Zwölf Töne in Zeiten der Globalisierung, oder: Warum ich einen Halbton zersägte

Wer macht die Musik? Warum klingt sie, wie sie klingt? Wir machen die Musik. Denken wir. Doch auch das Instrument macht die Musik, und die Tonskala, und unsere Ausbildung: das, was wir als Musik kennengelernt haben. Was, wenn alles ganz anders wäre?

Aber von vorne.

Im Jahr 2010 studierte ich Musikwissenschaft. Mit geringer Leidenschaft: Ich hatte mir den Studiengang praxisorientierter vorgestellt, kannte die meisten der behandelten Werke nicht und hatte zu dieser Zeit wenig Interesse, mich quer durch Sinfonien und Requiems zu hören. Mich bewegten Rockmusik, Folk und Lieder.

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Wahlen nach Zahlen – Zahlen nach Wahlen. Warum das Referendum in der Türkei eine Farce war

Erdogan zeigt den Rabia-Gruß; Foto von R4BIA.com via Wikimedia Commons, gemeinfrei

Das türkische Referendum ist gelaufen. Die Adalet ve Kalkınma Partisi (Partei für Gerechtigkeit und Aufschwung, AKP), Erdoğan und seine Anhänger haben gewonnen. Nach offiziellen Angaben wurde die neue Verfassung mit 51,41 Prozent angenommen. Die Wahlbeteiligung soll laut staatlichen Verlautbarungen bei 86 Prozent gelegen haben. 51,41 Prozent dafür, 48,59 dagegen. Die größten Städte und urbanen Ballungszentren stimmten mehrheitlich mit Nein. Istanbul, Ankara und Antalya. In Izmir lehnen 67,9 Prozent die Änderungen der Verfassung ab. Die ganze Westküste der Türkei stimmte mehrheitlich mit Nein. So auch im Südosten der Türkei. In den Regionen mit kurdischer Majorität scheinen die Menschen zu wissen, was ihnen unter einem noch ungezügelteren Präsidenten blüht. Erdoğan hatte schon kurz nach dem Sieg ankündigt, im Verbund mit der ultranationalistischen Milliyetçi Hareket Partisi (MHP), der Partei der Nationalistischen Bewegung, die Todesstrafe wieder einzuführen – per Referendum. Der Einsatz der türkischen Armee gegen kurdische Zivilisten wird einen eigenen Beitrag zum dortigen Wahlergebnis geleistet haben. Diyarbakır lehnte die Verfassungsänderung mit 67,6 Prozent ab, die Kurdengebiete stimmten mehrheitlich mit Nein. Trotzdem: eine knappe Mehrheit von 51,41 Prozent stimmte für eine Präsidialdiktatur, 48,59 stimmten dagegen. Diese Zahlen sind Generalisierungen und müssen viele Informationen ausblenden, um wenige Informationen zu generieren. Sie sind Resultat einer Reduktion von Komplexität. Wie nach jeder Wahl bewirkt die pedantische Fokussierung auf das numerische Resultat einen Verdunklungseffekt, denn man übersieht leicht die Rahmenbedingungen, unter denen das Zahlenverhältnis 51,41:48,59 zustande kommen konnte. Diese Rahmenbedingungen aber entscheiden darüber, ob eine Wahl das Adjektiv demokratisch für sich reklamieren kann oder nicht.

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Ihr seid nicht das Volk! Europäische Ideen gegen rechtspopulistische Propaganda

Grenzkontrollen? Volksgemeinschaft? Heim ins Reich? Neeein, danke! Wir können neue Ideen von Politik, Staat und Kultur entwickeln, um Europa als solidarisches Projekt neu zu erschaffen.

Die Schnelligkeit, mit der 2016 eine böse politische Überraschung die nächste jagte, war bemerkenswert. Es wurde viel darüber diskutiert, wie man mit der Formierung einer autoritären Internationalen oder den Wahlsiegen rechtspopulistischer Parteien umgehen sollte. 2017 ist ebenfalls ein bedeutendes Wahljahr, in dem rechte Parteien in den Niederlanden, Frankreich und Deutschland die Möglichkeit haben große Erfolge heimzufahren.

Gibt es liberale oder linke Visionen, Bewegungen oder Parteien, die jenen Wählern eine glaubhafte Alternative bieten können, die mit dem Status Quo unzufrieden sind? Oder haben sich die liberalen Demokratien müde gelaufen und haben nur noch Figuren wie Angela Merkel, Hillary Clinton, David Cameron, François Hollande oder Mariano Rajoy anzubieten, die emblematisch für ein „business as usual“ stehen und deren größte Versprechungen sind, dass es kommenden Generationen vielleicht und unter günstigen Umständen nur etwas schlechter gehen wird als ihren Eltern?

Wie lässt sich eine Alternative zu unserer Gegenwart denken, die Menschen begeistern kann und nicht auf Angst und Ausgrenzung aufgebaut ist? Wie lässt sich also – um zwei Ausdrücke Ernst Blochs aufzugreifen – mit „militantem Optimismus“ eine „konkrete Utopie“ entwerfen? Dies sind wohlgemerkt offene Fragen, über die wir uns jedoch unterhalten sollten. „Ihr seid nicht das Volk! Europäische Ideen gegen rechtspopulistische Propaganda“ weiterlesen

Rechtes Denken, linkes Denken

Wenn man heutzutage jemanden so richtig beleidigen möchte, genügt es schon, ihn als politisch rechts zu bezeichnen. Schon ‘konservativ’ reicht aus. Denn das sagte ich meiner Begleitung nachts auf dem Nachhauseweg in einem Berliner Taxi. Das fand sie gar nicht gut, auch wenn es neutral festgestellt, wenn auch zugegeben nicht mehr ganz nüchtern vorgetragen wurde.

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Erlogene Wahrheiten und wahre Lügen. Verschwörungstheoristen und die Realität der Massenmedien

Warum Realität fluider wird, Verschwörungsphantasien ein regressiver Reflex auf moderne Massenmedien sein könnten und kritische Vernunft erkenntnisfördernd wirkt.

Wenn die Welt von Marx für ihn aussah wie eine unglaubliche Ansammlung von Waren – diesen Dingern „voll metaphysischer Spitzfindigkeit und theologischer Mucken“ – wie würde sich Marx dann heute in der Welt zurechtfinden? Das „Informationszeitalter“ hat gelernt, eine ganz eigene Produktionsweise von Waren in Form von Meinungsofferten zu entwickeln, die sich augenscheinlich sehr differenziert hat. Diese Waren werden nicht mehr primär auf ökonomischen Märkten gehandelt, sondern auf hoch frequentierten und hoch frequenten Märkten für Öffentlichkeiten. Meinungen, Neuigkeiten, Nachrichten kursieren als Produkte dieser Märkte und werden bewertet und konsumiert. Auch hier, ganz wie auf den ökonomischen Märkten, herrscht Überfülle: ein riesiges Spektrum an Meinungsbedürfnissen kann/könnte befriedigt werden. Die Medienlandschaft will und muss sich, um das leisten zu können, organisieren – gesellschaftlich und eben nicht persönlich organisieren wie manche „Lügenpresse!“-Schreihälse es sich scheinbar nur vorstellen können. Es gibt keine Leitinstanz, kein Kartell, keine Oberhoheit, das die Medien steuern oder auch nur überblicken könnte. Massenmedien steuern sich selbstreferenziell. Und dies ist eine unglaublich unwahrscheinliche und bewahrenswerte Kostbarkeit.

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Unsere Zeit – ein kultureller Raum der Hybridität?

Wollen wir eine Gesellschaft, die angstgeleitet agiert und ihr Handeln durch eine pejorative Beschreibung und Konstruktion des Anderen verteidigt? Oder lassen wir Transformationen zu, brechen polare Denkmodelle auf und verändern auch unsere Identitäts- und Kulturauffassungen in Richtung einer sowieso schon globalen Welt?

„Ich bin Deutsche, habe braune Augen, lange Haare und bin schwarz. Ich bin aber Deutsche“, sagt sie zu ihrer Verteidigung. Warum Verteidigung? Weil sie, eine afrodeutsche Bekannte, jede Woche mindestens einmal gefragt wird, aus welchem Land sie denn kommen würde, als sei es ganz klar, dass sie keine Deutsche sein könne. Die zweite Frage, die sich anschließt, ist meistens: und woher kommen deine Eltern? Wenn sie die Frage dann auch mit „Deutschland“ beantwortet, hört die Hälfte auf zu fragen, woher denn ihre Großeltern stammen. Die andere Hälfte würde vermutlich auch noch bis in die Urgroßelterngeneration zurückfragen, nur um ihre ‚nichtdeutschen Wurzeln‘ zu entdecken. „Ich bin ein Hybrid“, sagt sie und schließt an: „aber sind wir das nicht irgendwie alle?“

In einer Zeit der Globalisierung wird auf den unterschiedlichsten Ebenen von Hybridität geschwärmt. Von einer grenzenlosen Welt, in der die lateinamerikanischen Bananen auch im deutschen Winter in die Supermärkte kommen, in einer Welt, in der wir guatemaltekischen Kaffee importieren, peruanische Schokolade essen, Videokonferenzen mit Mitarbeitern und Mitarbeiterinnen der Tochterfirma in Japan abhalten und noch schnell der Austauschstudentin aus Amerika, Kanada oder Afrika zurückschreiben, die seit einem Monat nicht mehr in Deutschland ist, uns jedoch jeden Tag über ihr Leben auf dem Laufenden hält. Unser Alltag ist schon längst interkulturell und international – vielleicht wird es JETZT Zeit über unsere Auffassungen von Identitäten und Kulturen nachzudenken. Deutschland ist nicht erst jetzt international, Europa nicht erst seit den neuesten Flüchtlingsströmen ein hybrider Erdfleck. „Unsere Zeit – ein kultureller Raum der Hybridität?“ weiterlesen

Berlin-Friedrichshain-Kreuzberg: Das Recht des Lautesten

Inzwischen ist sogar beim Spiegel angekommen, dass in Berlins links-alternativem Paradies einiges schief läuft. Ein Porträt über die grüne Bezirksbürgermeisterin Monika Herrmann („Die Überzeugungstöterin“) macht der ganzen Republik deutlich, dass Friedrichshain-Kreuzberg mit seinem antiautoritär und sozialistisch angehauchten Regierungsstil gescheitert ist – die Situation der von Flüchtlingen besetzten Gerhart-Hauptmann-Schule ist heillos verfahren, rund um den Görlitzer Park herrscht ein Drogenbiotop inklusive Begleitkriminalität, finanziell befindet sich der Bezirk nun schon im zweiten Jahr seiner Haushaltssperre.

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Konservatismus und Ambivalenz – Eine neue deutsche Möglichkeit

Eine Vorwarnung: Dieser Beitrag ist positiv und optimistisch. Damit der Schock nicht zu groß wird, beginne ich aber mit einer empörenden und traurigen Geschichte, wie gewohnt, nämlich der Geschichte über die Kofferträger von Schwäbisch Gmünd, die vor einigen Wochen durch die Medien ging. Sie geht so: Am Bahnhof von Schwäbisch Gmünd, einem erzkatholischen Städtchen in Baden-Württemberg, wird gebaut. Nun führt nur ein Metallsteg zu den Bahnsteigen, 54 Stufen rauf, 54 Stufen runter, ein großes Problem für Alte, Behinderte, für Leute mit zu schwerem Gepäck. Richard Arnold, CDU, Oberbürgermeister der Stadt, schwul, offen, engagiert, hatte eine Idee. Die Asylbewerber, die dank deutschem Asylrecht in einem Heim zusammengepfercht leben, wo sie kaum etwas zu tun haben, als jahrelang auf ihren Bescheid zu warten, könnten helfen. Das hat in Gmünd schon öfters funktioniert, Arnold kümmert sich schon länger um die Asylbewerber, versucht, sie am Gmünder Leben teilhaben zu lassen, zum Beispiel als Theaterdarsteller. Er bot ihnen deshalb an, am Bahnhof auszuhelfen; eine ganze Reihe der Asylbewerber meldete sich freiwillig. Sie wollten sich einbringen, mithelfen, in Kontakt kommen, sicher auch die Langeweile bekämpfen. Das einzige Problem war die Bezahlung, denn – again – dank deutschem Asylrecht darf den Asylbewerbern nur 1,05 Euro pro Stunde gezahlt werden. Dass das viel zu wenig ist, war allen Beteiligten klar; das Gesetz ändern kann aber nur die Bundespolitik. So blieb Arnold nur, den Reisenden zu empfehlen, beim Trinkgeld nicht knauserig zu sein.
 

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