Die Krim ist für die Ukraine verloren. Da können sich die ukrainische Regierung und der Westen noch so sehr auf das Völkerrecht und die ukrainische Verfassung berufen. Russland wird die Halbinsel nicht mehr verlassen.
Was folgt in den nächsten Wochen? Die große Gefahr besteht darin, dass Bevölkerungsteile im Osten der Ukraine ebenfalls einen Anschluss an Russland fordern könnten. Anders als auf der Krim wäre dies in Donezk, Kharkiv oder Luhansk um einiges gefährlicher. Denn hier empfindet sich der Großteil der Bevölkerung trotz der Russischsprachigkeit dennoch als Ukrainer. Zwar sind die Menschen hier aufgrund der geographischen Nähe und der gemeinsamen Geschichte stärker an einer kulturellen und wirtschaftlichen Kooperation mit Russland interessiert. Daraus einen Wunsch nach Anschluss oder Übernahme abzuleiten ist jedoch verwegen. Schließlich fühlt sich Bayern wirtschaftlich und kulturell auch enger mit Österreich verbunden als mit den Niederlanden. Ein militärisches Eingreifen Russlands in diesen Landesteilen würde zu Blutvergießen und Bürgerkrieg führen. Die Folgen wären unabsehbar, vor allem dann, wenn sich die NATO im Angesicht von Gewalt und Krieg in der Mitte Europas zu einem eigenen Eingreifen gezwungen sieht.
Anstatt den Konflikt zwischen dem Westen und Russland durch politische Kampfrhetorik und Konfrontation anzuheizen, sollte intensiv über gemeinsame Projekte beraten werden. Ein solches Projekt kann die Zukunftsfähigkeit der Ukraine sein. Was diese braucht, sind vor allem neue staatliche Strukturen. Neben einer Schwächung des mächtigen Präsidenten und einer Stärkung von Parlament und Regierung, die bereits durch die wieder eingeführte Verfassungsänderung angegangen wurde, muss es vor allem um den Aufbau föderaler Strukturen gehen. Es ist müßig den Politikwissenschaftler Arend Lijphart zu zitieren, da es keinen Akademiker braucht um zu erkennen, dass es gerade bei heterogenen Gesellschaften wie der ukrainischen sowie aufgrund der großen geographischen Distanzen unvernünftig ist, eine zentralistische und alleinentscheidende Regierung zu haben, die von gut 50 Prozent der Bevölkerung als illegitim betrachtet wird. Marcel Röthig von der Friedrich-Ebert-Stiftung sowie der ehemalige US-Außenminister Henry Kissinger haben sich zuletzt ausführlich zu den Chancen des Föderalismus in der Ukraine geäußert. Ergänzen kann man folgende Punkte:
Um den Konflikt zu entschärfen sowie der Ukraine und den europäisch-russischen Beziehungen mittelfristig wieder eine positive Zukunft zu bescheren, müssen die Akteure vor allem auf die Arbeitsebene zurückkehren. Sicher soll und wird sich auch weiterhin die politische Prominenz öffentlich äußern, um nicht den Eindruck von Gleichgültigkeit zu erwecken. Gleichzeitig darf es nicht erneut zu einer verfahrenen Situation kommen, in der die Beteiligten einen Gesichtsverlust fürchten müssen und sich daher beharrlich zeigen. Eine Verfassungsreform und eine daran gekoppelte Umstrukturierung des ukrainischen Staatswesens kann ein gemeinsames Projekt der Konfliktparteien werden. Insbesondere Deutschland und Russland verfügen über viel Erfahrung bei der Errichtung und Steuerung föderaler Strukturen.
Es wäre entschärfend, wenn am Verhandlungstisch nicht Vladimir Putin und Angela Merkel, sondern zum Beispiel der Staatssekretär des Innenministeriums des Landes Nordrhein-Westfalen, der Minister für internationale Angelegenheiten des Landes Baden-Württemberg, der Europaminister des Freistaates Bayern oder Beamte auf Referats- und Abteilungsleiterebene aus den Ländern mit ähnlichrangigen Vertretern aus den Regionen Rostov, Nizhny Novgorod oder St. Petersburg gemeinsam mit Vertretern der Ukraine über eine föderale Verfassungsänderung und die praktische Umsetzung diskutierten. Durch verschiedene Arbeitsgruppen zu Themen wie Gesundheit, Umwelt oder Bildung können feste Arbeitsstrukturen und gegenseitiges Vertrauen aufgebaut werden. Auf diesen Ebenen bestehen bereits funktionierende Kanäle, Netzwerke, teilweise Vertrauen sowie wirtschaftliche, soziale und kulturelle Kooperationen und Abhängigkeiten. Institutionen wie Stiftungen, Wirtschaftsverbände oder Handelskammern können solche Arbeitskreise beratend ergänzen. Durch die Verlagerung auf niedrigere Hierarchieebenen und damit „unbekanntere Gesichter“ würde die mediale Aufmerksamkeit vermindert und ließe den Akteuren den notwendigen Raum für die Arbeit an der Sache.
Es darf nicht weiterhin ein Gegeneinander der Beteiligten geben. Nur gemeinsames Handeln der Konfliktparteien kann Stabilität, Frieden und Wohlstand für den europäischen Kontinent ermöglichen. Dass in der Ukraine aus Furcht um die Eigenständigkeit Vorbehalte gegen solche Arbeitsgruppen bestehen ist verständlich. Jedoch muss der Ukraine klar gemacht werden, dass eine Transformation zu Rechtsstaatlichkeit und Demokratie ohne Hilfe von außen nicht erfolgreich sein kann. Dafür gab es in den letzten Jahrzehnten hinreichend viele Beispiele – unter anderem die Ukraine selbst nach 2004. Auch der Einbezug Russlands wird insbesondere bei der aktuellen ukrainischen Regierung und vor allem der Maidanbewegung auf Widerstände stoßen. Die letzten Wochen haben jedoch gezeigt, dass eine Lösung ohne Russland nicht möglich ist.
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In beiden Fällen haben wir es mit einem unentschiedenen außenpolitischen Auftreten der EU zu tun. Stets bereit, moralisch und rhetorisch zu intervenieren, fehlt ihr die Möglichkeit, die benötigten Ressourcen zum entscheidenden Zeitpunkt zu mobilisieren und nach außen hin geschlossen aufzutreten. Auf der anderen Seite zeigt das Beispiel der Ukraine, dass die europäische Idee auch während der Krise noch hohe Attraktivität besitzt, während die explizite Bitte Malis und Zentralafrikas die Nachfrage nach einer entschiedenen Politik im Namen europäischer Werte auch über die direkte Nachbarschaft hinaus verdeutlicht. Dabei erhöht die „neue Bescheidenheit“ der US-amerikanischen Außenpolitik gleichzeitig den Bedarf für eine europäische Entschiedenheit. Doch das Problem der Unentschlossenheit ist auch ein Innereuropäisches, wenn es in den innereuropäischen Strukturen nicht gar seinen Ursprung findet.
Nun das Gute: Die Europawahl bietet die Möglichkeit, dem Europäischen Parlament eine stärkere Legitimität zu verleihen. Auch wenn sie kein Allheilmittel ist, bietet die Wahlbeteiligung von zuletzt 43 Prozent im europäischen Schnitt (Deutschland: 43,3 Prozent) in dieser Hinsicht ein deutliches Potenzial nach oben. In dem Maße, wie das Europäische Parlament an demokratischer Legitimation gewinnt, ist zu erwarten, dass auch nationale Regierungen der genuin europäischen Politik mehr Rechnung tragen. Nicht zuletzt würde dies einer Hegemonie einzelner starker Staaten, wie z. B. Deutschland, in der EU entgegenwirken und kleineren Staaten mehr Mitsprache ermöglichen.
Dies setzt jedoch mehr voraus, als nur einen Habermasschen Appell für eine Repolitisierung der europäischen Debatte. Vielmehr müsste bei den Bürgerinnen und Bürgern Europas ein Umdenken stattfinden, dessen Konsequenz eine stärkere Auseinandersetzung mit der europäischen Politik wäre. Und dazu müsste das Europäische Parlament sicherlich einiges an Klarheit gegenüber seinen Bürgerinnen und Bürgern gewinnen. In diesem Zusammenhang sollte auch die Relevanz einer europäischen Öffentlichkeit für die Politisierung des Europäischen Parlaments erwähnt werden, die Erik in seinem Post herausgearbeitet hat. Jeder Schritt in Richtung einer höheren Wahlbeteiligung und einer differenzierten Auseinandersetzung mit europäischer Politik ist in dieser Hinsicht ein Schritt, mit dem man Europa entgegenkommt.
Führt man sich vor Augen, wie voraussetzungsvoll eine Stärkung des Europäischen Parlaments ist, schwindet der ohnehin schwache Optimismus zusehends. In diesem Sinne wird jedoch auch dieser Essay auf die Form eines Appells zurückgeworfen. Gerade deswegen will ich in Erinnerung rufen, dass es trotzdem nur ein stärker legitimiertes Parlament wäre, das nationale Interessen berechtigterweise in ihre nationalen Schranken verweisen könnte und damit den Boden für eine stärker inhaltliche Polarisierung der europäischen Debatten bieten würde, die eine einheitliche und klarer formulierte europäische Außenpolitik ermöglichen würde. Diejenigen, die noch nicht wissen, ob und wie sie wählen gehen sollen, fühlen sich vielleicht dadurch motiviert, dass am selben Tag (nach jetzigem Stand) auch in Kiev gewählt wird: Vielleicht schwappt so ein wenig Europabegeisterung zurück nach Europa – allen Konjunktiven zum Trotz.
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Dieser Artikel ist der erste, den wir in zwei Sprachen publizieren. Eine deutsche Version findet sich weiter unten.
„A European public sphere needs a strong European Parliament – and vice versa“ weiterlesen
Der jüngste EU-Gipfel eignete sich wiedermal nicht, um große Schlagzeilen zu generieren. Neben dem Streit um die Haushaltsmittel und einem Programm gegen die Jugendarbeitslosigkeit, das von vielen Seiten als unzureichend kritisiert wird, ist kaum etwas vorzuweisen. Stattdessen werden nationale Interessen verstärkt in den Vordergrund gestellt und eine aufgeklärte politische Diskussion über Sinn und Struktur einer stärkeren Union bleibt aus. Dabei sind die Probleme drängend und der Nationalstaat alleine scheint ihnen kaum gewachsen. Der EU droht eine ganze Generation verloren zu gehen, die durch Perspektivlosigkeit in die Opposition getrieben wird. Es wird Zeit, dass man ihre Proteste ernst nimmt.
Dabei wäre es nur zu wichtig, dass die immer wieder angestoßene Diskussion über den weiteren Integrationsprozess am Leben gehalten wird: Andere Teilbereiche der Gesellschaft haben die nationalstaatlichen Grenzen längst hinter sich gelassen. Die wirtschaftliche Krise der letzten Jahre hat sich auch deswegen zu einer politischen Krise entwickelt, weil es keinen politischen Rahmen gibt, um die Entwicklungen der globalen und europäischen Wirtschaft zu bearbeiten.
Der Nationalstaat scheint vor diesem Hintergrund immer häufiger als ein zu enges Korsett für eine effiziente Politik. Längst wird ein großer Teil der deutschen Gesetze in Brüssel verabschiedet. Auch die Interventionen des Europäischen Gerichtshofes verdeutlichen, dass der Integrationsprozess die Souveränität der einzelnen Staaten längst beschnitten hat. Am deutlichsten erfahren das sicher die Menschen in den Ländern, die aktuell von der Troika überwachte Strukturreformen durchführen müssen – ob sie wollen oder nicht. Gleichzeitig drängen andere Player auf die Bühne der internationalen Politik, die das Selbstverständnis der europäischen Nationen langsam aber sicher in seine Schranken weisen. Mit dem wachsenden Selbstbewusstsein Chinas und Russlands erscheinen selbst Länder wie Deutschland immer kleiner – wer kann schon sagen, wie eine europäische Krisenpolitik in Zukunft aussehen könnte, wenn China und Indien den IWF dominieren?
Doch anstatt die Krise als einen Motor für weitere Schritte anzusehen, wird der Nationalstaat wieder vermehrt in den Vordergrund gestellt: Eurokritische Parteien gibt es in jedem Staat. Aber auch die aktuelle deutsche Regierung genießt ihre komfortable Position durch ihr politisches und wirtschaftliches Gewicht und sieht keine Notwendigkeit zur Veränderung der Entscheidungsprozesse innerhalb der EU. Gerade das Minimum an notwendiger Abstimmung zwischen den Staaten wird realisiert. Doch am Ende versucht jede Regierung, ihre Schäfchen ins Trockene zu bringen.
Ein entscheidender Punkt scheint in diesem Zusammenhang in den inneren Problemen der europäischen Staaten zu bestehen. Das in der Nachkriegszeit etablierte Modell der Parteiendemokratie hat mit sinkender Zustimmung zu kämpfen. Dafür ist nicht zuletzt das Modell der Wählermobilisierung über den Wohlfahrtsstaat verantwortlich. Über Jahrzehnte hinweg wurden den WählerInnen immer neue Leistungen versprochen, um sie für die eigene Partei an die Wahlurne zu rufen. Doch die steigenden Staatsschulden lassen vor dem Hintergrund der weltweiten wirtschaftlichen Verflechtungen und des demografischen Wandels immer mehr Zweifel am Fortbestand dieses Systems – zumindest in seiner jetzigen Form. Andererseits trauen sich ParteipolitikerInnen nicht, Leistungen zurückzunehmen oder eine ernsthafte Reform der Sicherungssysteme zur Diskussion zu stellen. Allein die Familienförderung in Deutschland umfasst 150 verschiedene Leistungen und der Dschungel an Steuergesetzen scheint weitestgehend unbekanntes Gebiet. Die Pflegereform wird immer wieder verschoben und die Lebensleistungsrente stellt für viele junge Menschen keine ausreichende Motivation für einen Urnengang dar.
Die Politik hat sich in eine vertrackte Situation manövriert. Um WählerInnen und Sozialstaat erhalten zu können, ist eine gute Wirtschaftspolitik nötig. Zur gleichen Zeit offenbaren sich genau hier die oben angerissenen Grenzen des nationalstaatlichen Horizonts: Wirtschaft – vor allem die Finanzmärkte – denkt und agiert längst global und selbst bei authentischem Kampfeswillen wird sie sich wohl nicht im nationalen Alleingang „an die Kette legen lassen”. Ein Ausweg wäre die Flucht nach vorn. Auch hier lauern viele Probleme und Risiken, doch es winkt auch ein neues Verständnis von Staatlichkeit mit neuen Freiheiten und Gestaltungsmöglichkeiten. Die andere Option ist der Weg zurück. Ein Großteil der WählerInnen und PolitikerInnen sind anscheinend nicht bereit, die aktuellen Denkmuster zumindest infrage zu stellen. Und so bietet sich auch der Rekurs auf die Nation an, um die Legitimität der eigenen Politiken sicherzustellen. In den Nachrichten begegnen einem daher auch immer häufiger diese Muster, die teilweise schon abgeschrieben wurden. So wird die europäische Integration von vielen Seiten in immer weitere Ferne gerückt, um auf Probleme zu reagieren, die innerhalb der Union womöglich sogar einfacher zu lösen wären.
Diese beiden Möglichkeiten prägen auch die politischen Landschaften Europas und treten dort am klarsten zutage, wo eine Entscheidung unausweichlich wird: In den krisengebeutelten Staaten Südeuropas und den kleineren Staaten, die längst realisiert haben, dass nur die EU ihnen auch zukünftig die Möglichkeit der Mitbestimmung bietet. Doch hier macht sich die mangelnde Identifikation mit der Union bemerkbar. Es ist kaum möglich Programme zur Bekämpfung der Jugendarbeitslosigkeit auf die Beine zu stellen, da PolitikerInnen und SteuerzahlerInnen nicht gewillt sind, Geld abzugeben.
Dabei steht viel auf dem Spiel. Gerade die Jugendarbeitslosigkeit zeigt, dass ein Umdenken erforderlich ist. Und nicht nur in Europa werden die Forderungen nach mehr Gestaltungsmöglichkeiten für die Zukunft und Rücksicht auf die Belange junger Menschen immer häufiger auf die Straßen getragen. Denn hier werden die Weichen für die Zukunft schon gestellt – die jungen Menschen, die keine Perspektiven sehen und die EU immer häufiger als Bösewicht oder Papiertiger erleben, sollen dieses Projekt einmal fortführen und tragen. Ihnen ist das Globale näher als den vorhergegangenen Generationen und sie haben (noch) keine Rentenversicherungen und Eigenheime und somit auch weniger zu verlieren.
Sicherlich ist jetzt keine blinde Reformwut gewünscht und in diesem Sinne muss von beiden Seiten Dialogbereitschaft bestehen. Aber ein entschiedener Schritt nach vorne muss getan werden. Und in diesem Sinne ist auch die Wahl zwischen zurück oder Zukunft keine wirkliche. Denn durch Politik lässt sich die Globalisierung längst nicht mehr aufhalten. So werden die Reformen früher oder später doch notwendig – es stellt sich dann nur die Frage, ob die Politik und ihre Projekte dann noch auf Menschen treffen, die ihnen ihr Vertrauen leihen. Es wäre für PolitikerInnen an der Zeit, dieses Neuland zu betreten – noch haben sie die Möglichkeit, seine Bewohner dabei mitzunehmen.