Unsere Zeit – ein kultureller Raum der Hybridität?

Wollen wir eine Gesellschaft, die angstgeleitet agiert und ihr Handeln durch eine pejorative Beschreibung und Konstruktion des Anderen verteidigt? Oder lassen wir Transformationen zu, brechen polare Denkmodelle auf und verändern auch unsere Identitäts- und Kulturauffassungen in Richtung einer sowieso schon globalen Welt?

„Ich bin Deutsche, habe braune Augen, lange Haare und bin schwarz. Ich bin aber Deutsche“, sagt sie zu ihrer Verteidigung. Warum Verteidigung? Weil sie, eine afrodeutsche Bekannte, jede Woche mindestens einmal gefragt wird, aus welchem Land sie denn kommen würde, als sei es ganz klar, dass sie keine Deutsche sein könne. Die zweite Frage, die sich anschließt, ist meistens: und woher kommen deine Eltern? Wenn sie die Frage dann auch mit „Deutschland“ beantwortet, hört die Hälfte auf zu fragen, woher denn ihre Großeltern stammen. Die andere Hälfte würde vermutlich auch noch bis in die Urgroßelterngeneration zurückfragen, nur um ihre ‚nichtdeutschen Wurzeln‘ zu entdecken. „Ich bin ein Hybrid“, sagt sie und schließt an: „aber sind wir das nicht irgendwie alle?“

In einer Zeit der Globalisierung wird auf den unterschiedlichsten Ebenen von Hybridität geschwärmt. Von einer grenzenlosen Welt, in der die lateinamerikanischen Bananen auch im deutschen Winter in die Supermärkte kommen, in einer Welt, in der wir guatemaltekischen Kaffee importieren, peruanische Schokolade essen, Videokonferenzen mit Mitarbeitern und Mitarbeiterinnen der Tochterfirma in Japan abhalten und noch schnell der Austauschstudentin aus Amerika, Kanada oder Afrika zurückschreiben, die seit einem Monat nicht mehr in Deutschland ist, uns jedoch jeden Tag über ihr Leben auf dem Laufenden hält. Unser Alltag ist schon längst interkulturell und international – vielleicht wird es JETZT Zeit über unsere Auffassungen von Identitäten und Kulturen nachzudenken. Deutschland ist nicht erst jetzt international, Europa nicht erst seit den neuesten Flüchtlingsströmen ein hybrider Erdfleck. „Unsere Zeit – ein kultureller Raum der Hybridität?“ weiterlesen

Mut in Zeiten des Terrors

Wir Europäer seien „selber schuld“ an den Anschlägen, schallt es aus den Kommentaren – wegen einer imperialistischen Politik, sagen die einen. Wegen einer fehlgeleiteten Immigrationspolitik, sagen die anderen. „Zu schwach“ seien wir, „um unsere Werte zu verteidigen“.

Es ist ein vertrautes Gefühl nach der Katastrophe. Nach dem Schock, dass so etwas mitten unter uns passieren konnte und der Trauer über dieses Mädchen, dass da in Sneakers auf dem Boden liegt, die Arme friedlich überkreuzt und jetzt tot ist. So tot wie 130 weitere Menschen, die vorletzten Freitag ausgehen wollten. Es hätte auch meine Schwester sein können. Es hätte jeder sein können.
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Zur rechten Zeit am rechten Ort – Die AfD im deutschen Parteiensystem (Teil 2)

Nachdem ich zuletzt die Alternative für Deutschland politisch verortet und als rechtspopulistisch eingestuft hatte, ist es jetzt an der Zeit, die Grundlagen ihres Erfolges zu erläutern und ihre zukünftigen Gewinnchancen auszuloten. Damals, als die Flüchtlingsfrage noch nicht das medienbeherrschende Thema war, hatte ich im Kontext ihrer Spaltung den Untergang der AfD prophezeit. Mittlerweile steht sie in Umfragen bei relativ stabilen sechs Prozent, zuletzt sogar bei acht Prozent. Habe ich mich also zu weit aus dem Fenster gelehnt? Bevor ich aber meine Vorhersage auf den Prüfstand stelle, möchte ich zunächst eine Erklärung für den Aufstieg der AfD anbieten.

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In the name of Europe: A new style of politics in the refugee crisis?

This week started with two political events that concerned the EU: On the one hand, Greek voters approved of Alexis Tsipras’ way of dealing with the Greek economic and political crisis. On the other hand, the European Ministers of the Interior agreed on a quota to relocate 120.000 refugees among the EU member states.
These events may appear to be distinct, but if one focuses on their structural causes a lot of similarities between both phenomenons can be detected. They both happened in an insufficient pre-crisis set-up during which warnings were ignored, and national rather than European interests were pursued. Once the problems became manifest and could no longer be ignored both cases led to a situation in which the persistence of the European Union, or part of its political achievements, were put into question. This was the case because national politicians did not seem to be willing, and European politicians did not seem to be entitled, to reach an agreement on a structural reform of the EU. Finally, both crises called for an exceptional role of German politics to absorb the foreseeable and avoidable negative consequences, caused by a regulatory framework which itself is strongly influenced by German politics.

Der lange Weg nach Rechts: Die AfD im deutschen Parteiensystem (Teil 1)

Die AfD hat sich zurück in die öffentliche Diskussion gekämpft. Mit der Wahl der Landesvorsitzenden Sachsens Frauke Petry zur neuen Parteichefin und dem darauf folgenden Austritt zahlreicher Parteimitglieder, darunter Parteigründer und bisheriger Vorsitzender Bernd Lucke, ist die Partei wieder in die Schlagzeilen geraten. Der Parteitag der AfD am vergangenen Wochenende war mit Spannung erwartet worden und ist dadurch umso mehr zum Richtungsentscheid geworden. Der lange schwelende Streit zwischen Wirtschaftsliberalen und Wertkonservativen über die Ausrichtung der Partei scheint nun zugunsten Letzterer entschieden zu sein. Was bedeutet das aber für die politische Positionierung der AfD? Inwiefern ändert es die AfD? In diesem Artikel möchte ich einen kurzen Überblick über die Entwicklung der AfD im deutschen Parteiensystem geben, um in einem kommenden Artikel ihre bisherige Erfolgsgeschichte erklären und ihren künftigen Untergang prophezeien zu können.

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Mahnwache für den Seelenfrieden

2014 war nicht das friedlichste aller Jahre. Die Konflikte in Syrien, im Irak, in der Ukraine, in Palästina und in zahlreichen anderen Ländern haben Zehntausende Leben gefordert und Millionen Menschen in die Flucht getrieben. Die Vereinten Nationen sprechen von der größten Flüchtlingskatastrophe seit 1945. 100 Jahre nach dem Beginn des Ersten und 75 Jahre nach dem Beginn des Zweiten Weltkriegs haben die Menschen immer noch nicht aufgehört, sich gegenseitig umzubringen. Man könnte meinen, 2014 sei kein gutes Jahr für den Frieden gewesen – wären da nicht die Mahnwachen für den Frieden.

Die Mahnwachen für den Frieden, auch bekannt als neue Montagsdemonstrationen, wurden im März 2014 zunächst als Protest gegen das Verhalten Deutschlands, der EU, der USA und der „Mainstreammedien“ im Ukrainekonflikt ins Leben gerufen, entwickelten sich aber rasch zu einem Sammelbecken für „Systemkritik“ jeglicher Art und Aktivisten verschiedenster Couleur. Sie stellen sich – wie es sich für moderne „besorgte Bürger“ wie auch PEGIDA, DÜGIDA, BAGIDA, OGIDA, PEGADA und demnächst sicherlich FRIGIDA und WÜRGIDA gehört – in die Tradition der Montagsdemos von 1989/90 und damit der Bürgerrechtsbewegung, die am Sturz des DDR-Regimes einen wesentlichen Anteil hatte. Die Friedensmahnwachen haben ihren Ursprung in Berlin, breiteten sich aber von dort auf die ganze Republik aus. Auch in Bielefeld haben sich Friedensfreunde zusammengefunden und die Friedensmahnwache Bielefeld 2014 ins Leben gerufen, die bis zum Winter einmal wöchentlich auf dem Kesselbrink tagte. Der Bielefelder Ableger fand zwar immer mittwochs statt, war aber davon abgesehen eine echte Montagsdemo.

Da ich natürlich für den Frieden bin, habe ich die Bielefelder Mahnwache für Frieden und Gerechtigkeit (so der alternative Name) im Sommer einige Male besucht, mich mit Aktivisten unterhalten und das ausgelegte Informationsmaterial studiert. So bekam ich einen Einblick in die Weltbilder dieser Friedensbewegten. Da die Veranstaltung offen gestaltet war und jede_r mal das Mikrofon in die Hand nehmen konnte, waren die Ansichten der Teilnehmer keinesfalls homogen – einig waren sie sich allerdings darin, dass ihre Weltdeutung eine alternative ist.

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Ein Land in der Klemme: Frankreich zwischen Nation und Europa

Sehr geehrter Herr X,
ich habe Ihr Ablehnungsschreiben erhalten und es sorgfältig gelesen. Leider kann ich Ihrem Wunsch nicht folgen. Ich erhalte in diesen Tagen unzählige Ablehnungen und Sie werden verstehen, dass ich nicht alle akzeptieren kann.
Ich werde daher wie angekündigt nächsten Montag um 8:00 Uhr bei Ihnen erscheinen, um meine Stelle anzutreten.
Vielen Dank für Ihr Interesse und viel Erfolg bei weiteren Ablehnungsschreiben.
Freundliche Grüße,
X
Diesen Post habe ich vor wenigen Tagen bei Facebook entdeckt, er war jedoch auf Französisch. Ich verbringe im Moment ein Auslandssemester in Rouen in der Haute-Normandie und möchte diesen Umstand zum Anlass nehmen, etwas über die Wahrnehmung Europas in Frankreich zu schreiben – so weit mir das auf Grundlage meiner persönlichen Erfahrungen, Zeitungslektüren und einigen wissenschaftlichen Texten möglich ist.

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Olli Schulz, Erik Hakopjan und das Ende der Ausländerfeindlichkeit

Der beste Zeitungsartikel, den ich in letzter Zeit lesen durfte, stammt von Barbara Hardinghaus und ist im Spiegel erschienen, Nr. 9 vom 24. Februar 2014. Er ist nur eine Seite lang, heißt „Justus, Leon, Paul. Erik“ und handelt von Olli Schulz – nicht dem Musiker Olli Schulz, sondern dem Fußballtrainer des Duvenstedter SV. Oliver Schulz ist ein leidenschaftlicher Fußballer, für Politik hat er sich eigentlich nie interessiert – und doch sieht man ihn auf dem Bild zum Artikel ziemlich bedröppelt dreinblickend auf einer Demonstration in Bad Segeberg stehen, hinter ihm hält jemand ein Schild hoch, auf dem „Bleiberecht für Fam. Hakopjan“ zu lesen ist. Es ist die erste Demonstration, auf der Schulz jemals war. Was ist da los?

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Why is it so easy to fuck Europe?

Im Moment gibt es eine ganze Reihe von Debatten, die die Beziehungen der EU nach außen und nach innen betreffen. Zu nennen sind der Volksentscheid gegen die Freizügigkeit („Masseneinwanderung“) in der Schweiz, das nahende Europareferendum in Großbritannien, die deutsche Debatte um eine Maut für „EU-Ausländer“, das mittlerweile deutsch-französische Engagement in Zentralafrika und Mali und, im Moment alles überstrahlend, die Krise in der Ukraine: Ausgehend von einem geplatzten Freihandelsabkommen mit der EU ist es hier zu einer politischen Revolution gekommen, deren Konsequenzen noch nicht absehbar sind. Dieser Essay soll ein Versuch sein, diese Ereignisse, trotz ihrer Unterschiedlichkeit, in einer Perspektive zusammenzuziehen, um, am Ende, von diesem Standpunkt aus einen Blick auf die kommende Europawahl zu werfen.
Die Gemeinsamkeit all dieser Debatten ist, dass sie die Beziehungen der EU zu Nationalstaaten betreffen und damit die Spannung zwischen nationalen und europäischen Interessen. Für alle diese Fälle lässt sich dabei sagen, dass es die Unentschiedenheit und Unklarheit der EU ist, die den Kern des Problems bildet.

Unentschlossenheit und Uneinheitlichkeit nach außen

Die Krise in der Ukraine fand in dem geplatzten Abkommen mit der EU zwar nicht ihren Ursprung, wurde durch dieses Ereignis jedoch wesentlich befeuert. Als Wiktor Janukowytsch das Freihandelsabkommen mit der EU, auf das Drängen und Locken Russlands hin, kurzerhand platzen ließ, führte dies zu einer öffentlichen Polarisierung des Landes in europhile und russophile Stimmen, die in Grundzügen schon vorher vorhanden war. Das Verhalten Janukowytschs lässt sich jedoch leicht erklären, wenn man bedenkt, dass die EU der Ukraine das, was sie am dringendsten benötigte, vorenthielt: finanzielle Hilfen zur Vermeidung des drohenden Staatsbankrotts. Es war also nicht nur aus einem vordergründigen ukrainischen Interesse an einem fortbestehenden Balanceakt zwischen Russland und der EU zu erklären, sondern auch durch sein europäisches Gegenüber: eine möglichst ressourcenschonende Außenpolitik der EU. Diese bot den Hintergrund, vor welchem die russischen Angebote ihren besonderen Reiz entfalten konnten. Und in diesem Kontext ist auch die Debatte um Victoria Nulands „Fuck the EU“ zu verstehen. Wobei die Empörung darüber wohl hauptsächlich versucht, die von Nuland benannte Wahrheit zu verdrängen: Das europäische Engagement reichte weder aus Sicht der Ukraine noch aus Sicht der USA aus, um sich als entscheidender Player in diesem Spiel zu profilieren. So blieb es denn auch bis zur Eskalation der Situation bei einem hauptsächlich rhetorischen und moralischen Support seitens der euro-nationalen und europäischen Außenpolitikerinnen.
Diese Rolle hat sich zum Ende hin gewandelt. Auch wenn man noch nicht abschließend beurteilen kann, inwieweit das intensive deutsch-französisch-polnische Engagement eine weitere Eskalation der Situation in der Ukraine verhindert hat, ist doch deutlich zu Tage getreten, dass diese Kooperation, flankiert durch europäische Sanktionen, den europäischen Interessen in diesem Konflikt ein entscheidendes Gewicht verliehen hat. Nichtsdestotrotz ist es jetzt an der EU, auch den zweiten Schritt zu gehen und der Ukraine eine attraktive langfristige Perspektive zu bieten, die die Geldnot und die Interessen der Ukraine mit europäischen Vorstellungen verknüpft.
Ein weiteres Beispiel für ein zögerliches außenpolitisches Engagement im Namen der europäischen Werte und Ideen ist bei der Bewältigung der Krisen in Mali und der Zentralafrikanischen Republik zu beobachten. Während Frankreich sich in beiden Fällen für eine unmittelbare Unterstützung einsetzte, gab es auf gesamteuropäischer Ebene nur wenig Resonanz für ein europäisches Engagement: Obwohl es um nicht mehr und nicht weniger als die Vermeidung einer humanitären Katastrophe ging, deren Auswirkungen in Form von Flüchtlingsströmen die EU früher oder später sicherlich tangiert hätten, haben bisher nur Polen, Estland, Lettland, Portugal und Rumänien (neben Frankreich) eine Beteiligung an einer europäischen Mission in der Zentalafrikanischen Republik in Aussicht gestellt, über die am 27. Februar entschieden werden soll. Die Vorstellungen der deutschen Politik finden ihre Grenzen – trotz neuer außenpolitischer Ausrichtung – in einer logistischen Unterstützung und einer Entlastung Frankreichs in Mali durch die Beteiligung an einer deutsch-französischen Ausbildungsmission. Gleichzeitig zeichnet sich ab, dass Frankreich die durch die Rolle des bereitwilligen Helfers entstandenen Kosten nicht mehr ohne Weiteres tragen kann oder möchte und auf eine stärkere Europäisierung der Sicherheitspolitik drängt. Dieser wurde beim deutsch-französischen Ministergipfel jedoch nur symbolisch Rechnung getragen.

In beiden Fällen haben wir es mit einem unentschiedenen außenpolitischen Auftreten der EU zu tun. Stets bereit, moralisch und rhetorisch zu intervenieren, fehlt ihr die Möglichkeit, die benötigten Ressourcen zum entscheidenden Zeitpunkt zu mobilisieren und nach außen hin geschlossen aufzutreten. Auf der anderen Seite zeigt das Beispiel der Ukraine, dass die europäische Idee auch während der Krise noch hohe Attraktivität besitzt, während die explizite Bitte Malis und Zentralafrikas die Nachfrage nach einer entschiedenen Politik im Namen europäischer Werte auch über die direkte Nachbarschaft hinaus verdeutlicht. Dabei erhöht die „neue Bescheidenheit“ der US-amerikanischen Außenpolitik gleichzeitig den Bedarf für eine europäische Entschiedenheit. Doch das Problem der Unentschlossenheit ist auch ein Innereuropäisches, wenn es in den innereuropäischen Strukturen nicht gar seinen Ursprung findet.

Nationale Rosinenpickerei und unklare Kommunikation im Innern

Am Fall der zurückliegenden und anstehenden Volksabstimmungen in der Schweiz und  in Großbritannien, aber auch an der Debatte um die PKW-Maut für nicht-deutsche Autofahrer lässt sich dieses andere Problem der europäischen Uneindeutigkeit verdeutlichen: Es sind die Ängste der Bürgerinnen und Bürger, die die EU in den vergangenen Jahren und vor dem Hintergrund der Eurokrise als bürokratisches Schreckgespenst erlebt haben und sich – je nach Land – mehr oder weniger schnell europakritischen, populistischen Ideen anschließen. Voraussetzung dafür ist eine uneindeutige Kommunikation der europäischen Ebene, die ihrerseits auf die aktuelle Schwäche ihrer Institutionen gegenüber nationalen Interessen zurückzuführen ist.
Dabei zeigt das Beispiel der Schweiz, dass diese Ideen besonders dann erfolgreich sind, wenn sie eine möglichst große Projektionsfläche bieten: In der Schweiz wurde schon drei Mal über die Freizügigkeit abgestimmt, jedoch in den anderen Fällen immer in Verbindung mit Maßnahmen gegen Lohndumping und damit einer Antwort auf die Ängste vor einem sinkenden Lebensstandard, die sich in dieser Abstimmung nun unkontrolliert Bahn brachen. Es war also nationaler Populismus, der eine Mehrheit der Stimmen hinter sich versammeln konnte und die Schweiz nun selbst in eine missliche Lage bringt, wenn sie das Referendum in die Tat umsetzen muss und die Streichung von Fördergeldern und anderen Vorteilen intakter Beziehungen mit der EU fürchten muss.
In Deutschland treibt die CSU das gleiche Spiel, wenn sie die „Zahlmeister“-Karikatur deutscher Boulevardblätter auf die 50-€-Autobahnmaut während eines Frankreichurlaubs ausweitet und damit ebenfalls nationalen Populismus auf eine Bühne hebt, auf welcher er sich in mehr oder weniger offensichtlichem Konflikt mit EU-Normen befindet.
Die Unzulänglichkeit der Perspektive nationaler Parteien und Politikerinnen auf die europäische Ebene ist der Grund dafür, dass diese zum leichten Opfer für Populisten werden. Das Machtstreben, das sie auf nationaler Ebene an das demokratische System bindet, lässt sich europäisch im Moment nur schwer demokratisch kanalisieren. Die Befugnisse nationaler Regierungen bleiben auf europäischer Ebene idealerweise begrenzt: Da der Europäische Rat (der Regierungschefs) nur über die Europäische Kommission vermittelt Einfluss auf Gesetze nehmen kann, bietet nur der Ministerrat eine direkte, wenn auch demokratisch nicht ganz lupenreine, Entscheidungsmöglichkeit in Bezug auf Gesetze, indem er diese direkt beschließen kann. Auf dieser Ebene sieht er sich jedoch mit einem weiter Spieler konfrontiert: dem Europäischen Parlament. Diese genuin europäische Legislative befindet sich jedoch in einer misslichen Lage: der Druck von Rechtspopulisten zwingt einen Großteil des ohnehin nur schwach legitimierten Europäischen Parlaments zu einem einheitlichen Auftreten gegenüber diesen Populisten, die meist ohnehin nur am Parlament als medialer Plattform und nicht an dessen Entscheidungsprozessen interessiert sind. Dazu kommt der Pluralismus der europäischen Parteien. Das Resultat ist eine Entpolarisierung europäischer Debatten durch die gemeinsame Opposition gegen Rechtspopulisten und die notwendige Bildung großer Koalitionen sowie eine Verstärkung der informellen politischen Entscheidungen in der Trias von Parlamentsvertretern, Ministerrat und Europäischer Kommission, die meist hinter (halb-)verschlossenen Türen stattfinden.
Es sind also nationale Interessen, die auf der europäischen Ebene eine große Rolle spielen und die sich durch die Schwäche des Parlaments nicht genügend einhegen lassen: Die Minister – eigentlich ein Teil der nationalen Exekutive – bilden einen Teil der europäischen Legislative und können dieses Forum so zur Realisierung von Politiken nutzen, die im eigenen Parlament abgelehnt würden. Rechtspopulisten spielen dabei eine doppelt wichtige Rolle: sie setzen sowohl nationale Politiker als auch das Europäische Parlament unter Druck und treiben damit die eigentliche europäische Legislative in die Richtung der nationalen Regierungen. Seine eigentliche Funktion, der nationalen Ebene eine demokratisch legitimierte europäische Ebene entgegenzusetzen, kann es so nur unzureichend erfüllen – mangels genau dieser demokratischen Legitimation. Das Ergebnis ist ein kindliches Verhalten der Nationalstaaten, die austesten, wie weit sie es mit der Rosinenpickerei treiben können, bevor sie die europäische Ebene in ihre Grenzen verweist. Dass das „europäische Ganze“ unter dieser Strategie leidet, ist nur zu offensichtlich.

Wählen gehen!

Was lässt sich nach dieser Analyse im Hinblick auf die Europawahl sagen? Das Schlechte zuerst: Es ist nicht zu erwarten, dass diese Verhältnisse nach dem 25. Mai überwunden sind und eine grundsätzlich neue Situation entsteht. Des Weiteren lässt das Aufkommen von Rechtspopulisten mit vorwiegend nationaler Ausrichtung einen Wahlkampf erwarten, der hauptsächlich entlang der Linie für/gegen Europa polarisiert wird und im Hinblick auf konkrete Themen wenig bietet.

Nun das Gute: Die Europawahl bietet die Möglichkeit, dem Europäischen Parlament eine stärkere Legitimität zu verleihen. Auch wenn sie kein Allheilmittel ist, bietet die Wahlbeteiligung von zuletzt 43 Prozent im europäischen Schnitt (Deutschland: 43,3 Prozent) in dieser Hinsicht ein deutliches Potenzial nach oben. In dem Maße, wie das Europäische Parlament an demokratischer Legitimation gewinnt, ist zu erwarten, dass auch nationale Regierungen der genuin europäischen Politik mehr Rechnung tragen. Nicht zuletzt würde dies einer Hegemonie einzelner starker Staaten, wie z. B. Deutschland, in der EU entgegenwirken und kleineren Staaten mehr Mitsprache ermöglichen.

Dies setzt jedoch mehr voraus, als nur einen Habermasschen Appell für eine Repolitisierung der europäischen Debatte. Vielmehr müsste bei den Bürgerinnen und Bürgern Europas ein Umdenken stattfinden, dessen Konsequenz eine stärkere Auseinandersetzung mit der europäischen Politik wäre. Und dazu müsste das Europäische Parlament sicherlich einiges an Klarheit gegenüber seinen Bürgerinnen und Bürgern gewinnen. In diesem Zusammenhang sollte auch die Relevanz einer europäischen Öffentlichkeit für die Politisierung des Europäischen Parlaments erwähnt werden, die Erik in seinem Post herausgearbeitet hat. Jeder Schritt in Richtung einer höheren Wahlbeteiligung und einer differenzierten Auseinandersetzung mit europäischer Politik ist in dieser Hinsicht ein Schritt, mit dem man Europa entgegenkommt.

Führt man sich vor Augen, wie voraussetzungsvoll eine Stärkung des Europäischen Parlaments ist, schwindet der ohnehin schwache Optimismus zusehends. In diesem Sinne wird jedoch auch dieser Essay auf die Form eines Appells zurückgeworfen. Gerade deswegen will ich in Erinnerung rufen, dass es trotzdem nur ein stärker legitimiertes Parlament wäre, das nationale Interessen berechtigterweise in ihre nationalen Schranken verweisen könnte und damit den Boden für eine stärker inhaltliche Polarisierung der europäischen Debatten bieten würde, die eine einheitliche und klarer formulierte europäische Außenpolitik ermöglichen würde. Diejenigen, die noch nicht wissen, ob und wie sie wählen gehen sollen, fühlen sich vielleicht dadurch motiviert, dass am selben Tag (nach jetzigem Stand) auch in Kiev gewählt wird: Vielleicht schwappt so ein wenig Europabegeisterung zurück nach Europa – allen Konjunktiven zum Trotz.

Darf man die AfD als rechtspopulistisch bezeichnen?

Ein paar Gedanken in aller Spontaneität

In einer Frühkritik der „Hart aber fair“-Ausgabe vom Montag wird die Konfrontation Bernd Luckes mit dem Vorwurf des Rechtspopulismus (ab min 8:00, leider ohne Rechte an den Bildern) als unfundiert und plump dargestellt – nur weil jemand mehrfach von „entarteter Politik“ spricht, ist er noch kein Rechtspopulist. Sicher mangelt es dem Vorwurf in der Sendung an einem soliden Fundament. Hier will ich dem ersten Spatenstich einen Zweiten hinzufügen:

Roger Griffin – ein weltbekannter Faschismusforscher – hat in seinem Artikel Fascism’s new faces (and new facelessness) in the ‚post-fascist‘ epoch das Propagieren einer „Degeneration“ des Nationalstaats, einen chauvinistischen und populistischen Ultra-Nationalismus und die mythisch verklärte Sehnsucht nach einer Wiedergeburt der Nation als drei Kernkomponenten seines Idealtypus faschistischer Ideologie ausgemacht. Spätestens wenn man mit dieser Brille Luckes Rede zur – die bis vor Kurzem auf der Startseite der AfD abrufbar war – anschaut, dann stellt sich die Frage, warum Fragen der Einwanderungspolitik ausgerechnet am Beispiel der Sinti und Roma durchexerziert werden, in einer Partei, die sich in der Tradition von Bismarcks Preußen sieht und die den Nationalstaat einem integrierten Europa vorzieht.

 

Sicher kann man die AfD nicht als faschistische Partei bezeichnen – ein solcher Vorwurf wäre platt und unangemessen, aber fischen wollen sie in diesen Gewässern anscheinend gern: Sinti und Roma als Beispiel für Fragen der Einwanderungspolitik, das Poklamieren einer degenerierten(/„entarteten“) Politik und Europaskepsis – da kann man die Konturen von Griffins Idealtyp mit ein wenig Mühe erahnen und es wird fragwürdig, ob man diese Rhetorik allein mit der Spontaneität der Reden Luckes erklären kann.
Man sollte die AfD also aufmerksam beobachten. Das sieht auch Tillmann Neuscheler von der FAZ so:
Andererseits: Wer weiß schon ganz genau, was all die anderen, unbekannten Parteimitglieder sagen. Die Zukunft der AfD wird auch davon abhängen, ob der Vorwurf, die AfD sei „rechtspopulistisch“, eine Verunglimpfung ihrer politischen Gegner war, oder ob da etwas Wahrheit dahinter steckt. Allein der Vorwurf ist keine Antwort.