The Road Not Taken

Two roads diverge in a wood

Manchmal gabelt sich das Leben – und dann muss man sich entscheiden. Ob das jetzt der Beruf ist, für den man fünf Jahre studiert hat, ob es doch nochmal an die Uni geht oder ob das jetzt der Partner fürs Leben ist. Wer möchte schon am Ende reumütig zurückblicken und sich denken – hätte ich mich damals doch anders entschieden.

Um die Limbostange des Lebens noch ein bisschen tiefer zu hängen, kommen solche Entscheidungen natürlich gleich im halben Dutzend. Die Reaktion ist wohlvertraut, ist sie doch mit dem Paradoxon vergleichbar, bei extrem vielen Aufgaben gar nichts mehr zu tun: Entscheidungsverweigerung.
Es hilft alles nichts – die Entscheidung muss gefällt werden.

And I, I took the road less travelled by

Vielleicht haben die Amerikaner den Poeten Robert Frost deshalb als Nationalikone auserwählt, weil er sie kollektiv von diesem Entscheidungsdilemma befreit. Vielleicht auch, weil er mit einer Klarheit und Eindringlichkeit uramerikanische Werte zu vermitteln vermag wie kein Anderer. In seinem Gedicht The Road not Taken aus dem Mountain Interval schreibt er:

I shall be telling this with a sigh
Somewhere ages and ages hence:
Two roads diverged in a wood, and I –
I took the one less traveled by,
And that has made all the difference.

Man kann sich ihn gut vorstellen, wie er seufzend erzählt, dass er vor dieser Weggabelung stand und den riskanteren Weg wählte. Und genau diese eine Entscheidung, den weniger begangenen Weg zu wählen, hat den Unterschied gemacht. Er selbst, durch seine Entscheidung, machte den Unterschied.

Es ist eine Offenbarung, die besagt, dass du für dein eigenes Leben verantwortlich bist. Implizit begründet dieses Gedicht eine Entscheidungsschwere und Ergebniskompromisslosigkeit, die bis heute meist falsch gedeutet werden. Sie stehen im direkten Gegensatz zum Schicksal, jener vom  Katholizismus geprägten europäischen Auffassung von Entscheidungsfähigkeit. Das Gedicht dagegen ist ein Manifest des Individuums und eine Ode an den Pioniergeist. Darüber hinaus ist es eine Blaupause der Entscheidungsfindung.

And that has made all the difference

Aber Frost ist keinesfalls der Einzige mit einem Beitrag zur menschlichen Entscheidungsfindung. Weniger poetisch, aber genauso unterhaltsam ist Daniel Kahneman – Psychologe, Nobelpreisträger für Ökonomie und emeritierter Berkeley-Professor. In seinem Buch Schnelles Denken, langsames Denkenfasst er die Ergebnisse seiner gemeinsam mit Amos Tversky durchgeführten Forschungen zusammen. Seinen Wirtschaftsnobelpreis erhielt er jedoch für die Modellierung menschlicher Entscheidungsfindung. Seine Errungenschaft ist eine Theorie, die über den sogenannten homo oeconomicus hinausgeht. Dieses Einhorn ordoliberaler Ammenmärchen geht davon aus, dass jeder immer rational handelt. Jeder. Immer. Die britische Wirtschaftszeitung The Economist bezeichnet den homo oeconomicus deshalb auch gerne als Mr. Spock der Entscheidungstheorie. 

Die einen wenden jetzt ein, dass sie überraschenderweise Menschen kennen, die manchmal nicht rational handeln, die Nerds unter uns weisen darauf hin, dass Mr. Spock nun mal kein Mensch sei. Eines dieser beiden Argumente muss Herrn Kahneman dazu veranlasst haben, sich auf die Suche nach einer neuen Erwartungstheorie zu machen. Was er fand, basierte auf dem alten Muster, wurde jedoch um eine lange Liste von so genannten kognitiven Verzerrungen ergänzt. Kahnemans Vorstellung, wie wir Entscheidungen treffen, ist also im Grunde vergleichbar mit der französischen Sprache – eigentlich logisch aufgebaut, aber mit so vielen Ausnahmen gespickt, dass die Regel zur Ausnahme wird. 

Diese Ausnahmen, also kognitive Verzerrungen, sind hochspannend. Sie zerfurchen unseren Entscheidungsprozess bis zur Unkenntlichkeit. Das passt jedoch überhaupt nicht ins Bild von Robert Frosts Gedicht – belügt sich der Protagonist selber, wenn er sagt, dass seine Handlungen den Unterschied gemacht haben? 

Ja, wenn es nach Kahneman geht. Und bereits mit einfachen Experimenten [http://www.youtube.com/watch?v=vJG698U2Mvo] lässt sich zeigen, wie erschreckend manipulierbar [http://www.youtube.com/watch?v=4-HxtKgKrL8] unsere Wahrnehmung ist. Unser Gehirn ist eine Sinngebungsmaschine: Damit es ins Bild (dem eigenen, der sozialen Erwünschtheit, der Erwartungshaltung) passt, verdrängt, verbiegt oder verändert unser Gehirn hemmungslos Tatsachen. Kahneman bringt das etwas nüchterner auf den Punkt:  

Die Sinngebungsmaschinerie von System I lässt uns die Welt geordneter, einfacher, vorhersagbarer und kohärenter sehen, als sie tatsächlich ist. Die Illusion, man habe die Vergangenheit verstanden, nährt die weitere Illusion, man könne die Zukunft vorhersagen und kontrollieren. Diese Illusionen sind beruhigend. Sie verringern die Angst, die wir zu spüren bekämen, wenn wir uns die Ungewissheiten des Daseins uneingeschränkt bewusst machen würden. (Kahneman, S. 254) 

Diese Illusionen der Entscheidungskompetenz und des Verstehens beeinflussen menschliches Handeln in allen Bereichen. Und das nicht nur theoretisch, sondern ganz praktisch. Über Jahre hinweg nutzte Nassim Taleb diese Erkenntnisse, um an der Börse die kognitiven Verzerrungen der Akteure gegeneinander auszuspielen. Er erkannte, dass extrem seltene Ereignisse, er nannte sie zu Ehren Karl Poppers „schwarze Schwäne“, häufiger auftreten mussten als bisher angenommen. Dies bewies er eben jener Zunft, die traditionell an das Einhorn des homo oeconomicus glaubte. Taleb forscht nicht nur weiterhin zu Risiken durch kognitive Verzerrung, sondern hat mit seinen Börsenaktivitäten über Jahre hinweg ein Vermögen erwirtschaftet.

Both needed wear

Auf einmal wirkt also der gute Robert Frost ein wenig naiv. Aber der Eindruck täuscht, denn es ist entscheidend, welchen Auszug des Gedichts man wählt. Vor der im zweiten Abschnitt erwähnten Passage schreibt er:
Then took the other, as just as fair,
And having perhaps the better claim,
Because it was grassy and wanted wear;
Though as for that the passing there
Had worn them really about the same,
Das ist unglaublich. Er beschreibt, wie er vorher zaudernd vor dieser Weggabelung steht und beide Straßen eigentlich gleich sind. Mehr noch, sie sind sogar gleich begangen. Ein paar Abschnitte weiter erzählt er dann heroisch, wie er den Unterschied machte, als er die weniger begangene Straße wählte. Er schafft es innerhalb eines Gedichtes, uns so sehr über den Tisch zu ziehen, dass wir die Reibung als Nestwärme wahrnehmen. Dieser alte Herr mit seiner klaren, sehr direkten Sprache, der Assoziation mit New Hampshire und der Affirmation traditioneller Werte hält uns vor Augen, wie sehr wir seinem kognitiven Bias unterlegen sind. Und das Schlimme ist – er klärt uns noch nicht mal auf.
In Amerika gilt Robert Frost weiterhin als Vertreter reiner, gutartiger amerikanischer Wertvorstellungen. Seine Werke sind Standardstoff jeder Highschool, wie es Goethes in Deutschland sind. Niemand gewann häufiger den Pulitzer Prize. Robert Frost ist einer von Amerikas raren „öffentlichen literarischen Personen, fast schon eine künstlerische Institution“. In der Literaturforschung ist die Einordnung des Dichters Robert Frost jedoch nicht einheitlich. In einer sehr empfehlenswerten Vorlesung widmet sich beispielsweise Kevin Murphy, Professor am Englischkolleg der Ithaca University, The Road not Taken.
Abschließend ist eine Anekdote zum 85. Geburtstags Robert Frosts zu erwähnen. Zu Frosts Ehren wurde der Literaturkritiker Lionel Trilling gebeten eine Rede zu halten. Er schockierte die Anwesenden mit dem Geständnis, dass er Frosts Gedichte erst kürzlich für ihre leicht zu übersehende Grimmigkeit zu schätzen gelernt hatte. Über Frost sagte er: „I regard Robert Frost as a terrifying poet“. Trilling musste sich aufgrund der allgemeinen Erbostheit für seine Aussagen entschuldigen. Frost jedoch nahm es ihm jedenfalls nicht übel: Not distressed at all. […] You made my birthday a surprise party”, schrieb er und fügte hinzu: „No sweeter music can come to my ears than the clash of arms over my dead body when I am down.” 

The road we should take

Wenn Frost aber diese Ambivalenz seines Gedichtes bewusst wählte, was will er uns dann vermitteln? Versucht er uns mit diesem Gedicht eine neue Maxime nahe zu legen, frei nach dem Motto: „Handle, als wenn es nur auf dich ankäme, aber wisse, dass dem nicht so ist“? Oder hat er uns einfach einen Streich gespielt?
Im richtigen Moment mal was wagen. Den Sinn für die Tragweite der Entscheidung schärfen. Man stellt sich den alten Frost vor, wie er im Schaukelstuhl sitzt, kurz die Pfeife aus dem Mundwinkel nimmt und dir zuraunt: „Junge (oder Mädchen), hier geht es um dein Leben, also nimm es gefälligst selbst in die Hand.“ Hätten meine Vorfahren mal Frost gelesen, sie wären vielleicht nicht über ein halbes Jahrtausend im selben Dorf geblieben. Hier ist die Maxime also durchaus angebracht.  
Wenn sich dein ganzer Lebensweg etwa zehn Mal gabelt, ist es schwer Einzelentscheidungen überzubewerten. Wenn aber schon der Kaffeekauf als Manifest der eigenen Charakterausprägung dienen soll, wird Roberts kleiner Streich zum handfesten Problem. Dann habe ich bei jeder Entscheidung das Gefühl, vor einer Weggabelung zu stehen. In dem Moment wird die Fülle von Optionen zur Belastung. Und Entscheidungen zur Paralyse, je mehr sie auf mich einprasseln.
Mit dieser Strategie des bloß-nichts-falsch-Machens sind wir denkbar schlecht aufgestellt. Unsere Welt ist nicht mehr das Dorf der linearen Wirkungszusammenhänge und begrenzten Optionen. Informationen, Möglichkeiten und Komplexität explodieren um uns herum wie Seerosen im Hochsommer. Jede Option einzeln zu bewerten, abzuwägen und erst dann zu entscheiden würde uns maßlos überfordern. Unser Entscheidungsvermögen ist leider mehr ein Gartentümpel als das Mittelmeer.
Was nachhaltig hilft, ist ein angestaubter Bekannter – das Prinzip. Einmal festgelegt, ist es wie der Lieblingsfußballverein, den wechselt man nicht. Manche nennen das auch einfach Haltung. Jetzt sollen ja gerade wir diese Haltung verloren haben. Wie nasse Säcke hängen wir als Generation Y zwischen den Optionen fest und wissen nicht, welches Praktikum, welche Stadt, welches Lebensmodell. Aber ganz ehrlich – wer mit 25 schon weiß, wie sein Leben verläuft, hat wahrscheinlich eine Bankausbildung gemacht. Und die Menschen mit wirklichen Multioptionalitätsproblematiken sitzen woanders.

Lassen wir diese Robert-Frost-Überschriften und kommen wir zum Eingemachten

Die Herren Black & Scholes haben es eindrucksvoll gezeigt: Optionen kosten Geld. Und zwar mehr, umso volatiler das Umfeld ist, je länger Optionen gehalten werden und je mehr man davon hat. Die Kosten lassen sich sogar ziemlich gut berechnen. Und für die Berechnungsformel des spezifischen Optionspreises gab es dann ebenfalls einen Nobelpreis. 
Optionen gibt es nicht nur an der Börse, sondern auch in der Politik, in der Wirtschaft und im Privaten. Letzteres kennen wir aus den Ferien nach dem Studium/Abi, die wir nicht mit unseren Freunden verbracht haben, sondern auf der Suche nach dem möglichst perfekten Arbeitgeber. Oder wenn der Schwarm keinen Bock mehr hatte, weil man sich einfach nicht entscheiden konnte. Oder wenn wir charakterlich so vage bleiben, dass Partygespräche zum Konsumvergleich verkommen. Wir wollen uns nicht festlegen oder unsere Optionen erweitern, und dafür zahlen wir selber den Preis.
Das ist in der Politik anders. Hier ist der Politiker nur Agent für seine Wähler und idealerweise auch für die Menschen, die von seiner Politik betroffen sind. Die Konsequenzen seiner Handlung bekommt er nur indirekt zu spüren. Die Kosten für Optionen trägt also jemand anders. Das ist kritisch, denn es liefert einen Anreiz, sich Optionen zu bedienen und die Kosten an die Allgemeinheit auszulagern.  
Politische Optionen so lange wie möglich zu halten scheint jedoch gerade die Krankheit der jetzigen deutschen Bundesregierung zu sein. Verzögern, aussitzen, ablenken und umschwenken sind ihre Symptome. Die Behandlung der eigenen Minister, die Eurokrise und die Energiewende sind ihre Krankenakten.
Wir werden gerade Zeugen einer Tragödie in Syrien. Hier geht es um viel mehr als nur um Geld, aber die Dringlichkeit schneller politischer Einflussnahme ist hier ebenfalls gegeben. Nicht umsonst werden kriegerische Konflikte mit Brandherden verglichen, die es schnell zu löschen gilt. Nervt die übliche Wahrung aller politischen Optionen der deutschen Bundesregierung bis zuletzt in anderen Angelegenheiten, ist sie hier kaum zu ertragen. Diese Option ist teuer erkauft.
Eine andere politische Option der Bundesregierung bezahlen wir nicht in Geld oder außenpolitischem Ansehen, sondern mit Risiko. Auf die Enthüllungen massiver Überwachungsprogramme der Briten und Amerikaner folgte von der Bundesregierung keine eindeutige Stellungnahme. Eine Teilnahme würde eine aktive Steuerung ermöglichen, eine entschiedene Ablehnung wäre die Voraussetzung für den Schutz der Bürger vor ausländischer Überwachung. Eine Haltung wurde jedoch nicht gefunden.
Hier zeigt sich die wirkliche Gefahr einer Multioptionsstrategie zur Wahrung des politischen Kapitals. Das Risiko massiver Überwachung macht sich im Alltag nicht bemerkbar. Meine Mails passieren unbemerkt den Filter und meine Facebook-Nachrichten werden auch nicht geöffnet, weil ich eben nicht ins Raster falle: Meine Daten sind zentral gespeichert, aber keiner greift sie ab. Die Art des Risikos liegt jedoch nicht in seiner alltäglichen Ausprägung, sondern in seinen Extrema: den extrem unwahrscheinlichen Ereignissen, den schwarzen Schwänen, vor denen Nassim Taleb zu warnen versuchte und durch die er so reich wurde. Unser schwarzer Schwan ist, dass uns die Kontrolle über diese Instrumente entgleitet. Das ist zugegebenermaßen extrem unwahrscheinlich, aber das sagte man auch über den Börsensturz 1987 und den 2001 und den 2008. Die eigenen Bürger vor diesem Risiko zu schützen, kostet politisches Kapital in Zeiten, in denen alles doch so einfach sein könnte.
Informationen durch die Komplexitätsreduktionswundermaschine gedreht zu bekommen, bis sie weich und kuschelig sind, bringt uns nichts. Wir brauchen keine Mutti, die unsere Entscheidungen trifft. Es wird Zeit, erwachsen zu werden. Es wird Zeit, Haltung zu zeigen.
Bald haben wir wieder die Wahl.

Feinstaub im Gewerkschaftsgetriebe

Die Debatte über schwarze Staubpartikel ist mir besonders in Erinnerung geblieben. In meiner Ausbildung war ich Mitglied der Jugend- und Auszubildendenvertretung  meines Betriebes, einem deutschen Bankhaus in Frankfurt am Main, und durfte deshalb an den Betriebsratssitzungen teilnehmen. Glücklicherweise ist in Frankfurt der Hauptsitz des Unternehmens, der deshalb Standort des Hauptbetriebsrates ist, was die Sitzungen normalerweise ziemlich spannend macht.

An diesem Tag bereute ich es jedoch sehr. Hatte ich mich als Kind noch gefragt, ob es auf der Welt etwas Langweiligeres als eine zweistündige Ostermesse gäbe, hatte ich es jetzt gefunden: Es war die Debatte über Druckerfeinstaubemission. Die frei gewordene Zeit nutzte ich abwechselnd dafür, mir einerseits Strategien für die unauffällige Beschaffung der Konferenzkekse zurechtzulegen und mich andererseits zu fragen, was in der heutigen Zeit noch der Sinn von organisierter Arbeitervertretung ist. Schutz vor Druckerfeinstaub ist es jedenfalls nicht, da war ich mir sehr sicher.

Vielleicht lag es an der 2008 einsetzenden Finanzkrise, aber der Umgangston wurde zunehmend rauer und einige waren in der Zeit froh, auf den Betriebsrat zählen zu können – um die Wogen etwas zu glätten oder unserem aufbrausenden Vertriebsleiter die Stirn zu bieten. Spätestens, als ich mitbekam, wie sich eine ältere Mitarbeiterin vor dem Jähzorn eben jenes Vorgesetzten unter ihrem Schreibtisch versteckte, war ich froh, dass es den Betriebsrat gab, von dem sie sich hätte vertreten lassen können. Nicht, dass sie es getan hätte. Arbeitnehmervertreter sind in der Bankbranche nicht sehr beliebt.

Herr Sommer macht mir ein Geschenk (anderen aber nicht)

Die Gewerkschaften waren mir bis dahin nur in Form eines Herrn Sommer begegnet, der abends in der Tagesschau mit hochrotem Kopf mehr Lohn forderte. Irgendwann bekam ich dann einen Brief, der mir mitteilte, dass Herr Sommer wohl auch für mich mehr Lohn gefordert hatte, denn ich bekam eine saftige Einmalzahlung (reichte für eine mittelklasse Konzertgitarre) und etwas mehr monatlich drauf (reichte für ein Eis im Monat). Da habe ich mich schon gefreut.

Auf einem Betriebsratsseminar lernte ich einen Auszubildenden kennen, der nicht in den Genuss der tariflichen Erhöhungen gekommen war. Seine Bank hatte ihn kurz nach Abschluss einfach umdeklariert, so dass er jetzt als Leiharbeiter nicht mehr in den Tarif fiel und sein Anstellungsverhältnis auf ein Jahr befristet werden konnte. Anders als ich konnte er es sich durchaus vorstellen, bei seinem Arbeitgeber zu bleiben und hatte nicht vor, den Ort zu wechseln. Regulär arbeitend, sollte er so viel wie ich im letzten Ausbildungsjahr verdienen, ohne irgendeine Sicherheit. Das fand ich nicht fair.

Dabei besitzen Gewerkschaften gar nicht mal so wenig Macht. Bei der Hauptversammlung der Bank saß auf einmal ein bekanntes Gesicht aus dem Betriebsrat direkt in der Reihe der Vorstände. Durch die paritätische Mitbestimmung im Aufsichtsrat und (ausschlaggebend) der Mitgliedschaft in einer Gewerkschaft hatte sie es zur stellvertretenden Aufsichtsratsvorsitzenden der Großbank gebracht. Das freute mich, denn sie war immer sehr energisch bei der Sache und ich fand sie sympathisch. Als ich ihr in der Pause zuwinkte, lächelte sie zurück.

Die fetten Jahre sind vorbei

Später ging es dann raus aus dem Filialgeschäft zu den alten Haudegen des Mittelstandsgeschäftes. Zwei der etwas älteren Bankiers nahmen mich unter ihre Fittiche, um mich als Grünschnabel aufzuklären, wie der Hase hier läuft. Von den beiden habe ich viel gelernt – unter anderem, dass sie noch aus alten Tagen Gehälter bezogen, die heute so einfach nicht mehr gezahlt werden. Dementsprechend hoch sind ihre Pensionsansprüche.

An sich störte mich das kein bisschen. Die beiden ignorierten mit stoischer Gemütlichkeit jeden neuen monetären Anreizmechanismus, nahmen sich viel Zeit für mich und fuhren nebenbei noch Rekordergebnisse ein. Leider geht das jedoch auf unsere Kosten. Die Selbstverständlichkeit, nach der Ausbildung einen unbefristeten Job im gleichen Unternehmen anzutreten, gibt es nicht mehr. Wer nach einer guten Ausbildung mit Auslandssemester und Praktika eine Garantie auf einen anspruchsvollen Job vermutet, wird enttäuscht. Der Deal ist geplatzt. Die Vorherrschaft der Alten gilt immer noch.

Genau aus diesem Grund stimmt auch die Standardantwort der Personalabteilung auf allzu forsche Karrierewünsche: „Frau/Herr [dein Nachname hier], derzeit können wir eine solche Zusage leider nicht tätigen, Sie wissen ja, die wirtschaftliche Lage.“ Klar: Wenn ich etwa 90% meines gesamten Unternehmenswertes meinen Pensionären versprochen hätte (wie bei Thyssen Krupp), wäre ich auch ganz vorsichtig, zu fairen Löhnen Neue einzustellen. Ganz zu schweigen von etwaigen Rentenversprechen. Je nachdem was genau früher versprochen wurde, müssen die Firmen jetzt noch was nachschießen, weil die Rechnung durch die Finanzkrise nicht mehr aufgeht, oder einfach zu viel versprochen wurde. Das verhagelt das Betriebsergebnis und führt zu eben jenem Satz.

Damit haben Gewerkschaften herzlich wenig zu tun. Ach ja, außer natürlich, dass sie mit nach Alter diskriminierenden Tarifverträgen noch tiefer in die Kerbe schlagen. Danke dafür.

Arbeitsschutz Reloaded 

Ein anderes Thema betrifft Arbeitsschutzrechte – das Urgestein der Gewerkschaftsthemen also. Tatsächlich sind deutsche Gewerkschaften ganz vorne mit dabei, wenn es heißt, organisierte Arbeit zum Beispiel in Bangladesch zu garantieren. Dort geht es richtig zur Sache mit zerschlagenen Kniescheiben und toten Funktionären – gut, dass sie vor Ort sind.

Kurz nachdem ich dem Banksektor endlich den Rücken gekehrt hatte, bekam ich einen Anruf von einem Bekannten. Er ist in etwa gleich alt und in einer dieser Fast-Track-Programme einer Bank. Er rief aus einer Rehaklinik an, weil der Druck ihn zermürbt hatte. Ich wunderte mich sehr, denn an Intelligenz oder Hartnäckigkeit kann es nicht gelegen haben.

‘If you can’t stand the heat, get out of the kitchen’

Das sagen die Amerikaner, wenn sie ausdrücken wollen, dass sie kein Mitleid für jemanden haben, der sich einer Situation nicht gewachsen fühlt, die er sich selber ausgesucht hat. Jung, gut ausgebildet, intelligent und zielstrebig – da hat man die Wahl. Oder etwa nicht?

Nein, haben wir nicht. Ob diese Optionslosigkeit nun real ist oder sich aus einer geschickt genährten Illusion ergibt: Selbst weniger sozialromantisch angehauchte Menschen aus meinem Umfeld teilen dieses Gefühl. Das geht von Unternehmensberatern über Investmentbanker bis hin zu einfachen Filialmitarbeitern, Sozialarbeitern, angehenden Architekten … Das Gefühl der eigenen Unzulänglichkeit ist ständiger Begleiter. Das treibt höchst seltsame Blüten: 16-Stunden-Tage im Investmentbanking bei heruntergebrochen kümmerlichen acht Euro die Stunde. Unbezahlte Praktika in Städten mit 800 Euro durchschnittlicher Kaltmiete für 20m2 Wohnraum. Erneutes Einschreiben nach dem Masterstudium, nur um an gering bezahlte Praktika als Einstiegsvoraussetzung zu kommen. Anstellung auf Jahresvertragsbasis in den ersten Berufsjahren. Anspruch der absoluten räumlichen und zeitlichen Flexibilität selbst bei stetigen, gut planbaren Tätigkeiten.

Wir setzen uns einer völlig atypischen, künstlich induzierten Belastung aus. Ich weiß, ein Arzt muss halt mal 12 Stunden durchoperieren, ein Psychologe hat bei suizidgefährdeten Patienten erreichbar zu sein, ein Seemann arbeitet vier Monate am Stück ohne Heimat außer seiner Koje. Bei wissenschaftlichen Artikeln, Bilanzen und Werbekampagnen ist dem nicht so.

Dieser Druck führt dazu, dass frappierend häufig immer die Besten in meinem Bekanntenkreis einfach wegbrechen. Angststörung mit Mitte zwanzig, graue Haare, Lidzucken, Depressionen mit Anfang dreißig, happy Birthday.

Spiel mal mit den Schmuddelkindern

Das funktioniert nur, weil alle mitspielen. Und es bleibt dabei, weil Einzelne es nicht ändern können. Und es ändert sich nichts, weil wir uns nicht organisieren, weil wir nicht organisiert werden. Wer das ändern könnte, sind die Gewerkschaften. Deren Kernklientel aber treibt bereits weit im Wohlfühlbereich der bürgerlichen Mitte, dem Establishment der Wohlstandsplautzen und des Vorruhestandes. Dabei gibt es sie doch, die Schmuddelkinder.

Vielleicht haben wir es auch einfach nicht besser verdient. Wir akzeptieren, dass man uns die herrlichen Mußejahre des Studiums zum Wohle der Volkswirtschaft streicht. Wir zahlen in ein öffentliches Rentensystem ein, von dem niemand ernsthaft erwartet, etwas zurück zu bekommen. Für unser Berufsleben sind wir mobil, ständig erreichbar und bereit Kompromisse einzugehen, für unser Privatleben sind wir es leider nicht. Wir sind schon ein trauriger Haufen. Wie Pawlowsche Hunde sitzen wir zuckend im Käfig und warten, dass uns da mal jemand rausholt.

Dabei müssten wir uns nur mal bewegen, um zu sehen, dass es auch anders geht. Wir benötigen dringend die grundlegenden Instrumente, die eine Gewerkschaft nunmal bietet: die Ressourcen, um Präzendenzfälle auch mal durchzubringen – die Schadensersatzklage eines depressiven Junior Consultant zum Beispiel. Eine Presseabteilung, um unsere Stimme geltend zu machen. Und vor allem – das Gemeinschaftsgefühl einer selbstbewussten Generation.

Neuland

Willkommen auf dem Blog Unsere Zeit! Wir, vier Studenten in Berlin, Friedrichshafen und Bielefeld, beobachten Zustände und Entwicklungen der Gegenwart und kommentieren diese über Blogeinträge. In einer Zeit, deren zunehmende Komplexität das Einnehmen klarer Standpunkte immer schwieriger macht, wollen wir Positionen und Argumente entwickeln, die uns und euch anregen, euer Denken im Idealfall weiterbringen und euch gerne auch aufregen sollen. Der Blog ist als eine Art Netzwerk gedacht, an dem sich prinzipiell jeder durch Kommentare oder auch eigene Artikel beteiligen kann.

Entstanden ist das Projekt im Mai 2013. Um neben dem wissenschaftlichen Arbeiten im Studium mit Fußnoten, Bibliographien und ständigem Bezug auf schon Gedachtes auch breitere, aktuellere, zugänglichere Gedanken und Texte zu produzieren, verpflichten sich die zunächst vier Autoren, je einen Beitrag pro Monat zu veröffentlichen. Die Themenwahl steht jedem weitgehend frei, obligatorisch ist nur ein Bezug zu unserer Zeit, zur Gegenwart. Der vorläufige Name des Blogs Unsere Zeit geht auf ein gleichnamiges Lied des Lyrikers PeterLicht zurück, soll darüber hinaus aber auch eine bestimmte Perspektive verdeutlichen: Wir schreiben als Angehörige einer jungen Generation. Damit wenden wir uns gegen eingestaubte Denkmodelle vieler älterer Themen- und Tonangeber in öffentlichen Diskursen, die ihre Lösungen für Probleme der Gegenwart am liebsten in der Vergangenheit suchen, gerne auch in ihrer eigenen, angeblich goldenen Jugend. Wir gehen lieber vom Offensichtlichen aus: Die Welt hat sich rasant verändert, und für die Fragen von heute sind Antworten von gestern nicht mehr ausreichend. Wir wollen nach vorne denken statt zurück, und an diesem Anspruch wollen wir auch gemessen werden.

Wir sind nicht die ersten, die den Namen Unsere Zeit verwenden. Der Name ist, warum auch immer, besonders unter langweiligen und/oder totalitaristischen Gruppen beliebt. Er wurde schon verwendet von Kommunisten, schlechten Rockbands, Nazis, Christen und Teenagern – und natürlich von unserem Peter. Ein Gegenmodell unter gleichem Namen ist daher eine ansprechende Perspektive. Eine eigene politische Verortung fällt uns gar nicht so leicht, ohne dass wir uns dabei in Traditionen stellen, mit denen wir im Zweifelsfall doch nicht in Verbindung gebracht werden wollen. Wollte man uns festnageln, so würden wir uns am ehesten der Freiheit in staatlicher Selbstverwaltung verschreiben, in dem Sinne sind wir – für alle, die doch ein Label wollen – linksliberal. Warum das überhaupt voranschicken? Weil es redlich ist, die eigene Position offen zu legen, anstatt den Leser sie mühsam zwischen den Zeilen herausklamüsern zu lassen; weil es wichtig ist zu wissen, von welchen normativen Grundvorstellungen wir ausgehen, um unsere Probleme und Lösungsvorschläge – und sicher auch deren Grenzen – besser zu verstehen.

Andererseits heißt das nicht, dass hier nur linksliberale Positionen zu Wort kommen dürfen. Über die Kommentarfunktion sind Einwände direkt möglich; nach Absprache könnt ihr euren Widerspruch ggf. auch als Artikel veröffentlichen. Dieser Blog soll eine Plattform des Meinungsaustauschs und der Meinungsverschiedenheit sein; ein Ort, um Argumente zu entwickeln und auszuprobieren, Positionen zu beziehen und sie auch wieder zu räumen; Konsens wird nicht angestrebt. Es sollte auch nicht der falsche Eindruck entstehen, dass es hier nur um Politik gehen soll. Wir interessieren uns genauso für ökonomische, intellektuelle, ästhetische und überhaupt alle Entwicklungen, aus denen man etwas über die Gegenwart lernen kann.

Das Bloggen ist für uns alle Neuland. Als journalistische Dilettanten betrachten wir dieses Projekt als Experiment. Worauf der Blog hinaus läuft, welche Themen er behandelt und welche Positionen wir vertreten, das wird sich alles erst zeigen. Kritik, Anregungen und Fragen sind natürlich immer willkommen!

So weit erst mal: Viel Spaß also beim Lesen, Reflektieren und Kommentieren,
Erik, Sören, Adrian und Julian