Wider die Matinalnormativität!

„Morgenstund hat Gold im Mund.“
„Der frühe Vogel fängt den Wurm.“
„Am Abend wird der Faule fleißig.“
Jede_r hat mindestens einen dieser Sätze schon mal hören müssen. Den Wenigsten wird allerdings bewusst, dass dabei ein Ordnungssystem unserer Gesellschaft sichtbar und gleichzeitig reproduziert wird: die Matinalnormativität. Denn Frühaufstehen gilt als Tugend und Matinalisten als leistungsfähig, lang oder zeitversetzt Schlafende dagegen als faul und nutzlos. Diese Norm strukturiert die gesamte Gesellschaft, ohne dass dies hinterfragt oder überhaupt als Missstand wahrgenommen wird.

Die Matinalnormativität der Gesellschaft

Es fängt bereits bei den Kleinsten an. Der Unterricht an den Schulen beginnt in der Regel um acht Uhr. „Zeitig“ nennen das manche ganz unverfroren euphemistisch, obwohl doch zehn Uhr ebenso eine Zeit wäre. Studien zeigen, dass Kinder um acht Uhr morgens in etwa so konzentriert sind wie um 12 Uhr abends. Den Matinalisten ist egal, dass dadurch viel Potenzial auf der Strecke bleiben muss, solange nur weiterhin dem Wecker gehuldigt wird. Das bedeutet im Endeffekt, dass die Kinder aufstehen müssen, wenn die Sonne noch nicht einmal an’s Aufgehen denkt. So wird ihnen schon im jungen Alter eingebläut, dass die Nacht nur dann etwas wert ist, wenn sie zum Morgen umgedeutet wird.

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Vote but for whom? – Die Qual der Wahl

English below

Da hat man sich als Deutsche_r oder Österreicher_in erst vor wenigen Monaten zu einer möglichst fundierten Wahlentscheidung durchgerungen, schon steht die Europawahl vor der Tür. Diesmal kann man allerdings die Positionen der Bewerber_innen wie auch die relevanten Fragen der Europapolitik noch weniger einschätzen. Woher also soll man wissen, wo man sein Kreuz diesmal zu machen hat?

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One day, Babo, werden wir Lanz entlassen

In den letzten Wochen haben es mal wieder einige Debatten, die im Internet angestoßen wurden, in die deutschen Zeitungen geschafft. Da war ein junger CSU-Politiker, der sein Image bei Jungwählern mit einem Wahlplakat samt Straßenrapperzitat aufwerten wollte und damit als geschniegelter Anzugträger der konservativen Partei grandios scheiterte, eine Poetry-Slammerin, die uns an die Kürze des Lebens erinnerte und zum Dopamin-Vergeuden aufrief, und eine linke Betriebsrätin aus Leipzig, die nach der Lanzsendung vom 16. Januar über den Umgang mit der Linken-Politikerin Sahra Wagenknecht derart erbost war, dass sie in einer Onlinepetition die Absetzung von Markus Lanz forderte. All diese Erscheinungen wurden in den sozialen Netzwerken mit der dem Internet eigenen Geschwindigkeit weitergeleitet und erreichten so zehntausende Nutzer. Nun kann man sich über die Belanglosigkeit dieser Themen aufregen: Wer Lanz nicht mag, braucht schließlich nicht einzuschalten, und mit dem Rundfunkbeitrag wird sicherlich einiges finanziert, das deutlich zweifelhafter ist. Wer dem Alltagstrott entkommen möchte, braucht dafür keine geschauspielerten Videos auf YouTube, sondern besondere Erlebnisse. Und wer als junger Mensch die CSU wählen wollte, bei dem ist sowieso Hopfen und Malz verloren.

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A European public sphere needs a strong European Parliament – and vice versa

This article is the first we publish in two languages. For the German version see below.
Dieser Artikel ist der erste, den wir in zwei Sprachen publizieren. Eine deutsche Version findet sich weiter unten.

Travelling circus coming to an end?
The European Parliament has just decided (Heads up: Brussels‘ officialese), in form of a non-legislative resolution, to seek to alter the Treaty of the Functioning of the European Union. The parliament, whose location has thus far been decided by the member states, wants to determine its seat on its own. The background for this decision is the fact that the EP is, at the moment, based in three different cities: Luxembourg, Strasbourg and my current home Brussels. This set-up is seen as expensive, arduous, bad for the environment and the reputation, but it is however enshrined in the treaties. The parliament now officially opposes this “compulsory and excessive travelling circus“ as Green deputy Gerald Häfner described it.
This resolution of the European parliament illustrates two things: On the one hand it may show that the parliament is emancipating itself from the other EU-institutions and the member states – with the members deciding matters against the will of the member states‘ governments. On the other hand, the ongoing ineptitude of the EP becomes evident, as it is missing a basic right: To decide on when and where it wants to congregate. Indeed, the parliament has been strengthened by the Treaties of Maastricht in 1992 and Lisbon in 2007 and now has co-legislative powers within the EU. Nevertheless, the EP still does not have the right to initiate legislation and can only confirm the composition of the European Commission, which acts virtually the European government. Furthermore, this parliament has to share legislative authority with the Council of the European Union (aka Council of Ministers), which represents the national governments as opposed to the European citizens.

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Hamed Abdel-Samad wieder frei!

Update: In einem Interview hat Hamed Abdel-Samad nun Auskunft darüber gegeben, was mit ihm passiert ist.

Wie sein Freund Kacem Al Ghazzali auf Facebook berichtet, ist Hamed Abdel-Samad wieder frei und in Sicherheit. Walid Malik schreibt, Hamed gehe es „den Umständen entsprechend sehr gut“. Er wurde Dienstag Abend von der ägyptischen Polizei befragt.

Spiegel Online, deren Team mit seinem Bruder gesprochen hat, berichtet, Hamed Abdel-Samad sei in Kairo in der Nähe des Al-Azhar-Parks von vier Unbekannten gepackt und in einen Minibus gezerrt worden. Die Entführer zogen Abdel-Samad einen Sack über den Kopf und fuhren mehrere Stunden. Der Entführte wurde in ein Gebäude getrieben und dort unter Gewalt zur Unterschrift verschiedener Dokumente gezwungen, vermutlich Schuldscheine. Wertgegenstände und Uhr wurden ihm abgenommen. Die Entführer setzten Hamed Abdel-Samad zwei Tage später in der Nähe des Kairoer Flughafens aus; er wurde anschließend von einem vorbeifahrenden Auto mitgenommen und zur nächsten Polizeistation gebracht. Mahmud Abdel-Samad vermutete, das internationale Aufsehen hätte zu seiner verhältnismäßig schnellen Freilassung beigetragen.

Die ägyptische Polizei berichtet, dass hinter der Entführung vermutlich ehemalige Geschäftspartner Abdel-Samads stehen, die ihm Geld schuldeten. Er hatte ihnen das Geld als Investition in Infrastruktur in Ägypten zukommen lassen. Dabei soll es laut Spiegel Online um 241.000 Euro gegangen sein. Anderswo war von 250.000 Ägyptischen Pfund die Rede, etwa 27.000 Euro

Mehrere Medien berichten, dass Hamed Abdel-Samad neben Verletzungen an Kopf, Augen und Rücken psychisch sichtlich angeschlagen wirke. Mittlerweile ist er zurück in Deutschland und möchte sich eine Auszeit nehmen. Sein erstes Interview nach der Entführung gab Abdel-Samad dem Spiegel. Dort brachte er insbesondere seine Enttäuschung über die ägyptischen Behörden zum Ausdruck.

Stand 30. November 2013, 19.55 Uhr

Von Erik & Sören

Deutsch-ägyptischer Publizist und Aktivist Hamed Abdel-Samad entführt

Mit Entsetzen haben wir erfahren, dass der deutsch-ägyptische Publizist und säkulare Aktivist Hamed Abdel-Samad gestern, am 24. November 2013, in Kairo entführt wurde. Abdel-Samad, der in Ägypten geboren und aufgewachsen ist und mit 23 Jahren nach Deutschland kam, ist dem deutschen Publikum insbesondere aus seinen Deutschland- und Europasafaris (Entweder Broder) mit Henryk Broder und als Experte in Fernsehshows zu den Themen Islam und Ägypten bekannt. Im Arabischen Frühling hat er in Ägypten zunächst gegen den Diktator Mubarak, später gegen den islamistischen Präsidenten Mursi demonstriert. Gegen Abdel-Samad wurden schon mehrfach Morddrohungen und Fatwas ausgesprochen, zuletzt im Sommer 2013, nachdem er in Kairo einen Vortrag über Faschismus und Islam gehalten hatte.

Nähere Hintergründe zu seiner Entführung sind noch nicht bekannt, doch gibt es Anlass zu größter Sorge. Wir rufen die deutsche und die ägyptische Regierung dazu auf, alles in ihrer Macht Stehende zu tun, um Abdel-Samad unbeschadet aus den Fängen der Entführer zu befreien und wünschen ihm alles erdenklich Gute!

Weiteres zum Thema:

Stell dir vor, es sind Wahlen – und keiner geht hin

Heute sind Bundestagswahlen und im Endspurt des Wahlkampfes scheint doch noch Spannung aufgekommen zu sein. Bei gleich drei Parteien (FDP, AfD, Piraten) geht es um die Frage, ob sie den Sprung über die 5-Prozent-Hürde schaffen, bei den anderen Parteien ist ebenfalls vieles offen. Die SPD, die ihre Beliebtheit in den letzten Wochen etwas stabilisieren und steigern konnte, hofft noch auf ein Überraschungsergebnis über 30 Prozent. Bei den Grünen hingegen, die lange Zeit Umfragewerte von über 15 Prozent erreichten, läuft der Trend andersherum. Sie müssen befürchten, ihr Wahlergebnis von 2009 (10,7 Prozent) zu unterbieten. Die Linken und die CDU blicken dagegen relativ entspannt auf den Wahlausgang. Während die Linke sich auf vier weitere Jahre in der Opposition vorbereitet, darf die CDU hoffen, weiterhin als stärkste Partei an der Regierung zu bleiben. Offen ist aber die Frage, mit wem die CDU koalieren kann. Bei einigen konnte das Interesse für die Wahl am Ende des über weite Strecken eher langweiligen Wahlkampfes deshalb doch noch geweckt werden. Mit Spannung erwarten Beobachter daher die Wahlbeteiligung, die 2009 auf den historischen Tiefstand von 70,8 Prozent gesunken war. Selbst wenn der Trend einer seit 1998 sinkenden Wahlbeteiligung heute gestoppt werden sollte, dürften die Nichtwähler weiterhin einen großen Anteil der Wahlberechtigten ausmachen.

Was bedeutet es aber für Politik und Demokratie in Deutschland, wenn sich ein bedeutender Anteil der Bürger für das Nichtwählen entscheidet? Manche sehen im Nichtwählen eine „Verletzung der Bürgerpflicht“, andere halten es für eine Form des Protests. Dem liegt jeweils die Vorstellung zugrunde, dass eine hohe Wahlbeteiligung Indikator für eine stabile Demokratie ist und niedrige Wahlbeteiligung Unzufriedenheit mit dem System signalisiert. Doch ist das wirklich der Fall?

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links rechts geradeaus – Hauptsache gegen Israel

Ein grünes, gehörntes Wesen mit roten Warzen, spitzen, abstehenden Ohren, Stoßzähnen und unterschiedlich großen Augen sitzt aufrecht im Bett – ein Monster. Wartend, eine Gabel in der linken und ein großes Messer in der rechten Hand, beäugt das Monster ein Zimmermädchen, das im Vordergrund, aber nur von hinten zu sehen ist. In ihren Händen trägt die Dame ein gefülltes Frühstückstablett, das sie dem Monster servieren wird.

Israel als gefräßiger Moloch

Die Bildunterschrift verrät, wer dargestellt wird: „Deutschland serviert. Seit Jahrzehnten wird Israel, teils umsonst, mit Waffen versorgt. Israels Feinde halten das Land für einen gefräßigen Moloch.“ Wir haben also Germania als Zimmermädchen und den Judenstaat als gefräßigen Dämon.

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Neuland

Willkommen auf dem Blog Unsere Zeit! Wir, vier Studenten in Berlin, Friedrichshafen und Bielefeld, beobachten Zustände und Entwicklungen der Gegenwart und kommentieren diese über Blogeinträge. In einer Zeit, deren zunehmende Komplexität das Einnehmen klarer Standpunkte immer schwieriger macht, wollen wir Positionen und Argumente entwickeln, die uns und euch anregen, euer Denken im Idealfall weiterbringen und euch gerne auch aufregen sollen. Der Blog ist als eine Art Netzwerk gedacht, an dem sich prinzipiell jeder durch Kommentare oder auch eigene Artikel beteiligen kann.

Entstanden ist das Projekt im Mai 2013. Um neben dem wissenschaftlichen Arbeiten im Studium mit Fußnoten, Bibliographien und ständigem Bezug auf schon Gedachtes auch breitere, aktuellere, zugänglichere Gedanken und Texte zu produzieren, verpflichten sich die zunächst vier Autoren, je einen Beitrag pro Monat zu veröffentlichen. Die Themenwahl steht jedem weitgehend frei, obligatorisch ist nur ein Bezug zu unserer Zeit, zur Gegenwart. Der vorläufige Name des Blogs Unsere Zeit geht auf ein gleichnamiges Lied des Lyrikers PeterLicht zurück, soll darüber hinaus aber auch eine bestimmte Perspektive verdeutlichen: Wir schreiben als Angehörige einer jungen Generation. Damit wenden wir uns gegen eingestaubte Denkmodelle vieler älterer Themen- und Tonangeber in öffentlichen Diskursen, die ihre Lösungen für Probleme der Gegenwart am liebsten in der Vergangenheit suchen, gerne auch in ihrer eigenen, angeblich goldenen Jugend. Wir gehen lieber vom Offensichtlichen aus: Die Welt hat sich rasant verändert, und für die Fragen von heute sind Antworten von gestern nicht mehr ausreichend. Wir wollen nach vorne denken statt zurück, und an diesem Anspruch wollen wir auch gemessen werden.

Wir sind nicht die ersten, die den Namen Unsere Zeit verwenden. Der Name ist, warum auch immer, besonders unter langweiligen und/oder totalitaristischen Gruppen beliebt. Er wurde schon verwendet von Kommunisten, schlechten Rockbands, Nazis, Christen und Teenagern – und natürlich von unserem Peter. Ein Gegenmodell unter gleichem Namen ist daher eine ansprechende Perspektive. Eine eigene politische Verortung fällt uns gar nicht so leicht, ohne dass wir uns dabei in Traditionen stellen, mit denen wir im Zweifelsfall doch nicht in Verbindung gebracht werden wollen. Wollte man uns festnageln, so würden wir uns am ehesten der Freiheit in staatlicher Selbstverwaltung verschreiben, in dem Sinne sind wir – für alle, die doch ein Label wollen – linksliberal. Warum das überhaupt voranschicken? Weil es redlich ist, die eigene Position offen zu legen, anstatt den Leser sie mühsam zwischen den Zeilen herausklamüsern zu lassen; weil es wichtig ist zu wissen, von welchen normativen Grundvorstellungen wir ausgehen, um unsere Probleme und Lösungsvorschläge – und sicher auch deren Grenzen – besser zu verstehen.

Andererseits heißt das nicht, dass hier nur linksliberale Positionen zu Wort kommen dürfen. Über die Kommentarfunktion sind Einwände direkt möglich; nach Absprache könnt ihr euren Widerspruch ggf. auch als Artikel veröffentlichen. Dieser Blog soll eine Plattform des Meinungsaustauschs und der Meinungsverschiedenheit sein; ein Ort, um Argumente zu entwickeln und auszuprobieren, Positionen zu beziehen und sie auch wieder zu räumen; Konsens wird nicht angestrebt. Es sollte auch nicht der falsche Eindruck entstehen, dass es hier nur um Politik gehen soll. Wir interessieren uns genauso für ökonomische, intellektuelle, ästhetische und überhaupt alle Entwicklungen, aus denen man etwas über die Gegenwart lernen kann.

Das Bloggen ist für uns alle Neuland. Als journalistische Dilettanten betrachten wir dieses Projekt als Experiment. Worauf der Blog hinaus läuft, welche Themen er behandelt und welche Positionen wir vertreten, das wird sich alles erst zeigen. Kritik, Anregungen und Fragen sind natürlich immer willkommen!

So weit erst mal: Viel Spaß also beim Lesen, Reflektieren und Kommentieren,
Erik, Sören, Adrian und Julian