Zur rechten Zeit am rechten Ort – Die AfD im deutschen Parteiensystem (Teil 2)

Nachdem ich zuletzt die Alternative für Deutschland politisch verortet und als rechtspopulistisch eingestuft hatte, ist es jetzt an der Zeit, die Grundlagen ihres Erfolges zu erläutern und ihre zukünftigen Gewinnchancen auszuloten. Damals, als die Flüchtlingsfrage noch nicht das medienbeherrschende Thema war, hatte ich im Kontext ihrer Spaltung den Untergang der AfD prophezeit. Mittlerweile steht sie in Umfragen bei relativ stabilen sechs Prozent, zuletzt sogar bei acht Prozent. Habe ich mich also zu weit aus dem Fenster gelehnt? Bevor ich aber meine Vorhersage auf den Prüfstand stelle, möchte ich zunächst eine Erklärung für den Aufstieg der AfD anbieten.

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Update zu Konservatismus und Ambivalenz

Die Bundestagswahl hat eine Republik hinterlassen, deren Wahlkreiskarte erschreckend schwarz ist. Der Anblick dieses stolzen Bilds lockt auch sogleich ein paar versprengte Konservative aus der Versenkung hervor. Wolfgang Bok befindet im Cicero: „Die grüne Journaille hat versagt. Die Bundestagswahl ist ein Weckruf für den Journalismus. Die Bürger sind viel konservativer als die Medien Glauben machen wollen.“ Als Argument hat Bok nicht viel mehr anzubieten als den Wahlausgang.
In meinem Artikel über Konservatismus und Ambivalenz (unbedingt lesen! das beste, was ihr zu diesem Thema je gelesen haben werdet!) habe ich vor einigen Wochen argumentiert, dass der Konservatismus in Deutschland im Grunde am Ende sei, weil er seine Skepsis gegenüber dem Anderen, Uneindeutigen, gegenüber Ausländern und Schwulen, gegenüber alternativen Familienformen und der Vermischung der Geschlechterrollen aufzugeben im Begriff ist – und damit sein konstitutives Unterscheidungsmerkmal verliert. Das, habe ich behauptet, korreliert mit einem generellen Rückgang konservativer Positionen in der deutschen Bevölkerung. Ich finde, damit kann ich mich mit Fug zur „grünen Journaille“ zählen, auch wenn Herr Bok wahrscheinlich eher Schreiberlinge mit einer höheren Leserzahl und auf etablierteren Plattformen als diesem Blog im Blick hatte.

Darf man die AfD als rechtspopulistisch bezeichnen?

Ein paar Gedanken in aller Spontaneität

In einer Frühkritik der „Hart aber fair“-Ausgabe vom Montag wird die Konfrontation Bernd Luckes mit dem Vorwurf des Rechtspopulismus (ab min 8:00, leider ohne Rechte an den Bildern) als unfundiert und plump dargestellt – nur weil jemand mehrfach von „entarteter Politik“ spricht, ist er noch kein Rechtspopulist. Sicher mangelt es dem Vorwurf in der Sendung an einem soliden Fundament. Hier will ich dem ersten Spatenstich einen Zweiten hinzufügen:

Roger Griffin – ein weltbekannter Faschismusforscher – hat in seinem Artikel Fascism’s new faces (and new facelessness) in the ‚post-fascist‘ epoch das Propagieren einer „Degeneration“ des Nationalstaats, einen chauvinistischen und populistischen Ultra-Nationalismus und die mythisch verklärte Sehnsucht nach einer Wiedergeburt der Nation als drei Kernkomponenten seines Idealtypus faschistischer Ideologie ausgemacht. Spätestens wenn man mit dieser Brille Luckes Rede zur – die bis vor Kurzem auf der Startseite der AfD abrufbar war – anschaut, dann stellt sich die Frage, warum Fragen der Einwanderungspolitik ausgerechnet am Beispiel der Sinti und Roma durchexerziert werden, in einer Partei, die sich in der Tradition von Bismarcks Preußen sieht und die den Nationalstaat einem integrierten Europa vorzieht.

 

Sicher kann man die AfD nicht als faschistische Partei bezeichnen – ein solcher Vorwurf wäre platt und unangemessen, aber fischen wollen sie in diesen Gewässern anscheinend gern: Sinti und Roma als Beispiel für Fragen der Einwanderungspolitik, das Poklamieren einer degenerierten(/„entarteten“) Politik und Europaskepsis – da kann man die Konturen von Griffins Idealtyp mit ein wenig Mühe erahnen und es wird fragwürdig, ob man diese Rhetorik allein mit der Spontaneität der Reden Luckes erklären kann.
Man sollte die AfD also aufmerksam beobachten. Das sieht auch Tillmann Neuscheler von der FAZ so:
Andererseits: Wer weiß schon ganz genau, was all die anderen, unbekannten Parteimitglieder sagen. Die Zukunft der AfD wird auch davon abhängen, ob der Vorwurf, die AfD sei „rechtspopulistisch“, eine Verunglimpfung ihrer politischen Gegner war, oder ob da etwas Wahrheit dahinter steckt. Allein der Vorwurf ist keine Antwort.

Auf geht’s, FDP!

Wie ich gerade unserem Freund Simon schrieb:

So, lieber Simon, jetzt ist die Frage: Radikalisiert sich Deine FDP in Richtung konservativ und rechts, in Richtung Neoliberalismus, Marktglauben, Euro- und EU-Kritik, versucht sie also, die rechten CDU- und AfD-Wähler zurückzuholen? Oder wird sie endlich wieder eine echte, liberale Partei mit breitem Themenangebot, konzentriert sie sich endlich auf liberale Themen wie Demokratie und Bürgerrechte, z. B. für Homosexuelle, Migranten und Asylbewerber, auf wichtige, moderne Themen wie Datenschutz im Internet, Überwachungs- und Geheimdienstpolitik? Frank Schäffler und sein angeblich „liberaler“ Aufbruch oder Gerhart Baum, Sabine Leutheusser-Schnarrenberger  und Christian Lindner?

Das, würde ich behaupten, ist eine historische Chance.

Stell dir vor, es sind Wahlen – und keiner geht hin

Heute sind Bundestagswahlen und im Endspurt des Wahlkampfes scheint doch noch Spannung aufgekommen zu sein. Bei gleich drei Parteien (FDP, AfD, Piraten) geht es um die Frage, ob sie den Sprung über die 5-Prozent-Hürde schaffen, bei den anderen Parteien ist ebenfalls vieles offen. Die SPD, die ihre Beliebtheit in den letzten Wochen etwas stabilisieren und steigern konnte, hofft noch auf ein Überraschungsergebnis über 30 Prozent. Bei den Grünen hingegen, die lange Zeit Umfragewerte von über 15 Prozent erreichten, läuft der Trend andersherum. Sie müssen befürchten, ihr Wahlergebnis von 2009 (10,7 Prozent) zu unterbieten. Die Linken und die CDU blicken dagegen relativ entspannt auf den Wahlausgang. Während die Linke sich auf vier weitere Jahre in der Opposition vorbereitet, darf die CDU hoffen, weiterhin als stärkste Partei an der Regierung zu bleiben. Offen ist aber die Frage, mit wem die CDU koalieren kann. Bei einigen konnte das Interesse für die Wahl am Ende des über weite Strecken eher langweiligen Wahlkampfes deshalb doch noch geweckt werden. Mit Spannung erwarten Beobachter daher die Wahlbeteiligung, die 2009 auf den historischen Tiefstand von 70,8 Prozent gesunken war. Selbst wenn der Trend einer seit 1998 sinkenden Wahlbeteiligung heute gestoppt werden sollte, dürften die Nichtwähler weiterhin einen großen Anteil der Wahlberechtigten ausmachen.

Was bedeutet es aber für Politik und Demokratie in Deutschland, wenn sich ein bedeutender Anteil der Bürger für das Nichtwählen entscheidet? Manche sehen im Nichtwählen eine „Verletzung der Bürgerpflicht“, andere halten es für eine Form des Protests. Dem liegt jeweils die Vorstellung zugrunde, dass eine hohe Wahlbeteiligung Indikator für eine stabile Demokratie ist und niedrige Wahlbeteiligung Unzufriedenheit mit dem System signalisiert. Doch ist das wirklich der Fall?

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Keine voreiligen Entscheidungen: Mutti’s Road

Wie in unserem Eingangspost angedroht, wollen wir in diesem Blog nicht nur Themen anschneiden und unsere Meinungen in die Welt posaunen, sondern auch gerne ausführlich darüber diskutieren – insbesondere mit Leuten, die alles ganz anders sehen. Zu diesem Zweck werden wir in unregelmäßigen Abständen Ein- und Widersprüche von Gastautoren als eigenständige Artikel veröffentlichen. Diese Woche ist unser Gastautor Simon Basler, FDP-Mitglied aus Weil am Rhein, der derzeit in Berlin seine Master-Arbeit in Corporate Management and Economics schreibt.

Der Luxus des Entscheidens

Julian plädiert in seinem Artikel „The Road Not Taken“ für schnellere Entscheidungen, gerade in der Politik, und kritisiert das angebliche „Rumlavieren“ der derzeitigen Bundesregierung. Er weist auf die Gefahren der Multioptionsstrategie hin, beschreibt die Entscheidungsdilemmata der Generation Y und ruft uns zum Schluss dazu auf, erwachsen zu werden.

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The Road Not Taken

Two roads diverge in a wood

Manchmal gabelt sich das Leben – und dann muss man sich entscheiden. Ob das jetzt der Beruf ist, für den man fünf Jahre studiert hat, ob es doch nochmal an die Uni geht oder ob das jetzt der Partner fürs Leben ist. Wer möchte schon am Ende reumütig zurückblicken und sich denken – hätte ich mich damals doch anders entschieden.

Um die Limbostange des Lebens noch ein bisschen tiefer zu hängen, kommen solche Entscheidungen natürlich gleich im halben Dutzend. Die Reaktion ist wohlvertraut, ist sie doch mit dem Paradoxon vergleichbar, bei extrem vielen Aufgaben gar nichts mehr zu tun: Entscheidungsverweigerung.
Es hilft alles nichts – die Entscheidung muss gefällt werden.

And I, I took the road less travelled by

Vielleicht haben die Amerikaner den Poeten Robert Frost deshalb als Nationalikone auserwählt, weil er sie kollektiv von diesem Entscheidungsdilemma befreit. Vielleicht auch, weil er mit einer Klarheit und Eindringlichkeit uramerikanische Werte zu vermitteln vermag wie kein Anderer. In seinem Gedicht The Road not Taken aus dem Mountain Interval schreibt er:

I shall be telling this with a sigh
Somewhere ages and ages hence:
Two roads diverged in a wood, and I –
I took the one less traveled by,
And that has made all the difference.

Man kann sich ihn gut vorstellen, wie er seufzend erzählt, dass er vor dieser Weggabelung stand und den riskanteren Weg wählte. Und genau diese eine Entscheidung, den weniger begangenen Weg zu wählen, hat den Unterschied gemacht. Er selbst, durch seine Entscheidung, machte den Unterschied.

Es ist eine Offenbarung, die besagt, dass du für dein eigenes Leben verantwortlich bist. Implizit begründet dieses Gedicht eine Entscheidungsschwere und Ergebniskompromisslosigkeit, die bis heute meist falsch gedeutet werden. Sie stehen im direkten Gegensatz zum Schicksal, jener vom  Katholizismus geprägten europäischen Auffassung von Entscheidungsfähigkeit. Das Gedicht dagegen ist ein Manifest des Individuums und eine Ode an den Pioniergeist. Darüber hinaus ist es eine Blaupause der Entscheidungsfindung.

And that has made all the difference

Aber Frost ist keinesfalls der Einzige mit einem Beitrag zur menschlichen Entscheidungsfindung. Weniger poetisch, aber genauso unterhaltsam ist Daniel Kahneman – Psychologe, Nobelpreisträger für Ökonomie und emeritierter Berkeley-Professor. In seinem Buch Schnelles Denken, langsames Denkenfasst er die Ergebnisse seiner gemeinsam mit Amos Tversky durchgeführten Forschungen zusammen. Seinen Wirtschaftsnobelpreis erhielt er jedoch für die Modellierung menschlicher Entscheidungsfindung. Seine Errungenschaft ist eine Theorie, die über den sogenannten homo oeconomicus hinausgeht. Dieses Einhorn ordoliberaler Ammenmärchen geht davon aus, dass jeder immer rational handelt. Jeder. Immer. Die britische Wirtschaftszeitung The Economist bezeichnet den homo oeconomicus deshalb auch gerne als Mr. Spock der Entscheidungstheorie. 

Die einen wenden jetzt ein, dass sie überraschenderweise Menschen kennen, die manchmal nicht rational handeln, die Nerds unter uns weisen darauf hin, dass Mr. Spock nun mal kein Mensch sei. Eines dieser beiden Argumente muss Herrn Kahneman dazu veranlasst haben, sich auf die Suche nach einer neuen Erwartungstheorie zu machen. Was er fand, basierte auf dem alten Muster, wurde jedoch um eine lange Liste von so genannten kognitiven Verzerrungen ergänzt. Kahnemans Vorstellung, wie wir Entscheidungen treffen, ist also im Grunde vergleichbar mit der französischen Sprache – eigentlich logisch aufgebaut, aber mit so vielen Ausnahmen gespickt, dass die Regel zur Ausnahme wird. 

Diese Ausnahmen, also kognitive Verzerrungen, sind hochspannend. Sie zerfurchen unseren Entscheidungsprozess bis zur Unkenntlichkeit. Das passt jedoch überhaupt nicht ins Bild von Robert Frosts Gedicht – belügt sich der Protagonist selber, wenn er sagt, dass seine Handlungen den Unterschied gemacht haben? 

Ja, wenn es nach Kahneman geht. Und bereits mit einfachen Experimenten [http://www.youtube.com/watch?v=vJG698U2Mvo] lässt sich zeigen, wie erschreckend manipulierbar [http://www.youtube.com/watch?v=4-HxtKgKrL8] unsere Wahrnehmung ist. Unser Gehirn ist eine Sinngebungsmaschine: Damit es ins Bild (dem eigenen, der sozialen Erwünschtheit, der Erwartungshaltung) passt, verdrängt, verbiegt oder verändert unser Gehirn hemmungslos Tatsachen. Kahneman bringt das etwas nüchterner auf den Punkt:  

Die Sinngebungsmaschinerie von System I lässt uns die Welt geordneter, einfacher, vorhersagbarer und kohärenter sehen, als sie tatsächlich ist. Die Illusion, man habe die Vergangenheit verstanden, nährt die weitere Illusion, man könne die Zukunft vorhersagen und kontrollieren. Diese Illusionen sind beruhigend. Sie verringern die Angst, die wir zu spüren bekämen, wenn wir uns die Ungewissheiten des Daseins uneingeschränkt bewusst machen würden. (Kahneman, S. 254) 

Diese Illusionen der Entscheidungskompetenz und des Verstehens beeinflussen menschliches Handeln in allen Bereichen. Und das nicht nur theoretisch, sondern ganz praktisch. Über Jahre hinweg nutzte Nassim Taleb diese Erkenntnisse, um an der Börse die kognitiven Verzerrungen der Akteure gegeneinander auszuspielen. Er erkannte, dass extrem seltene Ereignisse, er nannte sie zu Ehren Karl Poppers „schwarze Schwäne“, häufiger auftreten mussten als bisher angenommen. Dies bewies er eben jener Zunft, die traditionell an das Einhorn des homo oeconomicus glaubte. Taleb forscht nicht nur weiterhin zu Risiken durch kognitive Verzerrung, sondern hat mit seinen Börsenaktivitäten über Jahre hinweg ein Vermögen erwirtschaftet.

Both needed wear

Auf einmal wirkt also der gute Robert Frost ein wenig naiv. Aber der Eindruck täuscht, denn es ist entscheidend, welchen Auszug des Gedichts man wählt. Vor der im zweiten Abschnitt erwähnten Passage schreibt er:
Then took the other, as just as fair,
And having perhaps the better claim,
Because it was grassy and wanted wear;
Though as for that the passing there
Had worn them really about the same,
Das ist unglaublich. Er beschreibt, wie er vorher zaudernd vor dieser Weggabelung steht und beide Straßen eigentlich gleich sind. Mehr noch, sie sind sogar gleich begangen. Ein paar Abschnitte weiter erzählt er dann heroisch, wie er den Unterschied machte, als er die weniger begangene Straße wählte. Er schafft es innerhalb eines Gedichtes, uns so sehr über den Tisch zu ziehen, dass wir die Reibung als Nestwärme wahrnehmen. Dieser alte Herr mit seiner klaren, sehr direkten Sprache, der Assoziation mit New Hampshire und der Affirmation traditioneller Werte hält uns vor Augen, wie sehr wir seinem kognitiven Bias unterlegen sind. Und das Schlimme ist – er klärt uns noch nicht mal auf.
In Amerika gilt Robert Frost weiterhin als Vertreter reiner, gutartiger amerikanischer Wertvorstellungen. Seine Werke sind Standardstoff jeder Highschool, wie es Goethes in Deutschland sind. Niemand gewann häufiger den Pulitzer Prize. Robert Frost ist einer von Amerikas raren „öffentlichen literarischen Personen, fast schon eine künstlerische Institution“. In der Literaturforschung ist die Einordnung des Dichters Robert Frost jedoch nicht einheitlich. In einer sehr empfehlenswerten Vorlesung widmet sich beispielsweise Kevin Murphy, Professor am Englischkolleg der Ithaca University, The Road not Taken.
Abschließend ist eine Anekdote zum 85. Geburtstags Robert Frosts zu erwähnen. Zu Frosts Ehren wurde der Literaturkritiker Lionel Trilling gebeten eine Rede zu halten. Er schockierte die Anwesenden mit dem Geständnis, dass er Frosts Gedichte erst kürzlich für ihre leicht zu übersehende Grimmigkeit zu schätzen gelernt hatte. Über Frost sagte er: „I regard Robert Frost as a terrifying poet“. Trilling musste sich aufgrund der allgemeinen Erbostheit für seine Aussagen entschuldigen. Frost jedoch nahm es ihm jedenfalls nicht übel: Not distressed at all. […] You made my birthday a surprise party”, schrieb er und fügte hinzu: „No sweeter music can come to my ears than the clash of arms over my dead body when I am down.” 

The road we should take

Wenn Frost aber diese Ambivalenz seines Gedichtes bewusst wählte, was will er uns dann vermitteln? Versucht er uns mit diesem Gedicht eine neue Maxime nahe zu legen, frei nach dem Motto: „Handle, als wenn es nur auf dich ankäme, aber wisse, dass dem nicht so ist“? Oder hat er uns einfach einen Streich gespielt?
Im richtigen Moment mal was wagen. Den Sinn für die Tragweite der Entscheidung schärfen. Man stellt sich den alten Frost vor, wie er im Schaukelstuhl sitzt, kurz die Pfeife aus dem Mundwinkel nimmt und dir zuraunt: „Junge (oder Mädchen), hier geht es um dein Leben, also nimm es gefälligst selbst in die Hand.“ Hätten meine Vorfahren mal Frost gelesen, sie wären vielleicht nicht über ein halbes Jahrtausend im selben Dorf geblieben. Hier ist die Maxime also durchaus angebracht.  
Wenn sich dein ganzer Lebensweg etwa zehn Mal gabelt, ist es schwer Einzelentscheidungen überzubewerten. Wenn aber schon der Kaffeekauf als Manifest der eigenen Charakterausprägung dienen soll, wird Roberts kleiner Streich zum handfesten Problem. Dann habe ich bei jeder Entscheidung das Gefühl, vor einer Weggabelung zu stehen. In dem Moment wird die Fülle von Optionen zur Belastung. Und Entscheidungen zur Paralyse, je mehr sie auf mich einprasseln.
Mit dieser Strategie des bloß-nichts-falsch-Machens sind wir denkbar schlecht aufgestellt. Unsere Welt ist nicht mehr das Dorf der linearen Wirkungszusammenhänge und begrenzten Optionen. Informationen, Möglichkeiten und Komplexität explodieren um uns herum wie Seerosen im Hochsommer. Jede Option einzeln zu bewerten, abzuwägen und erst dann zu entscheiden würde uns maßlos überfordern. Unser Entscheidungsvermögen ist leider mehr ein Gartentümpel als das Mittelmeer.
Was nachhaltig hilft, ist ein angestaubter Bekannter – das Prinzip. Einmal festgelegt, ist es wie der Lieblingsfußballverein, den wechselt man nicht. Manche nennen das auch einfach Haltung. Jetzt sollen ja gerade wir diese Haltung verloren haben. Wie nasse Säcke hängen wir als Generation Y zwischen den Optionen fest und wissen nicht, welches Praktikum, welche Stadt, welches Lebensmodell. Aber ganz ehrlich – wer mit 25 schon weiß, wie sein Leben verläuft, hat wahrscheinlich eine Bankausbildung gemacht. Und die Menschen mit wirklichen Multioptionalitätsproblematiken sitzen woanders.

Lassen wir diese Robert-Frost-Überschriften und kommen wir zum Eingemachten

Die Herren Black & Scholes haben es eindrucksvoll gezeigt: Optionen kosten Geld. Und zwar mehr, umso volatiler das Umfeld ist, je länger Optionen gehalten werden und je mehr man davon hat. Die Kosten lassen sich sogar ziemlich gut berechnen. Und für die Berechnungsformel des spezifischen Optionspreises gab es dann ebenfalls einen Nobelpreis. 
Optionen gibt es nicht nur an der Börse, sondern auch in der Politik, in der Wirtschaft und im Privaten. Letzteres kennen wir aus den Ferien nach dem Studium/Abi, die wir nicht mit unseren Freunden verbracht haben, sondern auf der Suche nach dem möglichst perfekten Arbeitgeber. Oder wenn der Schwarm keinen Bock mehr hatte, weil man sich einfach nicht entscheiden konnte. Oder wenn wir charakterlich so vage bleiben, dass Partygespräche zum Konsumvergleich verkommen. Wir wollen uns nicht festlegen oder unsere Optionen erweitern, und dafür zahlen wir selber den Preis.
Das ist in der Politik anders. Hier ist der Politiker nur Agent für seine Wähler und idealerweise auch für die Menschen, die von seiner Politik betroffen sind. Die Konsequenzen seiner Handlung bekommt er nur indirekt zu spüren. Die Kosten für Optionen trägt also jemand anders. Das ist kritisch, denn es liefert einen Anreiz, sich Optionen zu bedienen und die Kosten an die Allgemeinheit auszulagern.  
Politische Optionen so lange wie möglich zu halten scheint jedoch gerade die Krankheit der jetzigen deutschen Bundesregierung zu sein. Verzögern, aussitzen, ablenken und umschwenken sind ihre Symptome. Die Behandlung der eigenen Minister, die Eurokrise und die Energiewende sind ihre Krankenakten.
Wir werden gerade Zeugen einer Tragödie in Syrien. Hier geht es um viel mehr als nur um Geld, aber die Dringlichkeit schneller politischer Einflussnahme ist hier ebenfalls gegeben. Nicht umsonst werden kriegerische Konflikte mit Brandherden verglichen, die es schnell zu löschen gilt. Nervt die übliche Wahrung aller politischen Optionen der deutschen Bundesregierung bis zuletzt in anderen Angelegenheiten, ist sie hier kaum zu ertragen. Diese Option ist teuer erkauft.
Eine andere politische Option der Bundesregierung bezahlen wir nicht in Geld oder außenpolitischem Ansehen, sondern mit Risiko. Auf die Enthüllungen massiver Überwachungsprogramme der Briten und Amerikaner folgte von der Bundesregierung keine eindeutige Stellungnahme. Eine Teilnahme würde eine aktive Steuerung ermöglichen, eine entschiedene Ablehnung wäre die Voraussetzung für den Schutz der Bürger vor ausländischer Überwachung. Eine Haltung wurde jedoch nicht gefunden.
Hier zeigt sich die wirkliche Gefahr einer Multioptionsstrategie zur Wahrung des politischen Kapitals. Das Risiko massiver Überwachung macht sich im Alltag nicht bemerkbar. Meine Mails passieren unbemerkt den Filter und meine Facebook-Nachrichten werden auch nicht geöffnet, weil ich eben nicht ins Raster falle: Meine Daten sind zentral gespeichert, aber keiner greift sie ab. Die Art des Risikos liegt jedoch nicht in seiner alltäglichen Ausprägung, sondern in seinen Extrema: den extrem unwahrscheinlichen Ereignissen, den schwarzen Schwänen, vor denen Nassim Taleb zu warnen versuchte und durch die er so reich wurde. Unser schwarzer Schwan ist, dass uns die Kontrolle über diese Instrumente entgleitet. Das ist zugegebenermaßen extrem unwahrscheinlich, aber das sagte man auch über den Börsensturz 1987 und den 2001 und den 2008. Die eigenen Bürger vor diesem Risiko zu schützen, kostet politisches Kapital in Zeiten, in denen alles doch so einfach sein könnte.
Informationen durch die Komplexitätsreduktionswundermaschine gedreht zu bekommen, bis sie weich und kuschelig sind, bringt uns nichts. Wir brauchen keine Mutti, die unsere Entscheidungen trifft. Es wird Zeit, erwachsen zu werden. Es wird Zeit, Haltung zu zeigen.
Bald haben wir wieder die Wahl.

Konservatismus und Ambivalenz – Eine neue deutsche Möglichkeit

Eine Vorwarnung: Dieser Beitrag ist positiv und optimistisch. Damit der Schock nicht zu groß wird, beginne ich aber mit einer empörenden und traurigen Geschichte, wie gewohnt, nämlich der Geschichte über die Kofferträger von Schwäbisch Gmünd, die vor einigen Wochen durch die Medien ging. Sie geht so: Am Bahnhof von Schwäbisch Gmünd, einem erzkatholischen Städtchen in Baden-Württemberg, wird gebaut. Nun führt nur ein Metallsteg zu den Bahnsteigen, 54 Stufen rauf, 54 Stufen runter, ein großes Problem für Alte, Behinderte, für Leute mit zu schwerem Gepäck. Richard Arnold, CDU, Oberbürgermeister der Stadt, schwul, offen, engagiert, hatte eine Idee. Die Asylbewerber, die dank deutschem Asylrecht in einem Heim zusammengepfercht leben, wo sie kaum etwas zu tun haben, als jahrelang auf ihren Bescheid zu warten, könnten helfen. Das hat in Gmünd schon öfters funktioniert, Arnold kümmert sich schon länger um die Asylbewerber, versucht, sie am Gmünder Leben teilhaben zu lassen, zum Beispiel als Theaterdarsteller. Er bot ihnen deshalb an, am Bahnhof auszuhelfen; eine ganze Reihe der Asylbewerber meldete sich freiwillig. Sie wollten sich einbringen, mithelfen, in Kontakt kommen, sicher auch die Langeweile bekämpfen. Das einzige Problem war die Bezahlung, denn – again – dank deutschem Asylrecht darf den Asylbewerbern nur 1,05 Euro pro Stunde gezahlt werden. Dass das viel zu wenig ist, war allen Beteiligten klar; das Gesetz ändern kann aber nur die Bundespolitik. So blieb Arnold nur, den Reisenden zu empfehlen, beim Trinkgeld nicht knauserig zu sein.
 

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