinen politischen Rahmen gibt, um die Entwicklungen der globalen und europäischen Wirtschaft zu bearbeiten.

Der Nationalstaat scheint vor diesem Hintergrund immer häufiger als ein zu enges Korsett für eine effiziente Politik. Längst wird ein großer Teil der deutschen Gesetze in Brüssel verabschiedet. Auch die Interventionen des Europäischen Gerichtshofes verdeutlichen, dass der Integrationsprozess die Souveränität der einzelnen Staaten längst beschnitten hat. Am deutlichsten erfahren das sicher die Menschen in den Ländern, die aktuell von der Troika überwachte Strukturreformen durchführen müssen – ob sie wollen oder nicht. Gleichzeitig drängen andere Player auf die Bühne der internationalen Politik, die das Selbstverständnis der europäischen Nationen langsam aber sicher in seine Schranken weisen. Mit dem wachsenden Selbstbewusstsein Chinas und Russlands erscheinen selbst Länder wie Deutschland immer kleiner – wer kann schon sagen, wie eine europäische Krisenpolitik in Zukunft aussehen könnte, wenn China und Indien den IWF dominieren?

Doch anstatt die Krise als einen Motor für weitere Schritte anzusehen, wird der Nationalstaat wieder vermehrt in den Vordergrund gestellt: Eurokritische Parteien gibt es in jedem Staat. Aber auch die aktuelle deutsche Regierung genießt ihre komfortable Position durch ihr politisches und wirtschaftliches Gewicht und sieht keine Notwendigkeit zur Veränderung der Entscheidungsprozesse innerhalb der EU. Gerade das Minimum an notwendiger Abstimmung zwischen den Staaten wird realisiert. Doch am Ende versucht jede Regierung, ihre Schäfchen ins Trockene zu bringen.

Probleme einer rückwärtsgewandten Politik

Ein entscheidender Punkt scheint in diesem Zusammenhang in den inneren Problemen der europäischen Staaten zu bestehen. Das in der Nachkriegszeit etablierte Modell der Parteiendemokratie hat mit sinkender Zustimmung zu kämpfen. Dafür ist nicht zuletzt das Modell der Wählermobilisierung über den Wohlfahrtsstaat verantwortlich. Über Jahrzehnte hinweg wurden den WählerInnen immer neue Leistungen versprochen, um sie für die eigene Partei an die Wahlurne zu rufen. Doch die steigenden Staatsschulden lassen vor dem Hintergrund der weltweiten wirtschaftlichen Verflechtungen und des demografischen Wandels immer mehr Zweifel am Fortbestand dieses Systems – zumindest in seiner jetzigen Form. Andererseits trauen sich ParteipolitikerInnen nicht, Leistungen zurückzunehmen oder eine ernsthafte Reform der Sicherungssysteme zur Diskussion zu stellen. Allein die Familienförderung in Deutschland umfasst 150 verschiedene Leistungen und der Dschungel an Steuergesetzen scheint weitestgehend unbekanntes Gebiet. Die Pflegereform wird immer wieder verschoben und die Lebensleistungsrente stellt für viele junge Menschen keine ausreichende Motivation für einen Urnengang dar.

Die Politik hat sich in eine vertrackte Situation manövriert. Um WählerInnen und Sozialstaat erhalten zu können, ist eine gute Wirtschaftspolitik nötig. Zur gleichen Zeit offenbaren sich genau hier die oben angerissenen Grenzen des nationalstaatlichen Horizonts: Wirtschaft – vor allem die Finanzmärkte – denkt und agiert längst global und selbst bei authentischem Kampfeswillen wird sie sich wohl nicht im nationalen Alleingang „an die Kette legen lassen”. Ein Ausweg wäre die Flucht nach vorn. Auch hier lauern viele Probleme und Risiken, doch es winkt auch ein neues Verständnis von Staatlichkeit mit neuen Freiheiten und Gestaltungsmöglichkeiten. Die andere Option ist der Weg zurück. Ein Großteil der WählerInnen und PolitikerInnen sind anscheinend nicht bereit, die aktuellen Denkmuster zumindest infrage zu stellen. Und so bietet sich auch der Rekurs auf die Nation an, um die Legitimität der eigenen Politiken sicherzustellen. In den Nachrichten begegnen einem daher auch immer häufiger diese Muster, die teilweise schon abgeschrieben wurden. So wird die europäische Integration von vielen Seiten in immer weitere Ferne gerückt, um auf Probleme zu reagieren, die innerhalb der Union womöglich sogar einfacher zu lösen wären.

Die Zukunft steht auf dem Spiel

Diese beiden Möglichkeiten prägen auch die politischen Landschaften Europas und treten dort am klarsten zutage, wo eine Entscheidung unausweichlich wird: In den krisengebeutelten Staaten Südeuropas und den kleineren Staaten, die längst realisiert haben, dass nur die EU ihnen auch zukünftig die Möglichkeit der Mitbestimmung bietet. Doch hier macht sich die mangelnde Identifikation mit der Union bemerkbar. Es ist kaum möglich Programme zur Bekämpfung der Jugendarbeitslosigkeit auf die Beine zu stellen, da PolitikerInnen und SteuerzahlerInnen nicht gewillt sind, Geld abzugeben.

Dabei steht viel auf dem Spiel. Gerade die Jugendarbeitslosigkeit zeigt, dass ein Umdenken erforderlich ist. Und nicht nur in Europa werden die Forderungen nach mehr Gestaltungsmöglichkeiten für die Zukunft und Rücksicht auf die Belange junger Menschen immer häufiger auf die Straßen getragen. Denn hier werden die Weichen für die Zukunft schon gestellt – die jungen Menschen, die keine Perspektiven sehen und die EU immer häufiger als Bösewicht oder Papiertiger erleben, sollen dieses Projekt einmal fortführen und tragen. Ihnen ist das Globale näher als den vorhergegangenen Generationen und sie haben (noch) keine Rentenversicherungen und Eigenheime und somit auch weniger zu verlieren.

Sicherlich ist jetzt keine blinde Reformwut gewünscht und in diesem Sinne muss von beiden Seiten Dialogbereitschaft bestehen. Aber ein entschiedener Schritt nach vorne muss getan werden. Und in diesem Sinne ist auch die Wahl zwischen zurück oder Zukunft keine wirkliche. Denn durch Politik lässt sich die Globalisierung längst nicht mehr aufhalten. So werden die Reformen früher oder später doch notwendig – es stellt sich dann nur die Frage, ob die Politik und ihre Projekte dann noch auf Menschen treffen, die ihnen ihr Vertrauen leihen. Es wäre für PolitikerInnen an der Zeit, dieses Neuland zu betreten – noch haben sie die Möglichkeit, seine Bewohner dabei mitzunehmen.

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